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Saporischschja: Arbeiten im Atomkraftwerk unter militärischen Beschuss – Appell der Atomkraft-Arbeiter:innen zur Beendigung der Beschießung und Belagerung

Dossier

Atomkraft? Nein danke!Seit Anfang März 2022 wird das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja in Enerhodar von russischen Truppen kontrolliert. In der Anlage arbeiten etwa 10.000 Menschen, sie sind gezwungen, die Überwachung der Anlage aufrecht zu erhalten und mit ihren Familien in der Region zu bleiben. Sie sollen verhindern, dass es zu einer Kernschmelze kommt. Seit einigen Wochen gibt es in der Region erneut militärische Auseinandersetzungen, die auch die Sicherheit des Werks inklusive der Arbeiter:innen und ihrer Familien, sowie eventuell auch einen größeren Teil von Asien und Europas in Gefahr bringt. Mittlerweile haben Ukraine und Russland zugestimmt, dass die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) vor Ort die Gefahrenlage begutachten darf. Wir veröffentlichen hier die Übersetzung der Stellungnahme der Arbeiter:innen, die bereits am 18 August 2022 erschienen ist, sowie weitere Berichte zur Situation der Kolleg:innen vor Ort:

  • Dringender Appell zur Freilassung der seit September 2022 vermissten 3 Arbeiter aus dem ukrainischen Kraftwerk ZNPP New
    Global Union und IndustriAll European Union rufen dringend zu sofortigen Maßnahmen auf, um die verschwundenen Arbeiter des Kernkraftwerks Saporischschja (ZNPP) in der Ukraine ausfindig zu machen und ihre Freilassung sicherzustellen.
    Drei Mitarbeiter des ZNPP sind unter beunruhigenden Umständen verschwunden. Brazhnyk Oleksii Petrovych, ein pensionierter Oberstleutnant des Innenministeriums und Ingenieur beim physischen Schutzdienst des KKW ZNPP, wurde am 21. September 2022 von seinem Arbeitsplatz entführt, und sein derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt. Auch Korzh Sergiy Volodymyrovych, Ingenieur in der Elektrowerkstatt des ZNPP, wurde am 4. September 2022 entführt und ist seitdem unauffindbar. Korzh Olexander Volodymyrovych, der im Staatlichen Wissenschaftlichen und Technischen Zentrum für Nuklear- und Strahlensicherheit des ZNPP beschäftigt ist, wurde zusammen mit seinem Bruder Sergiy am 4. September 2022 entführt. Obwohl er am 07. September 2022 kurzzeitig freigelassen wurde, wurde er am 16. Dezember 2022 erneut festgenommen und an einen unbekannten Ort verbracht. Sein derzeitiger Aufenthaltsort bleibt ein Rätsel, was die Besorgnis über die Sicherheit und das Wohlergehen dieser vermissten Arbeiter noch verstärkt.
    IndustriALL hat dringende Schreiben an die wichtigsten internationalen Gremien gesandt (…) IndustriALL Global und IndustriAll Europe haben außerdem ein gemeinsames Schreiben an die Vertreter der Europäischen Union gerichtet, um bei der Lokalisierung und Freilassung der Arbeiter zu helfen. (…)
    Dieses gewaltsame Verschwindenlassen von Personen stellt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs sowie einen Verstoß gegen das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen dar. Die Russische Föderation sollte ihre Aggression sofort und bedingungslos einstellen, ihre Truppen aus der Ukraine abziehen und das Leiden beenden, das sie dem ukrainischen Volk zufügt.  Wir fordern Sie auf, sich mit der Regierung der Russischen Föderation in Verbindung zu setzen, um die unverzügliche und sichere Freilassung der Arbeiter des Kernkraftwerks Saporischschja zu gewährleisten, die Opfer des gewaltsamen Verschwindens geworden sind.“ engl. Appell vom 2. November 2023 von IndustriALL externer Link („Urgent appeal to release workers missing from Ukrainian power plant“, maschinenübersetzt)
  • Das International Nuclear Workers‘ Union Network solidarisiert sich mit den Arbeitenden im AKW Saporishshja
    „… Die Situation für die Arbeitenden in der Ukraine verschlechtert sich, da russische Soldaten die Atomkraftwerke besetzt haben. Das Internationale Netzwerk der Nukleararbeitergewerkschaften (INWUN) von IndustriALL traf sich am 20. September online, um darüber zu diskutieren, wie die vom Krieg betroffenen ukrainischen Arbeitenden unterstützt werden können. Über 40 Personen nahmen an dem Treffen teil, darunter Atomgewerkschaften aus Japan, Frankreich, Argentinien, Spanien, der Türkei und der Ukraine. Auch Expert:innen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und des Internationalen Gewerkschaftsbundes waren anwesend. Valery Matov, stellvertretender Ko-Vorsitzender von IndustriALL für den Nuklearsektor und President:in der Ukraine, zeichnete ein düsteres Bild vom Leid der Arbeitenden in der Atomindustrie. „Mehr als 200 Arbeitende wurden entführt und viele wurden zu Tode gefoltert. Russische Soldaten haben die Atomkraftwerke besetzt und die Arbeitenden stehen unter ständigem physischen und psychischen Druck. Das Kernkraftwerk Schaporija hatte über 11.000 Beschäftigte und hat jetzt weniger als 10.000 Arbeitende. Wir appellieren an euch, die Übernahme der Atomanlagen zu verurteilen und den Abzug der russischen Truppen aus der Stadt Enerhodar zu fordern. Wir bitten euch, an eure Regierungen zu schreiben und sie um Unterstützung beim Abzug der Truppen zu bitten.“ Vertreter:innen der ILO sprachen über die Besorgnis über die psychischen und physischen Auswirkungen der Übergriffe auf die Arbeitenden sowie über die mögliche Strahlenbelastung. (…) Die Mitgliedsorganisationen zeigten sich sehr besorgt und solidarisch mit den Arbeitenden und ihren Familien in der Ukraine und waren bereit, die ukrainische Gewerkschaft durch verschiedene Vorschläge bei ihren Regierungen und Unternehmen im Atomsektor ihres Landes zu unterstützen…“ Bericht von IndustriAll vom 23. September 2022 externer Link („Nuclear unions in solidarity with Ukrainian workers“).
