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Richter, die im Gezi-Park-Prozess Angeklagte frei sprechen: Müssen eigentlich Terroristen sein.

Fotogalerie von Stephanie Tkocz zu den Aktionen rund um den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007„… Der in der Türkei für die disziplinarrechtliche Kontrolle der Gerichte zuständige „Rat der Richter und Staatsanwälte“ (Hakimler ve Savcılar Kurulu, HSK) wird Ermittlungen gegen drei Richter aus dem Prozess um den Gezi-Aufstand einleiten. In dem Prozess sind am Dienstag überraschend alle Angeklagten freigesprochen worden. Für die Ermittlungen gegen den Vorsitzenden Richter der 30. Istanbuler Strafkammer, Galip Mehmet Perk, sowie die beiden Richter Ahmet Tarık Çiftçioğlu und Talip Ergen werden HSK-Inspektoren beauftragt. Sie sollen untersuchen, ob die Freisprüche gerechtfertigt sind. Das Gericht hatte gestern auch die Freilassung von Osman Kavala angeordnet. Der Bürgerrechtler und Kulturmäzen saß über zwei Jahre in Untersuchungshaft. Nur wenige Stunden später ordnete die Generalstaatsanwaltschaft von Istanbul seine Festnahme wegen eines Ermittlungsverfahrens im Zusammenhang mit dem Putschversuch im Jahr 2016 an. Kavala wurde in der vergangenen Nacht aus dem Gefängnis in Silivri in die Istanbuler Polizeidirektion gebracht. Die erneute Festnahme löste Entsetzen im In- und Ausland aus. Auch das Auswärtige Amt in Berlin forderte „schnellstmögliche Aufklärung“ zu den neuen Vorwürfen gegen Kavala. Die Türkei müsse in dem Fall „alle rechtsstaatlichen Standards“ einhalten, zu denen sie sich verpflichtet habe...“ – aus der Meldung „Ermittlungen gegen Richter aus dem Gezi-Prozess“ am 19. Februar 2020 bei der ANF externer Link, aus der sowohl die extrem schnelle Reaktion des Säuberungs-Gremiums hervor geht, als auch die übliche Schönfärberei der Bundesregierung. Zum „Prozess“ (nicht: Kafka, sondern Erdogan) zwei weitere aktuelle Beiträge, die sowohl Parallelen ziehen, als auch Widersprüche im Regime aufzeigen – und der Hinweis auf unseren ersten Beitrag zu dieser Justizposse, die leider viel mehr ist…

  • „Richtungskampf in Ankara“ von Nick Brauns am 20. Februar 2020 in der jungen welt externer Link zu den Widersprüchen im Lager der Herrschenden: „… Kavala befand sich als einziger Angeklagter im Gezi-Prozess seit Herbst 2017 in Untersuchungshaft. Im westlichen Ausland gilt der gemeinhin als Philanthrop titulierte liberale Unternehmer, der mit seinem ererbten Vermögen über die Stiftung »Anadolu Kültür« Menschenrechts- und Kulturprojekte gefördert hat, als Symbolfigur für den Widerstand gegen die Willkürherrschaft unter Erdogan. In der regierungsnahen türkischen Presse wird Kavala dagegen als Gegenstück zu George Soros dargestellt. Der Finanzmarktjongleur Soros fördert nicht nur zivilgesellschaftliche Projekte in aller Welt, sondern gilt auch als Unterstützer »bunter Revolutionen« zum Sturz unliebsamer antiwestlicher Regierungen. Den Versuch einer solchen »bunten Revolution« will die türkische Regierung auch in den Gezi-Protesten des Sommers 2013 erkennen. Damals entwickelte sich aus dem Protest einiger Umweltschützer gegen die geplante Bebauung des kleinen Gezi-Parks am Taksim in Istanbul eine landesweite Protestbewegung mit vielen Millionen Teilnehmern gegen die autoritäre Herrschaft von Erdogans religiös-konservativer AKP. (…) Möglicherweise soll mit dem für die meisten Beobachter überraschenden Freispruch der Gezi-Angeklagten dem EGMR-Urteil auf dem Papier entsprochen werden, während