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Revolte und Repression im Senegal

Crimes contre l’humanité au Sénégal — Juan Branco

Crimes contre l’humanité au Sénégal (Foto: Juan Branco)

Zum zweiten Mal seit 2021 erschüttern (auch) sozio-ökonomisch motivierte Proteste das westafrikanische Land, und fordert die Repression Todesopfer. Unmittelbaren Anlass dazu gab die gerichtliche Verurteilung eines Oppositionspolitikers, welcher freilich selbst eine zweifelhafte Gestalt darstellt. Doch einen zentralen Auslöser für heftigen Unmut bildete und bildet auch das noch viel zweifelhaftere Vorhaben von Staatspräsident Macky Sall, sich eine (verfassungswidrige) dritte Amtszeit zu genehmigen. (…) Nun erschütterten jedoch seit dem 31. Mai d.J. mehrere Wochen hindurch Unruhen, die ihre Ursachen unter anderem auch in sozio-ökonomischer Frustration relevanter Bevölkerungsteile haben. Sechzehn Tote kostete deren Niederschlagung während der drei Tage der härtesteten Konfrontation zu Anfang Juni...“ Artikel von Bernard Schmid vom 23.6.2023 (und Foto von Juan Branco) – wir danken!

Revolte und Repression im Senegal

Das Land gilt oft als Hort relativer Stabilität im westlichen Afrika. Zwar ist das küstenferne Hinterland im Senegal oft bitterarm und unterentwickelt. Doch in den Regionen am Atlantik heben der relativ stark ausgebaute Tourismus ebenso wie die Überweisungen aus der Arbeitsmigration an die Familien – diese machten kurz vor Beginn der Covid-Krise 2020, die für einen vorübergehend Rückgang sorgte, immerhin 10,5 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts aus – den durchschnittlichen Lebensstandard. Die Früchte der, verglichen mit mehreren umliegenden Ländern, relativen Prosperität bleiben ungleich verteilt.

In der Hauptstadt Dakar soll jeder zweite von Frauen geführte Haushalt in den Genuss von Transferzahlungen kommen, was häufig die Tatsache widerspiegelt, dass deren Männer sich als Arbeitsmigranten im Ausland verdingten.

Nun erschütterten jedoch seit dem 31. Mai d.J. mehrere Wochen hindurch Unruhen, die ihre Ursachen unter anderem auch in sozio-ökonomischer Frustration relevanter Bevölkerungsteile haben. Sechzehn Tote kostete deren Niederschlagung während der drei Tage der härtesteten Konfrontation zu Anfang Juni, laut den meisten Quellen, darunter auch die Vereinten Nationen; diese Zahl wird auch in einem Bericht der Menschenrechtsorganisation HRW vom 05. Juni dieses Jahres (https://www.hrw.org/news/2023/06/05/senegal-violent-crackdown-opposition-dissent externer Link) übernommen. Hingegen sprach die andere Menschenrechtsorganisation Amnesty international am 08. Juni 23 von mutmaßlich 23 Toten – unter ihnen drei Kinder – und forderte eine „unabhängige Untersuchung“. Bei dem französischen internationalen Forschungsinstitut IRIS war am 13. Juni dJ. wiederum von 21 Getöteten die Rede.

Haupt- oder jedenfalls mitverantwortlich für diese Bilanz der Repression scheinen bewaffnete Zivilisten zu sein, die sich auf Pick-Up-Fahrzeugen befanden und am Rande von Protestversammlungen in den ersten Junitagen zusammen mit der Polizei zum Einsatz kamen.

Ein Schuss, der nach hinten los ging – jedenfalls im übertragenen Sinne

Am 04. Juni 23 stellte zunächst die senegalesische Polizei selbst entsprechende Videoaufnahmen vor. Bei einer Pressekonferenz erklärte Polizeikommissar Mohamadou Gueye dazu, auf diesen Aufnahmen seien keine friedlichen Demonstranten zu sehen. Auf einen Mann in einem roten Trikot zeigend, den man auf der Ladefläche eines Pick-Ups beobachten konnte, fügte er hinzu: „In dieser Aufnahme sieht man einen Mann mit einer Kriegswaffe. Er weiß, was er tut, er beherrscht den Umgang mit seiner Waffe. Man sieht, dass er nicht da ist, um zu demonstrieren.“