  • Wie gefährlich ist die Lage am AKW Saporishshja? – Sechs Fragen und Antworten zu Atomkraftwerken im Krieg
    „Immer wieder richten sich die Augen der Weltöffentlichkeit auf das Kernkraftwerk Saporishshja in der Ukraine am Fluss Dnipro: Es ist von der russischen Armee besetzt und stand schon mehrfach unter Beschuss. Die Angst, dass es dort zu einem Reaktorunfall kommen kann, ist groß. In unserem FAQ #6 haben wir zentrale Fragen dazu versammelt: Wie groß ist die Gefahr? Kann es zu einem zweiten Tschernobyl kommen oder zu einem Szenario wie in Fukushima? Wie ist die militärische Lage – und wie sind die Sicherheitsvorkehrungen? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schreiben darüber in Fragen und Antworten. (…)
    Kurz zur Ausgangslage: In der Ukraine gibt es vier aktive Kernkraftwerke1 – von denen das AKW Saporishshja das leistungsstärkste ist, nicht nur in der Ukraine, sondern in ganz Europa. Dieses ist seit der Nacht vom 3. auf den 4. März 2022 von russischen Truppen besetzt. Die Anlage wird weiter von der bisherigen ukrainischen Betriebsmannschaft betrieben. Allerdings haben weder externe Mitarbeiter des staatlichen Kraftwerksbetreibers noch die ukrainische Atomaufsichtsbehörde Zutritt zum AKW. Das AKW-Gelände und der Umkreis ist wiederholt unter Beschuss geraten ↓. Beschädigt wurden dabei vor allem die Hochspannungsleitungen, über die das AKW mit dem Landesnetz der Ukraine verbunden ist. Zeitweise fiel Anfang September die letzte intakte Leitung aus. Dabei wurde der zu dem Zeitpunkt noch einzig aktive Reaktorblock 6 so weit gedrosselt, dass er nur noch den Strom produzierte, den die Anlage für den eigenen Bedarf benötigte – insbesondere für die Kühlung der Reaktoren. Für diesen sogenannten Inselbetrieb ist ein AKW aber nur zur Überbrückung ausgelegt. Daher entschied sich der Kraftwerksbetreiber am frühen Morgen des 11. September, nachdem das AKW wieder an das ukrainische Stromnetz angeschlossen worden war, diese Gelegenheit zu nutzen, um die komplette Anlage kontrolliert herunterzufahren…“ Artikel von Sebastian Stransky, Gustav Gressel, Anne Dienelt vom 15. September 2022 auf Dekóder externer Link („FAQ #6: Wie gefährlich ist die Lage am AKW Saporishshja?“).
