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HDP-Verbot, Austritt aus der Frauen-Konvention in der Türkei – AKP will die Sache jetzt „rund machen“. Und trifft auf wachsenden Widerstand…

Dossier

IstanbulConventionSavesLivesDurch den Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention fühlen sich frauenfeindliche, homo- und transphobe Gewalttäter ermutigt, warnen Menschenrechtler: Sie kündigen bereits ohne Scheu Übergriffe an. Der erste Schock über die Nacht- und Nebel-Aktion von Präsident Recep Tayyip Erdogan ist verwunden: Am Wochenende stieg die Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauenrechten ausgestiegen. Was bleibt, sind Wut und Angst bei den Frauen – und insbesondere in der LGBTI+-Bewegung. Denn die Regierung begründet ihren Schritt mit dem Einfluss Homosexueller: Eine Gruppe an Menschen habe die Istanbul-Konvention, die eigentlich Frauenrechte fördern soll, praktisch gekapert, um Homosexualität zu normalisieren, schreibt Erdogans Pressestelle. Das sei aber mit den sozialen Werten und Werten bezüglich der Familie nicht vereinbar. Darum habe man sich entschieden, sich aus der Konvention zurückzuziehen. (…) Viele sehen darin ein Signal an gewalttätige Männer, keine Strafe mehr befürchten zu müssen, wenn sie Frauen misshandeln oder umbringen. Schon jetzt kämen sie vor Gericht oft straffrei oder mit einer viel zu milden Strafe davon, kritisieren Frauenrechtlerinnen. Sie wollen gegen den Ausstieg klagen. Unter anderem wird diskutiert, ob Erdogan nicht das Parlament hätte einbinden müssen. Dazu gibt es seit dem Wochenende Proteste.…“ Aus dem Bericht „Ausstieg aus Istanbul-Konvention: „Als würden sämtliche Rechte gestrichen““ von Karin Senz, ARD-Studio Istanbul, vom 23.03.2021 bei tagesschau.de externer Link. Siehe dazu weitere Beträge für die Demokratie in der Türkei und den Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zur Offensive der AKP gegen demokratische Rechte in der Türkei:

  • Türkei: Selbst Tote werden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Vom Kampf der islamistisch-nationalistischen Regierungspartei AKP gegen die HDP und die türkische Zivilgesellschaft New
    Die Zustimmung für die Politik der islamisch-nationalistischen Regierungspartei AKP ist im Sinkflug. Die demokratische Partei HDP ist nach neuesten Umfragen stabil viertstärkste Partei. Die faschistische Partei MHP würde an der derzeit geltenden 10-Prozent-Hürde scheitern. Die AKP-MHP-Koalition schreckt im Kampf gegen die HDP und die demokratische Zivilgesellschaft daher vor keinen Mitteln zurück, was mitunter absurde Blüten treibt. Umfragen zu Parteien sind in der Türkei zwar mit Vorsicht zu genießen, aber auch die regierungstreuen Umfrageinstitute können den Abwärtstrend der AKP nicht mehr leugnen. (…) Die mit 11,4 Prozent an vierter Stelle stehende, demokratische Partei HDP wird von allen rechten, nationalistischen und islamistischen Parteien auf allen Ebenen bekämpft. Dabei ist ihnen jedes Mittel recht. Die CHP, die irrtümlicherweise immer wieder dem sozialdemokratischen Spektrum zugeordnet wird, sorgte etwa dafür, dass vielen HDP-Abgeordneten im türkischen Parlament die Immunität aberkannt wurde. (…) Mit immer neuen Prozessen versucht die türkische Regierung eine Freilassung von Demirtas zu verhindern und ihn bis zum Tod hinter Gittern zu verbannen. Das Urteil des EMGR, dass Demirtas freizulassen sei, wird von der türkischen Regierung ignoriert. Derzeit läuft ein Verbotsverfahren gegen die HDP vor dem türkischen Verfassungsgericht. Urteil gegen einen Toten: Man könnte darüber lachen, wenn es nicht so ernst und respektlos gegenüber den Hinterbliebenen wäre. Ein türkisches Gericht verurteilte vor wenigen Tagen den früheren HDP-Politiker Ahmet Öner zu acht Jahren und neun Monaten Haft wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“. Allerdings starb Öner bereits 2017 an Magenkrebs. Öner war zu Lebzeiten in der kurdischen Provinz Hakkari in der HDP aktiv und bei der Bevölkerung sehr beliebt. Die Verurteilung des Toten war eine der letzten des seit 11 Jahren andauernden Prozesses gegen den KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) in Yüksekova (kurd. Gever), in dem die letzten dreißig Angeklagten zu langjährigen Haftstrafen wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ verurteilt wurden. Solide Beweise für die Anklagen gibt es wie in allen politischen Prozessen gegen linke Politiker und Aktivsten nicht. Konkrete Beweise für terroristische Aktivtäten fehlen auch bei Tausenden von inhaftierten HDP-Mitgliedern, die nichts anderes wollten, als sich auf demokratischem Wege in einer demokratischen Partei für die Rechte von ethnischen und religiösen Minderheiten, für Frauen- und LGBTI-Rechte einzusetzen. Likes in den Social Media für kritische Äußerungen zur AKP-Politik oder dem türkischen Präsidenten, eine „falsche“ App auf dem Handy oder die Beteiligung an Kundgebungen der HDP reichen aus, um für Jahre hinter Gittern zu verschwinden…“ Artikel von Elke Dangeleit vom 09. Oktober 2021 in Telepolis externer Link
  • Feministische Selbstverteidigung. In der Türkei sind Frauen mangels staatlichem Schutz zunehmend auf Selbstorganisation angewiesen 
    „… Die Entscheidung der AKP-Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die Istanbul-Konvention zu verlassen, ist ein Zeichen an alle Frauen, dass der Staat nicht für ihre Sicherheit sorgen wird. Die feministische Organisation »Mor Dayanışma«, auf Deutsch »Lila Solidarität«, geht mit ihrer politischen Arbeit über symbolische Proteste gegen diese Entscheidung hinaus. Seit 2014 organisiert sie Selbstverteidigungstrainings an öffentlichen Plätzen in verschiedenen Städten, in denen Frauen einfache Handgriffe lernen, um sich gegen männliche Gewalt zu schützen. (…) Das aktuelle türkische Rechtssystem stellt den Tätern kaum Strafverfolgung in Aussicht. »Sie drohen den Frauen damit, dass sie höchstens drei bis fünf Monate in Haft kommen, wenn sie Gewalt ausüben und danach wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Und oft ist auch genau dies der Fall. Wenn sie aus der Haft entlassen werden, setzen sie die Gewalt fort.« (…) Zwar organisiert Mor Dayanışma die Selbstverteidigungstrainings schon seit einigen Jahren, jedoch haben die direkten Angriffe der Regierung auf die Frauen zu einer höheren Nachfrage geführt. Kayıkçı betont, dass die Trainings Teil einer vielseitigen feministischen Organisierung sind: »Für uns ist die Selbstverteidigung nicht nur reiner Kampfsport oder physische Abwehr. Mor Dayanışma ist auch ein Solidaritätsnetzwerk. Neben der physischen Stärkung geht es uns auch um moralische Unterstützung. (…) Bisher sind die Trainer vor allem Männer, jedoch möchte Mor Dayanışma auch zunehmend Frauen als Trainerinnen ausbilden, um der hohen Nachfrage entgegenzukommen. (…) Nicht immer laufen die Treffen unbehelligt ab: »Seitdem wir uns wieder öfter draußen treffen, kommt hin und wieder die Polizei vorbei. Das ist auch eine Form von Belästigung und Mobbing, denn es gibt keinen Grund dafür. Während der Pandemie wurden dafür die offiziellen Verbote ausgenutzt, in erster Linie versuchen Zivilpolizisten, die neu dazu gekommenen Frauen einzuschüchtern. Doch das klappt nicht, denn die Frauen sind einfach wütend. Sie sagen, wir sind hier, weil ihr uns nicht schützt.« (…) Dass mit einer eventuellen neuen Regierung aus CHP und anderen Koalitionspartnern auch eine andere Frauenpolitik kommen wird, erwartet Kayıkçı nicht. »Das patriarchale System ist eng mit dem Kapitalismus verbunden, sie halten sich gegenseitig am Leben. Um da wirklich etwas zu verändern, braucht es eine grundlegend andere Ideologie. Was wir bisher von diesen Parteien gesehen haben, bleibt weit hinter dem zurück, was die Frauenbewegung fordert. Die Befreiung der Frauen erfolgt nicht über das Parlament oder die reine Parteiarbeit, sondern es braucht einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel in sämtlichen staatlichen Institutionen sowie im Bildungssystem.«…“ Artikel von Svenja Huck, Istanbul, vom 20.07.2021 im ND online externer Link