Um friedlich protestierende Demonstranten handelte es sich bei den Männern in den Videos tatsächlich nicht. Genauer genommen, handelte es sich allerdings um überhaupt keine Demonstranten noch um Protestierende. Denn betrachtete man die Aufnahmen in voller Länge, konnte man auch sehen, wie sich die Pick-Ups zusammen mit den Polizeifahrzeugen und in offenkundiger Koordinierung mit den staatlichen Sicherheitskräften fortbewegten. Jedenfalls im übertragenen Sinne ging der Schuss nach hinten los, und alsbald wurde in der Öffentlichkeit über „die Zivilpersonen, die zusammen mit der Polizei gegen Proteste vorgehen“ debattiert. Am Abend des 13. Juni d.J. kündigte die Regierung eine Untersuchung zu den Vorfällen an, Innenminister Antoine Félix Abdoulaye Diome erklärte dazu auf einer Pressekonferenz: „Ein Ermittlungsverfahren wurde zu den Kontroversen, die durch in den letzten Tagen im Internet umlaufende Videos ausgelöst wurden, eingeleitet. Es wird der senegalesischen Justiz obliegen, die Wahrheit herzustellen.“

Internet wurde während der heißesten Tage von Anfang Juni im Senegal blockiert, ähnlich wie beispielsweise in Ägypten im Januar und Februar 2011. Dies machte die Nichtregierungsorganisation NetBlocks am 1. Juni dieses Jahres publik. Am 08. Juni 23 schrieben die beiden Hochschullehrer Valère Ndior und Martin Achimbaud dazu in einem Gastbeitrag für die Pariser Abendzeitung Le Monde: „Dem Weg der digitalen Zensur zu folgen, ist besorgniserregend.“

Frankreichs politisch-ökonomische Rolle… und ein gewisser Recep Teyyip (E.) auf (Einflussnahme-)Tour

Der Erscheinungsort in Paris war nicht zufällig gewählt, bildete Frankreich – dessen Kolonialperiode im Senegal 1960 endete, was eine fortgesetzte ökonomische und politische Einflussnahme sowie die Präsenz einer französischen Armeebasis in Dakar bis 2011 nicht ausschloss – doch Jahrzehnten lang die Hauptstütze der Machthaber im Land. In jüngerer Zeit diversifizierte die senegalesische Exekutive, an deren Spitze seit 2012 Staatspräsident Macky Sall steht, ihre Verbündeten etwas, auch um mehrere Länder untereinander ausspielen zu können. Insgesamt vier mal war in den Jahren 2016, 2018, 2020 und 2022 ein gewisser Recep Teyyip Erdogan auf Staatsbesuch im Senegal, und ökonomische Kontakte zur Türkei wurden ausgebaut.

Zur Repression im Senegal nahm auch die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen Stellung, die sich am 13. Juni d.J. „besorgt“ über den Schusswaffeneinsatz durch die Polizei im Senegal äußerte und selbigen als „finsteren Präzedenzfall“ für das westafrikanische Land bezeichnete. Manifeste, offene politische oder repressive Gewalt ist im Senegal bislang relativ selten, auch wenn es bereits 2021 im Zusammenhang mit damaligen Unruhen (https://jungle.world/artikel/2021/10/steine-auf-den-staat externer Link) zu sechs Todesopfern kam.

Damals berichtete übrigens auch LabourNet über diese Vorfälle, und griff im redaktionellen Teil ein damals kursierendes Gerücht auf, wonach die französische Armee (unmittelbar) an der Niederschlagung von Unruhen beteiligt gewesen sein. (https://www.labournet.de/internationales/senegal/senegal-lebensbedingungen/zwei-armeen-gegen-demonstrationen-im-senegal-die-senegalesische-und-die-franzoesische/) Diese Behauptung ließ sich allerdings durch den Autor dieser Zeilen trotz Bemühungen nicht verifizieren, und Diskussionen innerhalb einer auf Afrikasolidarität spezialisierten NGO (im Beisein des Verfassers) führten tendenziell zu der Schlussfolgerung, es handele sich um ein zu Agitationszwecken gestreutes Gerücht, das inhaltlich jedoch möglicherweise nicht haltbar sei. Gewiss nahm die französische Armee in jüngerer Vergangenheit in gewissen Fällen unmittelbar an Aufstandsbekämpfung in Teilen Afrikas gegen Oppositionsdemonstrationen teil, manifest etwa in Gabun im Monat Mai 1990 (damals breitete sich Unruhen nach der Ermordung eines Oppositionspolitikers in Port-Gentil, Ende April jenes Jahres, aus). Allerdings hat sich Frankreich im Rahmen von Modernisierungsbestrebungen – zur längerfristigen Wahrung seines Einflusses auf dem Kontinent, unter Aufopferung bestimmter überkommener Aspekt, und unter dem Druck wachsender politischer Konkurrenz im Sahel und in Nordostafrika durch Russland sowie seit 2005/2010 gestiegener ökonomischer Konkurrenz auf dem Kontinent durch China – um eine erhebliche Rücknahme solch direkter Beteiligung bemüht. Und die frühere französische Militärbasis in Senegals Hauptstadt Dakar, mit zuletzt rund 1.100 dort stationierten französischen Militärs, wurde im September 2011 mittels einer feierlichen Zeremonie an die senegalesische Armee übergeben. Es verbleiben dort allerdings rund 350 Militärs, überwiegend als Ausbilder. Dass diese 2011 gegen die Unruhen ausgerückt seien, bleibt jedoch unbestätigt. Was wiederum bestimmt nicht bedeutet, es gebe keine politische, ökonomische und, vgl. unten (im folgenden Abschnitt), juristische Einflussnahme aus Frankreich auch im derzeitigen senegalesischen Kontext.

