»
Polen »
»

Die sogenannte Justizreform: Neue Massenproteste in Polen – Indiz für Stimmungsumschwung?

Demo in Warschau 8.1.2016 gegen das neue Mediengesetz - eine von vielen in Polen an diesem WochenendeWie populär die EU in Polen wirklich sein mag, ist dahin gestellt. Die Massenproteste gegen die (Partei) Justiz-Reform der regierenden polnischen Rechtskonservativen sehen deutlich jünger aus, als frühere solche Bewegungen, die es ja immer wieder gab – zuletzt im Herbst 2016 die erfolgreiche Bewegung gegen die neuen Anti-Abtreibungsgesetze. Dass die EU die polnische Regierung kritisiert, muss schon als Besonderheit gewertet werden: Weder das Verbot der Redefreiheit in Spanien noch der alltägliche Ausbau des Polizeistaates in der BRD war Anlass für solch ein Vorgehen –  die europäische Meisterschaft im Abbau der kümmerlichen bürgerlichen Demokratie hat zahlreiche Teilnehmer. Auch die parlamentarische polnische Opposition – selbst Betreiber etwa des Abbaus von Gewerkschaftsrechten und Verfolgung linker Gruppierungen – ist keine wirklich demokratische Kraft und die polnische Justiz, wie anderswo auch, eine im Dienste des Kapitals. Dennoch wächst die Protestbewegung gegen den nationalistischen Furor und weist neue Elemente auf. Siehe dazu vier aktuelle und zwei Hintergrundbeiträge (auch über das bisherige Funktionieren der Justiz gegen die Linke in Polen):

„Junge Generation gegen alte Parolen“ von Philipp Fritz am 27. Juli 2017 in der taz externer Link ist ein Beitrag, der genau eine solche Entwicklung – die Teilnahme neuer Schichten der Bevölkerung an den Protesten – zum Thema hat: „Nun aber werden Proteste gegen PiS mithilfe von Snapchat organisiert, also dem sozialen Netzwerk, das offenbar niemand versteht, der älter als 23 Jahre ist. Hinzu kommt eine Ästhetisierung, die über Selfies hinausgeht. Ein Internetposter mit einer Hand etwa, die drei Finger zeigt, kubistisch verfremdet, dazu die Forderung an Präsident Duda, dreimal mit einem Nein zu unterzeichnen. Plötzlich geistern Schnappschüsse durchs Netz, wie das von einem Demonstranten, der eine Kerze hochhält und dem heißes Wachs an der Hand herunterläuft: ein Symbol für die Lichterketten vor dem Parlament oder dem Obersten Gericht. Derartige Bilder helfen, die jungen Protestierenden bei der Stange zu halten. Nur: Warum engagieren sie sich erst jetzt? Gründe, sich einzumischen, gab es in den vergangenen Monaten in Polen doch genug. Für viele war mit der Justizreform allerdings eine gewisse Grenze überschritten. Diejenigen, die apolitisch zu Hause saßen oder still sogar Teile der PiS-Reformen guthießen, treibt es jetzt hinaus. Fragt man sie, warum, sagen sie, Kaczyński sei zu weit gegangen, unverschämt sei die Art und Weise, wie das Gesetz durchgedrückt werden solle, wenn jetzt nicht protestiert werde, dann sei es das gewesen mit der Gewaltenteilung und der Demokratie in Polen“.

 „Juli-Tage in Polen“ von Holger Politt am 31. Juli 2017 in Das Blättchen externer Link, worin unterstrichen wird: „Die überwältigenden Proteste gegen die Kaczyński-Pläne durchkreuzten alle Pläne, sie gestalteten sich zu überzeugenden Feierstunden für die geltende Verfassung, zu einer öffentlichen Lehrstunde für Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Demokratie. Anders als 2016 waren auf einmal auch überdurchschnittlich viele jüngere Menschen auf den Straßen, um die Verfassung zu verteidigen. Nur im Oktober 2016 hatten die Frauenproteste gegen die nationalkonservativen Vorstellungen eines strikten Abtreibungsverbots aus naheliegenden Gründen auch diese wichtige, zugleich schwierige Wählergruppe, erreicht“.

„Polen: Sprachlose Vuvuzelas“ von Jens Mattern am 15. Juli 2017 bei telepolis externer Link ist ein Beitrag, der sich vor allem mit dem Verhältnis der parlamentarischen Opposition zu den Protesten befasst – und warum sie Opposition ist: „Mut und Motivation hat somit nur die Solidarnosc-Generation, auf die Straße zu gehen, da sie die Parallelen zwischen dem Auftreten der PiS und dem der kommunistischen „Polnischen Vereinigten Arbeitspartei“ (PZPR) erkennt. In Zukunft sollen sie die Polizeikosten tragen, so Innenminister Mariusz Blaszczak am Dienstag, der Anspielungen auf den G-20-Gipfel in Hamburg nicht unterließ, obwohl – von Vuvuzela-Attacken der Gegendemonstrationen abgesehen – alles friedlich verlief. Nach Polizeiangaben demonstrierten 4500 Personen auf beiden Seiten. Oft sah man zwei Polizisten einen Vuvuzela-Besitzer bewachen. Nur hinter einer weiträumigen Absperrung und einer Art Sichtblende konnten die Vuvuzelas ungestraft lärmen. Doch die südafrikanischen Tröten demonstrieren nur die laute Sprachlosigkeit der Opposition. Die PiS führt weiterhin in den Umfragen. KOD, das Komitee zur Verteidigung der Demokratie, eine Bewegung, die vor einem Jahr noch Zehntausende auf die Straße brachte, ist durch Finanzskandale seines Gründers Mateusz Kijowski in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht(…). Die PiS liegt konstant bei knapp 40 Prozent. Die beiden liberalen Oppositionsparteien PO und N (Modernes Polen) verzeichnen zusammen eine Zustimmung von knapp 30 Prozent, manche Erhebungen sehen sie auch weit darunter“.

„Meet the people who fought to stop the disastrous judiciary reform in Poland“ von Sophie Rebmann und Nino Sichinava am 29. Juli 2017 bei Political Critique externer Link ist ein Beitrag, der vor allem Aussagen von TeilnehmerInnen der Demonstrationen gegen die sogenannte Justizreform dokumentiert und deren Gründe für die Teilnahme daran berichtet – die durchaus unterschiedlich sind, wie die interviewten Menschen auch.

„Polish state targets left-wing activists“ von Maciej Krzymieniecki  am 11. Juli 2017 am 11. Juli 2017 bei in Defence of Marxism externer Link ist ein Beitrag über die Verfolgung und Repression gegen Gewerkschaftslinke und Sozialaktivisten in Polen – organisiert von der damals regierenden, heute sich demokratisch gebenden PO – eine Repression, in der sich die parlamentarischen Parteien in vielen aufgeführten Fällen stets einig waren. Auch Expräsident Walesa mit seinem Aufruf, Streiks seien eine Polizeiangelegenheit, wird in dieser reaktionären Phalanx genannt.

„We cannot tell you that Aelia exploits its employees“ ist ein Beitrag von und bei der Workers‘ Initiative Trade Union (OZZ Inicjatywa Pracownicza) von 2014 externer Link : Exemplarisch dafür, wie die Justiz Polens, ganz ohne die aktuelle Reform der PiS, dazu da ist, jede linke Regung zu unterdrücken: „Wir dürfen nicht sagen, dass ihr ausgebeutet werdet“ – die Überschrift sagt alles.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=119604
nach oben