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Die Proteste gegen die Absetzung eines (rechten) russischen Provinzgouverneurs sind weit weg. Noch…
„… So etwas hat Chabarowsk noch nicht erlebt. Seit am 11. Juli in der 600 000 Einwohner zählenden Stadt im russischen Fernen Osten bis zu 35 000 Menschen ohne jegliche Genehmigung demonstrierten, ebben die Proteste dort nicht ab. Täglich finden Versammlungen auf der Straße statt, am Samstag stieg die Zahl der Teilnehmenden auf mindestens 50 000. Die gesamte Region befindet sich im Aufruhr und selbst im benachbarten Wladiwostok und in Birobidschan, der Hauptstadt des Jüdischen Autonomen Gebiets, erklären immer mehr Menschen ihre Solidarität. Während Staatsmedien über zugereiste Provokateure lamentieren und die Lokalregierung verbale Schadensbegrenzung betreibt, hält sich die Polizei auffallend zurück. Anders als im acht Flugstunden entfernten Moskau, wo vor einem Jahr Oppositionskundgebungen in Strafprozesse wegen vermeintlicher Massenunruhen mündeten und es auch vergangene Woche zu Festnahmen kam, scheinen die Chabarowsker Sommeraktivitäten selbst Hardliner aus dem Konzept gebracht zu haben. (…) Die Region Chabarowsk ist reich an Rohstoffen, aber das Lohnniveau ist niedrig. Zudem befinden sich wesentliche Teile der Wirtschaft unter der Kontrolle von Moskauer Geschäftsleuten. Dass der 50jährige Furgal nicht nur verhaftet, sondern auch demonstrativ in die ungeliebte Hauptstadt überstellt wurde, trieb selbst jene auf die Straße, die sich vor Jahren noch für die Annexion der Krim begeisterten und zur Anhängerschaft von Präsident Wladimir Putin zählten. Die Protestierenden verlangen die Freilassung Furgals oder zumindest einen fairen Prozess an Ort und Stelle, aber die politische Dimension der Proteste reicht weit über dessen Person hinaus. So gehört zu den Forderungen die Absetzung aller aus dem Chabarowsker Gebiet entsendeten Abgeordneten von Putins Hauspartei Einiges Russland in der Staatsduma sowie im Regionalparlament. Mehr noch, Einiges Russland soll im Fernen Osten gleich ganz verboten, Putin abgesetzt und lokale Betriebe sollen unter Gebietsaufsicht gestellt werden…“ – aus dem Beitrag“Verhaftet und abgesetzt“ von Ute Weinmann am 23. Juli 2020 in der jungle world über die seit Wochen andauernden „sibirischen Proteste“… Siehe zu den sibirischen Protesten, ihren sozialen und politischen Hintergründen und ihrer Entwicklung vier weitere aktuelle Beiträge, darunter auch eine Stellungnahme einer M-L-Gruppierung, eine ausführliche Materialsammlung des Russian Reader, sowie einen Beitrag, der die mögliche längerfristige Auswirkung solcher Proteste diskutiert:
„Wir sind die Macht von Putin leid“ von Demian von Osten am 25. Juli2020 bei tagesschau.de fasst die Ausgangslage knapp so zusammen: „… Doch ihre Freiheit, so glauben sie, nimmt ihnen der Kreml immer mehr weg. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Anderthalb Kilometer breit ist der Amur, der Grenzfluss zwischen Russland und China, in Chabarowsk. Vor dem Hafen liegt etwa ein Dutzend Lastkähne – bereit für den Holztransport nach China. Dorthin gehen fast 80 Prozent der gefällten Fichten und Lärchen aus der Region. Hauptprofiteure sind Geschäftsleute, die weit weg, meist in Moskau leben. Und nicht nur das. „Der Wald wird zum großen Teil aus Moskau kontrolliert, also von Bundes-Institutionen und nicht von regionalen“, regt sich Demonstrant Sergej Suslikow auf. „Genauso der Fischfang!