Verfassung frisiert

Drei senegalesische Intellektuelle: Mohamed Mbougar Sarr, Felwine Sarr und Boubacar Boris Diop, prangerten am 05. Juni d.J. gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP ein „autoritäres Abdriften von Präsident Sall“ an. Dabei ging es auch um dessen Vorhaben, im kommenden Jahr für ein drittes Präsidentschaftsmandat von fünfjähriger Dauer zu kandidieren. Ein solches wird zwar durch die, in ihrer gültigen Verfassung 2016 verabschiedete, Verfassung des Landes verboten: Diese beschränkt die Zahl aufeinanderfolgender Amtszeit auf zwei, wie seit 2008 in Frankreich und seither in einer Reihe französischsprachiger afrikanischer Länder. Doch ähnlich wie bereits befreundete Präsidenten in Nachbarländern, etwa Alassane Ouattara in der Côte d’Ivoire (https://jungle.world/artikel/2020/46/eskalation-nach-der-wahl externer Link) und Alpha Condé (https://jungle.world/artikel/2020/11/alpha-conde-will-nochmal externer Link) in Guinea 2020 – Letzterer wurde inzwischen durch die Armee gestützt -, möchte Sall einfach neu nachrechen. Und dem neuen Berechnungsmodus zufolge gilt seine erste, damals siebenjährige Amtszeit nicht, wurde die Verfassung doch erst in ihrem Verlauf umgemodelt.

Dieses Vorhaben verkündeten Salls Anhänger in den letzten Wochen auch explizit. „Wir sehen nicht, wer sonst antreten könntezur Präsidentschaftswahl vom 25. Februar 2024, kommentierte der Vorsitzende der Jugendorganisation der Präsidentenpartei APR – Moussa Sow – dazu. Vielleicht leidet der Mann unter Fantasiemangel. Dazu sekundierte der französische Juraprofessor Guillaume Drago von der traditionell rechtslastigen Universität Paris-Assas. In einem am 24. März verfassten, doch Ende Mai 2023 durch Le Figaro und Jeune Afrique (https://www.jeuneafrique.com/1447334/politique/troisieme-mandat-un-juriste-francais-dit-oui-a-macky-sall/ externer Link) öffentlich gemachten Gutachten kommt er zu dem trockenen Ergebnis: „Der derzeitige Staatspräsident, Monsieur Macky Sall, kann zur 2024 vorgesehenen Präsidentschaftswahl antreten.“  (Derselbe Drago arbeitet seit 2018, im Rahmen eines privaten Bildungsinstituts in Lyon, auch mit der rechtsextremen französischen Politikerin Marion Maréchal, früher Marion Maréchal-Le Pen, als dessen Gründerin zusammen (vgl. https://fr.wikipedia.org/wiki/Guillaume_Drago externer Link – vgl. auch: https://lequotidien.sn/candidature-du-chef-de-letat-en-2024-pr-guillaume-drago-valide-macky/ externer Link oder https://www.senenews.com/actualites/qui-est-guillaume-drago-le-juriste-francais-consulte-par-macky-sall-pour-la-presidentielle_445383.html externer Link)

Dies sehen eine Reihe von Menschen im Senegal ein wenig anders. Teile der Jugend und der wirtschaftlich abgehängten Bevölkerung erblickten im Bürgermeister der im Süden des Landes gelegenen Stadt Ziguinchor und Chef der Oppositionspartei PASTEF („Senegalesische Patrioten für Arbeit, Ethik und Brüderlichkeit“) einen scheinbaren Hoffnungsträger. Ousmane Sonko war vor nunmehr zehn Jahren Steuerbeamter und deckte in seiner Funktion einige echte Korruptionsskandale auf. Er prangert in seinen Reden die Durchdringung des Landes durch das internationale Kapital und eine damit einhergehende Überausbeutung von Ressourcen an. Antikapitalist ist er freilich sicherlich keiner, und eine einheimische Bourgeoisie, sofern nicht allzu korrupt, möchte er favorisieren.