  • Appell der Atomkraft-Arbeiter:innen zur Beendigung der Beschießung und Belagerung
    „Das Gefühl der tiefen Angst um die Zukunft, die Angst um das Leben von Familien, Verwandten und Menschen in unserer Nähe, um das Schicksal unserer Kinder – immer mehr bedeckt uns, Mitarbeiter des Kernkraftwerks Zaporischzhia. In den vergangenen 5 Monaten wurde im Bereich der friedlichen nuklearen Sicherheit zahlreiche Rechtsregeln, Prinzipien und Vorschriften verletzt. Und seit zwei Wochen ist das Atomkraftwerk tatsächlich Ziel kontinuierlicher militärischer Angriffe geworden. Die Artillerieangriffe werden mächtiger und gefährlicher, und die Bedrohung durch die Zerstörung von entscheidend wichtigen nuklearen Sicherheitseinrichtungen wird realer. Aber das Kernkraftwerk besteht nicht nur aus Reaktoren, Dampfgeneratoren, Turbinen und allen möglichen elektrischen Geräten. Das Atomkraftwerk ist Menschen, ein riesiges Team besteht aus mehr als 10.000 Mitarbeitern. Und es sind nicht nur hochqualifizierte Fachkräfte mit einzigartigen Kompetenzen und Erfahrung. Dies sind Menschenleben, von denen jedes wertvoll ist. Während wir an ihren Arbeitsplätzen arbeiten, werden unsere Arbeitenden schwer verletzt und sterben. (…) Die helle Erinnerung an sie ermutigt uns, laut und offen Folgendes zu erklären. Nimm dir einen Moment Zeit und denk darüber nach! Was gerade abgeht, ist entsetzlich und über den gesunden Menschenverstand und Moral hinaus für jeden, der einen Schritt voraus denkt! Denkt an die Zukunft unserer Erde, die Zukunft unserer und eurer Kinder! Unser Planet ist so klein und es ist lächerlich anzunehmen, dass es einen Ort geben wird, an dem man sich vor den Auswirkungen einer großen nuklearen Katastrophe verstecken kann. Wir glauben, dass es im Leben keine Krisensituationen gibt, aus denen es keinen Ausweg gibt. Der einzige Ausweg ist der Tod! Wir sind davon überzeugt, dass kollektiver Geist und guter Wille die Kanonen zum Schweigen bringen und das Irreparable verhindern können! Schließlich könnten sich die Folgen als schlimmer herausstellen als die Folgen der Tragödien in Tschernobyl und Fukushima. In der globalen nuklearen Praxis gibt es keine Notfallpläne zum Schutz von nuklearen Objekten für den Fall, dass sie ein Kriegsgebiet werden. Unsere Eltern haben das Kernkraftwerk Zaporizhzhya gebaut. Wir sind fast 40 Jahre, ohne einen einzigen Unfall, sicher in Betrieb. Es ist mehr als nur unser Job. Das ist unser Leben. Und es ist nur einem wunderbaren Zweck gewidmet – umweltfreundliches Licht und Wärme für Menschen zu erzeugen, Komfort in jedem Zuhause, in jeder Familie, für jeden Menschen zu schaffen – unabhängig von Rasse, Nationalität, Religion, politischen Ansichten und Pass. Wir können eine nukleare Reaktion professionell bewältigen. Aber machtlos vor menschlicher Verantwortungslosigkeit und Torheit. Und alles, was wir wollen, ist leben und arbeiten, unsere Kinder in einer friedlichen Stadt, in einem friedlichen Land, auf einem friedlichen Planeten großziehen. Doch unser Wissen und unsere Möglichkeiten sind unendlich. Und wir appellieren an alle zivilisierte Menschlichkeit, uns zu helfen, dieses Recht heute zu behaupten! Morgen könnte es zu spät sein!“ Appell der Arbeiter:innen von Zaporischzhia, veröffentlicht am 18. August 2022 auf der Facebook-Seite von Atomprofspilka externer Link – Berufsverband von Beschäftigten der ukrainischen Atomindustrie (russ. Maschinenübersetzung)
  • Arbeiter:innen des Atomkraftwerks stehen unter enormen Druck und leisten Überstunden
    „… In den ersten Tagen und Monaten war es dem Militär nicht erlaubt, die Arbeitsplätze zu betreten oder sich den Mitarbeitern zu nähern. Doch dann machten russische Soldaten die Runde und drangen zu den Arbeitsplätzen der ukrainischen Mitarbeiter:innen vor. Überall waren bewaffnete russische Soldaten, und einige Menschen wurden entführt und zur Zusammenarbeit mit Russland gezwungen. Die Arbeitenden standen also unter großem psychischen Druck. Als ich im Kraftwerk war, waren die russischen Militärgruppen unkoordiniert. Mehr als einmal versuchten einige Gruppen, sich gegenseitig zu erschießen – und diese Fälle waren gar nicht so selten. Ich sah auch viele Militärfahrzeuge in das Kraftwerk einfahren; Panzer und Militärfahrzeuge waren ständig in Bewegung. Manchmal standen sie direkt neben den Kraftwerksblöcken. Die Mitarbeiter wussten nicht, was sie tun sollten, sie mussten ihre Runden drehen und die Anlagen überprüfen, aber direkt davor stand ein Panzer (…) [Die Arbeitenden müssen während des Beschusses Überstunden machen; sie haben keinen normalen Arbeitsplan. Außerdem stehen jetzt viel weniger Leute zur Verfügung, sie haben keine Unterstützung, falls jemand krank wird. Es gibt zwar genug Personal, aber es ist viel schwieriger für sie, ihre Aufgaben zu erfüllen. Diejenigen, die bleiben und unter diesem Druck für die nukleare Sicherheit arbeiten, sind wahre Helden.“ engl. Interview mit Andriy Tuz von Ashley Westerman, erschienen am 29. August 2022 bei NPR externer Link („What it’s like for Ukrainians working at a nuclear plant under Russian occupation”)
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=203946
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