“ Man müsse also in Moskau Fischfangquoten beantragen und bekäme die oft erst, wenn die Saison bereits vorbei sei. „Unterstützung aus Moskau fühlt keiner, aber die Barrieren, die bundesstaatliche Einrichtungen uns auferlegen, die fühlt man hier sehr stark“. (…) Auch aus anderen Gründen ist der Ärger auf Moskau groß. Wegen teurer Flug- und Zugtickets fühlen sich die Menschen vom Rest Russlands isoliert. Den rund 300 Euro teuren, achtstündigen Flug nach Moskau können sich nur wenige leisten – das Durchschnittseinkommen liegt bei etwa 600 Euro pro Monat. Kosten für Wohnung oder Lebensmittel sind in Chabarowsk vergleichsweise hoch. Dass er sich um die Belange der Bürger kümmerte, brachte Furgal die Sympathie der Chabarowsker ein. Er gewann mit seiner Partei, der nationalistischen LDPR, im regionalen Parlament die Mehrheit und ist bis heute beliebt – während zur gleichen Zeit die Zustimmungswerte für Präsident Putin fielen…“
„Russlands Ferner Osten hält durch“ von Klaus-Helge Donnath am 19. Juli2020 in der taz online zur Entwicklung der Protestbewegung (auch in anderen Orten) und den Reaktionen unter anderem: „… Bislang stellt sich Moskau taub. Kein zentraler Sender berichtet über die Ereignisse. „Moskau weiß nicht, was es machen soll“, meint der Politologe Dmitri Oreschkin. Er vergleicht die Mentalität der Menschen im Fernen Osten mit der des Wilden Westens. „Dort gehen Leute mit dem Colt im Gürtel hin, kurzum Menschen, die nur auf sich selbst setzen.“ Sie seien unabhängiger und verdienten selbst ihr Geld, so Oreschkin. (…) Für schlechte Stimmung sorgte die Behauptung von Chabarowsks Bürgermeister Sergei Krawtschuk, dass die Demonstranten nur „für Geld“ protestierten. Kaum hatte er dies gesagt, ruderte die Administration zurück. Das sei nicht so gemeint gewesen. Krawtschuk gehört der Kremlpartei an. Er hatte dazu aufgefordert, wegen der Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus zu Hause zu bleiben. Auch der Geheimdienst wurde aktiv und vereitelte angeblich einen geplanten Anschlag in Chabarowsk. Die Polizei vor Ort ließ sich davon nicht beirren. Sie verteilte Masken gegen das Virus an die Demonstranten und nahm trotz fehlender Marscherlaubnis niemanden fest. Die Ordnungshüter hatten schon im Vorfeld Verständnis für die Proteste gezeigt. „Lieber sollen die Regionen arm sein als unabhängig. Dem Kreml gefällt diese Selbstständigkeit nicht“, meint Politologe Oreschkin…“
„Proteste gehen weiter“ von Reinhard Lauterbach am 17. Juli 2020 in der jungen welt berichtete unter anderem zu den Reaktionen auf die Vorwürfe gegen den Gouverneur: „… An den Reaktionen der örtlichen Bevölkerung auf die Festnahme fällt auf, dass viele Bürger nicht ausschließen, dass der ehemalige Gouverneur tatsächlich in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen sein könnte. Diese seien, in der damals »besonderen Phase« des Landes, üblich gewesen. Mit der Forderung, ihn wenn, dann in Chabarowsk vor Gericht zu stellen, tun sie ihr Misstrauen gegen Moskau kund. Auch sind die Demonstranten überzeugt, dass Furgal festgenommen wurde, weil er zu populär geworden sei und sich gegenüber Moskau zuviel herausgenommen habe. Die Demonstrationen blieben überwiegend friedlich, die russische Polizei schritt nicht ein. Allerdings versuchte Sergej Krawtschuk, Bürgermeister der Stadt und Mitglied der Regierungspartei Einiges Russland, die Kundgebungen zu diskreditieren, berichtete das Onlineportal rbc.ru am Dienstag. Er erklärte, alte Leute und Studenten, die für ihre Prüfungen lernen müssten, hätten sich über den Lärm der nächtlichen Demonstrationen beschwert. Außerdem kritisierte er, die Demonstrationen seien in Pandemiezeiten gesundheitsschädlich. Reaktionen aus der russischen Regierung waren eher zurückhaltend. Am Dienstag erklärte Dmitri Peskow, Pressesprecher des russischen Präsidenten, er könne die emotional aufgeregte Atmosphäre in Chabarowsk verstehen. Aber die gegen Furgal erhobenen Vorwürfe seien wirklich schwerwiegend, und der Justiz müsse erlaubt sein, ihre Arbeit tun zu können. Furgal war im September 2018 überraschend mit 70 Prozent der Stimmen zum Gouverneur der Region gewählt worden. Sein Wahlsieg wurde damals als Reaktion auf die in der Bevölkerung unbeliebte Erhöhung des Rentenalters gesehen. In den knapp zwei Jahren seiner Amtszeit soll er mit der Korruption bei der Vergabe öffentlicher Aufträge Schluss gemacht haben, was ihn in weiten Teilen der Bevölkerung beliebt machte. Außerdem sorgte er dafür, dass alle Kinder in den Schulen der Region das gleiche Mittagessen bekamen. Zuvor bekamen diejenigen ein besseres, deren Eltern Schulgeld bezahlten…“