Aufsehenerregender Prozess, Anlass zur Zündung des Protests

Seit 2021 lief ein Strafverfahren wegen eines Vergewaltigungsvorfahrens gegen ihn. Just am 1. Juni wurde der 48-jährige in dieser Strafsache verurteilt, was den auslösenden Funken zur Zündung der Revolten lieferte. Denn viele Menschen im Senegal sahen darin nur einen Versuch, einen Kandidaten, der es mit Macky Sall aufnehmen könnte und bei der Wahl 2019 mit 15,67 Prozent auf dem dritten Platz landete, auszuschalten.

Erhoben wurden die Vorwürfe durch die Masseuse und mutmaßliche Prostituierte Adji Sarr, eine junge Frau, die als Halbwaise in schwierigen Verhältnissen aufwuchs. Ihre Anzeige wurde allerdings durch einen Star-Anwalt aus Dakar formuliert und gehorchte zweifellos auch einer politischen Agenda. Erwiesen ist, dass Sonko in dem Salon, bei dem Sarr beschäftigt war – Sweeet Beauté – ein und aus ging, angeblich wegen Rückenschmerzen. Von dort ist bekannt, dass so genannte „tonische Massagen“ (massages toniques) an Männern buchstäblich bis zur Erektion durchgeführt wurden. Sarr gab in ihrer Strafanzeige zu Protokoll, Sonko habe sie dort zwei mal vergewaltigt, 2020 und 2021. Zeuginnen sagten jedoch in dem Verfahren auch aus, sie selbst habe eine Kollegin weggeschickt, um mit Sonko allein zu sei; sie selbst gab an, massiert zu haben, ohne Unterwäsche zu tragen. Und eine Ohrenzeugin hörte sie am Telefon sagen: „Macht schnell, ich habe seine DNA!“ Gemeint war wohl das Sperma des Oppositionspolitikers.

Die Vorwürfe können also sehr gut fingiert gewesen sein. Zu befürchten ist allerdings auch, dass tatsächliche Vergewaltigungsopfer es künftig vor senegalischen Gerichten schwerer haben dürfte. Eine Frauenrechtsorganisation spricht von „Rückschritten“ für die Sache der betroffenen Frauen, und die Sonko-Affäre rief zahlreiche frauenfeindliche Kommentare hervor. (Vgl. u.a.  https://information.tv5monde.com/afrique/au-senegal-les-femmes-craignent-un-recul-de-leur-cause-avec-le-proces-de-lopposant-sonko externer Link und https://www.lemonde.fr/afrique/article/2023/05/25/au-senegal-les-feministes-impuissantes-face-a-l-affaire-qui-oppose-adji-sarr-a-ousmane-sonko_6174848_3212.html externer Link) Auch Sonko selbst äußerte sich in hochgradig problematischer und kritikwürdiger Weise, bezeichnete etwa die Klägerin als „Vogelscheuche“ und sagte zur Sache, „falls ich vergewaltigen wollte, dann würde ich mir eine andere aussuchen“. Also, Verdienste in der vergangenen Kritik an der Regierung hin oder her – Hoffnungsträger sehen anders aus als dieses, pardon, Schwein.

Sonko, der seinem Prozess nicht beiwohnte, sondern sich mit Anhängern in seinem Rathaus zu verschanzen versuchte, drohte nach dem Tatvorwurf eine zehnjährige Haftstrafe. Das Gericht sprach ihn jedoch von der Anklage der Vergewaltigung frei, jedoch wegen „Verführung von Minderjährigen“ schuldig und verurteilte ihn deswegen zu zwei Jahren Haft. Von einer Festnahme und Inhaftierung sahen die Behörden jedoch ab.

Lichtgestalt ist Sonko gewiss keine, wohl aber in den Augen vieler Senegalesen mittlerweile eine Verkörperung der Opposition gegen Amtsinhaber Sall. Um die Lage zu beruhigen, dürfte die über ihn verhängte Strafe zu hoch sein – um ihn wirklich auszuschalten, jedoch zu niedrig. Das Kräftemessen dürfte weitergehen. Die Koalition Yewwi askan wi (in Wolof: „Das Volk befreien“), ein vor den Kommunal- und Parlamentswahlen gebildeter Zusammenschluss von Oppositionsparteien unter Ousmane Sonko, rief am 17. Juni d.J. zur Wiederaufnahme von Demonstrationen auf.

Bereits bei den vorausgehenden kam es zu einem wirtschaftlichen Einbruch in den Bereichen des Tourismus, des Handels sowie des informellen Sektors, während die Regierung sämtliche senegalesischen Botschaften weltweit aus Angst vor Protesten schloss.

Artikel von Bernard Schmid vom 23.6.2023

Siehe zum Thema auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=212807
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