  • Türkei erschwert Verfolgung von Vergewaltigungen 
    Laut einer Gesetzesreform müssen in der Türkei für eine Strafanzeige nach einer Vergewaltigung künftig »konkrete Beweise« vorliegen. Aktivistinnen fürchten: So werden die Täter geschützt. Vor einer Woche ist die Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen gegen Gewalt ausgetreten. Nun hat das Parlament in der Nacht zu Freitag eine Reform verabschiedet, die die Verfolgung von Vergewaltigungen erschweren soll. Demnach sind konkrete Beweise für eine Tat eine Vorbedingung für eine Verhaftung mutmaßlicher Täter. (…) »Das ist ein unfassbar gefährlicher Zusatz«, sagte die Anwältin und Frauenrechtlerin Sema Kendirci der dpa. Zuvor hatte ein dringender Tatverdacht für eine Verhaftung ausgereicht. »Dieses Land ist ohnehin kein Rechtsstaat mehr. Aber heute sind wir an einem Punkt angekommen, an dem 42 Millionen Frauen und Kinder ihrer Sicherheit beraubt wurden«, sagte Kendirci. Nun bestehe die Gefahr, dass keine Strafanzeige gestellt werden könne, wenn die Beweise fehlten. Vergewaltigung oder Kindesmissbrauch würden ohnehin hinter verschlossenen Türen und ohne Zeugen begangen, sagte Aysen Ece Kavas von der Plattform »Wir werden Frauenmorde stoppen«. »Mit dieser Regulierung werden die Täter geschützt« und Opfer wie Verdächtige dargestellt…“ Meldung vom 09.07.2021 beim Spiegel online externer Link
  • Türkei verlässt Istanbul-Konvention – den landesweiten Protesten entgegnet die türkische Polizei wenig frauenfreundlich 
    Wie angekündigt, hat die Türkei nun auch formell die Istanbul-Konvention zum Schutz der Frauen verlassen. Konsequenzen für die EU-Zusammenarbeit soll das aber nicht haben. Sultan Recep Tayyip Erdogan hatte den Schritt schon im März angekündigt. Die Konvention gefährde die Familie und fördere die Homosexualität, heißt es in Ankara. (…) Doch nun, da Erdogan ernst macht, will die EU-Kommission keine Konsequenzen ziehen. Auch dass Erdogan gegen Homosexuelle hetzt und LGBT offen bekämpft, sieht man in Brüssel nicht als Problem. Im Gegenteil: Die EU-Kommission bereitet neue Milliardenhilfen und eine Aufwertung der Zollunion vor. Der Auftrag kam von Kanzlerin Merkel persönlich…“ Meldung vom 1. Juli 2021 in Lost in EU externer Link („Türkei verlässt Istanbul-Konvention“) – siehe zu den Protesten:

  • „… Die Istanbul-Konvention war 2011 vom Europarat ausgearbeitet worden. Ziel ist ein europaweiter Rechtsrahmen, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und zu bekämpfen. Erdoğan selbst hatte die Konvention in Istanbul – dem Ort der finalen Einigung – unterschrieben, damals noch als Ministerpräsident. Frauenorganisationen kritisieren aber auch, dass Gesetze, die auf Basis der Konvention verabschiedet wurden, von Gerichten nicht konsequent umgesetzt wurden. Der verkündete Ausstieg aus der Konvention bestärke Mörder von Frauen, Belästiger und Vergewaltiger, schrieb die Organisation Frauenkoalition Türkei in einer Stellungnahme. Auch international gab es viel Kritik an Erdoğan Entscheidung. Der Europarat nannte den Rückzug der Türkei aus dem Übereinkommen »eine verheerende Nachricht«. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte die Türkei auf, den Austritt rückgängig zu machen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen erklärte, Frauen verdienten einen starken Rechtsrahmen, um sie zu schützen. Die deutsche Bundesregierung wählte äußerst zahme Töne und hielt sich mit scharfer Kritik an der Türkei zurück. Sie sprach lediglich von einem falschen Signal an Europa, aber vor allem an die Frauen in der Türkei. Die türkische Opposition reagierte mit deutlichen Worten: »Sie können 42 Millionen Frauen nicht über Nacht per Dekret ihre Rechte entziehen«, twitterte der Chef der kemalistischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, in einer Videobotschaft auf Twitter. Besonders die Rechtmäßigkeit der Entscheidung wird in Zweifel gezogen: »Nein, der Präsident hat nicht das Recht, mit seiner Unterschrift aus der Konvention auszutreten«, sagte der Anwalt und Abgeordnete der Deva-Partei, Mustafa Yeneroglu, der dpa. Mit dem Dekret wähle der Präsident den Weg kalkulierter gesellschaftlicher Spaltung, sagte der in Deutschland aufgewachsene Yeneroglu. Er ist 2019 aus Erdogans AKP ausgetreten. Für Yeneroglu ist das Vorgehen Erdoğan eine »Machtdemonstration«, mit der er seine religiös-konservative Machtbasis auf sich einschwören wolle, und »die Vorbereitung eines Kulturkampfes«. Selbst ein Regierungsmitglied hegt Zweifel an Erdoğan Schritt: Der Justizminister der AKP, Adbülhamit Gül, twitterte, Austritten aus internationalen Abkommen müsse das Parlament zustimmen...“ – aus dem Beitrag „Scharfer Gegenwind für Erdoğan“ von Cyrus Salimi-Asl am 21. März 2021 beim nd online  über den Widerstand gegen die AKP-Politik
  • „Wir waren die Zukunft der Türkei“ von Selagattin Demirtas am 07. Juli 2016 bei Le Monde Diplomatique externer Link unterstrich bereits damals unter anderem: „… Die Verfassungsänderung geht auf einen Vorstoß von Präsident Recep Tayyip Erdoğan zurück und zielte hauptsächlich auf die Demokratische Partei der Völker (HDP),2 die stärkste Kraft der Opposition im Parlament.3 Gegen 53 der 59 HDP-Abgeordneten erhebt die Staatsanwaltschaft insgesamt 417 Vorwürfe, die sich größtenteils auf Äußerungen in öffentlichen Reden beziehen. Die Parlamentarier werden also verfolgt, weil sie ihr Grundrecht auf Redefreiheit in Anspruch genommen haben. Seinem Ziel, die HDP aus dem Parlament und aus dem gesamten politischen Leben des Landes zu verbannen, ist Erdoğan mit der Aufhebung der Immunität eines Großteils der HDP-Abgeordneten einen weiteren Schritt näher gekommen. Der Staatspräsident betrachtet die HDP als Hindernis auf seinem Weg zur Autokratie.4 Da unsere Partei die wichtigste Stimme und Plattform der demokratischen Kräfte der Türkei ist, insbesondere der politischen Bewegung der Kurden, will Erdoğan sie zum Schweigen bringen. Sein Ziel ist es, jeglicher Opposition den Weg zu versperren und all jene mundtot zu machen, die im Parlament die in den Regionen mit kurdischer Mehrheit verübten Verbrechen gegen die Menschheit anprangern...“
  • „Wie man ein Einhorn versteckt“ von Sabine Küper-Büsch am 18. März 2021 bei der jungle world externer Link unterstreicht unter anderem: „… Der Besucher wird vom Klang einer heiseren Stimme empfangen: »Look, look!« – »Schau, schau!« Doch erst einmal ist im schlauchförmigen Eingang der Altbauwohnung im Istanbuler Stadtteil Galata nicht viel zu sehen. In der Ausstellung »Göze Parmak« muss das Pubikum selbst aktiv werden, eine Klingel betätigen, altes Silberbesteck mit Asche polieren oder an einem vertrockneten Strauß Basilikum riechen. Besucher haben mit schwarzer und weißer Malkreide farblose Regenbögen an die Wand gezeichnet. Eine Installation, bestehend aus einem weißen Regal vor einer weißen Wand mit Schriftzügen in Grau unterstreicht den Eindruck von Seltsamem und Sterilem...“

Siehe zum Thema im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=188227
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