„Stellungnahme der RKRP zu den Protesten in Russisch-Fernost“ von S.W. Silwko am 27.07.2020 bei den Rote Fahne News ist die Einleitung zur Stellungnahme einer M-L Gruppierung aus der Region: „Die Verhaftung des Gouverneurs ist zweifellos ein von der Präsidialadministration genehmigter politischer Zug der Herrschenden. Und die Beschuldigung zur Organisierung von Auftragsmorden ein Vorwand zur Beseitigung Furgals vom Posten des Gouverneurs. War er darin verwickelt oder nicht? Das muss eine Untersuchung entscheiden, die sich auf Fakten stützt, und nicht allein auf die Aussagen einzelner Personen. Über Furgals Verbindungen zur kriminellen Unterwelt hat die landesweite und regionale Presse in den Jahren von 2000 bis 2010 mehr als einmal berichtet. Jeder, der mit der Geschichte der Restauration des Kapitalismus in den 1990er Jahren vertraut ist, weiß, welche Rolle kriminelle Strukturen dabei gespielt haben. Während seiner Zeit als Abgeordneter der Staatsduma war einer der Helfer Sergej Furgals das Oberhaupt einer mächtigen Bandidtenorganisation, Michail Timofejew. Auf das Konto seiner Bande gehen Erpressung, Mord, Sprengstoffanschläge, Raubüberfälle, Entführungen, Schutzgelderpressung. Alle schweren Verbrechen in der Region stehen mit dieser Bande in Verbindung. Laut Untersuchung stehen alle schweren und hochkarätigen Verbrechen in Chabarowsk mit eben dieser Banditenorganisation in Verbindung, zu der bis zu 300 „Kämpfer“ gehörten. Im Jahr 2013 wurde Timofejew zu acht Jahren Straflager verurteilt, viele Kriminalfälle mit seiner Beteiligung werden bis heute untersucht. Interessant ist aber etwas anderes. Es ist schwer vorstellbar, dass die Herrschenden einen hochrangigen Politiker einfach „übersahen“, der Abgeordneter der Regionalduma von Chabarowsk war, für ganze drei Legislaturperioden zum Abgeordneten der Staatsduma gewählt wurde, eine Arbeitsgruppe zur Gesundheitspolitik leitete und mehrfach an den Gouverneureswahlen der Region Chabarowsk teilnahm. Vielmehr waren ihnen viele der zwielichtigen Episoden in der Biographie des Spitzenfunktionärs der LDPR bekannt, ebenso wie ähnliche Episoden von Tausenden weiterer Politiker anderer Parteien (vor allem von Einiges Russland), welche die heutige politische Elite bilden und das Gesicht des heutigen politischen Systems darstellen. Eine andere Sache ist es, wer „da oben“ den Befehl gab, das kompromittierende Material nun so zu verwenden, wie es geschah. Aber warum kam es dazu? Dazu gibt es verschiedene Meinungen. Schauen wir sie uns an...“
„Khabarovsk“ am 14. Juli 2020 beim Russian Reader ist eine ausführliche Materialsammlung (mit einigen englischen Materialien) zu den Protesten sowohl vor Ort, als auch in der Region, inklusive mehrerer Videoberichte von Demonstrationen und Kundgebungen (samt dem Link zum entsprechenden YouTube-Kanal). Darin ist auch die kurze Geschichte der Fernöstlichen Sowjetrepublik aus den 1920er Jahren eines der Themen, die offensichtlich auch in der Öffentlichkeit diskutiert werden.
„Khabarovsk-Style Protests Likely in Other Russian Regions, Shtepa Says“ am 29. Juli 2020 bei Window on Eurasia ist ein Beitrag, der von den Ursachen handelt, die dazu beitragen könnten, dass diese aktuellen Proteste sich dauerhaft regional ausweiten und welche politischen Bedingungen es dafür gibt…