Kavalas Haftentlassung in der Praxis durch den neuen Haftbefehl hintertrieben wird. Wahrscheinlicher erscheint jedoch, dass die kafkaeske Justizfarce Ausdruck von Widersprüchen innerhalb des Staatsapparates ist. Auf der einen Seite stehen die eng mit Erdogan und seiner Clique verbundenen »Eurasier«. Diese antiwestlichen Ultranationalisten erlangten nach dem Putschversuch von 2016 anstelle der massenhaft entlassenen eher prowestlich orientierten Gülen-Anhänger Einfluss auf die Regierungspolitik und gelten als Architekten der in den letzten Jahren vollzogenen Hinwendung der Türkei zu Russland. Dieser Fraktion steht eine mit dem exportorientierten Großkapital im Unternehmerverband Tüsiad verbundene Strömung der Staatsbürokratie gegenüber. Angesichts der sich zuspitzenden Widersprüche mit Russland über Syrien und Libyen favorisiert diese Fraktion eine erneute Annäherung an die EU und ist dafür zu Zugeständnissen wie der Haftentlassung des von Regierungen im Westen wertgeschätzten liberalen Oppositionellen Kavala bereit…“
  • „Türkei: Taktische Freisprüche, willkürliche Anklagen“ von Gerrit Wustmann am 20. Februar 2020 bei telepolis externer Link unter anderem zu vergleichbaren Schritten der Erdogan-Justiz: „… Ähnlich wie beim Prozess gegen Asli Erdogan forderten die Ankläger auch hier erst vor kaum zwei Wochen aberwitzige Haftstrafen. Kavala sollte demnach lebenslänglich in Haft bleiben. Und dann an Dienstagmittag die Überraschung: Freispruch für alle Angeklagten. Es gäbe keine Beweise für deren Schuld, so der Richter. Die Freude war ebenso groß wie die Erleichterung, umgehend machten sich rund hundert Unterstützer Kavalas auf den Weg nach Silivri. Doch am frühen Abend wiederholte sich dann, was bereits aus vielen politischen Prozessen bekannt ist: Es erging ein erneuter Haftbefehl gegen Kavala – diesmal wegen Beteiligung am Putschversuch von Juli 2016. Er bleibt in Haft. In zahlreichen anderen Fällen wurden Menschen nur Stunden oder gar Minuten nach ihrer Freilassung wieder festgenommen. Aufsehen erregte Ende 2019 der Fall des Schriftstellers Ahmet Altan, der nach Jahren in Silivri erst freigelassen und dann eine knappe Woche später in seiner Istanbuler Wohnung am späten Abend erneut von der Polizei abgeholt wurde. Auch sein Prozess wird künstlich in die Länge gezogen. Der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner bezeichnet das als „psychologische Folter“. Asli Erdogan erzählte von Mitgefangenen, die unter dem Effekt dieses Vorgehens psychisch zerbrochen seien. Der türkische Staat wendet dieses Mittel offensichtlich zielgerichtet an, um genau diesen Effekt zu erreichen und jene Oppositionellen, die noch frei sind, einzuschüchtern. Sämtliche Angeklagten in diesen Prozessen haben eines gemein: Sie haben gegen kein Gesetz verstoßen. Weder sind sie Terroristen noch haben sie Terrorpropaganda betrieben. Und so gleichen sich auch die Anklageschriften und Beweisführungen jedes Mal. Sie enthalten konstruierte, oft haarsträubende Vorwürfe (wie zum Beispiel den, dass jemand gleichzeitig Mitglied der PKK, des IS und der Gülen-Bewegung sein soll – drei Organisationen, die nicht in Verdacht stehen, auch nur die geringsten Sympathien füreinander zu hegen) und im Fall von Journalisten und Schriftstellern Auszüge aus deren Texten. Can Dündar bezeichnete die Anklageschrift gegen ihn als „unautorisierte Sammlung meiner Artikel“...“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=163253
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