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Streik der Lehrerinnen und Lehrer in Polen: Der größte Arbeitskampf im Bildungswesen seit über 25 Jahren

Streik an Polens Schulen 2019Seit einer Woche streiken die Lehrer*innen in Polen. Es ist der größte Arbeitskampf im Bildungswesen seit über 25 Jahren. Fast 75% der Schulen sind vom Ausstand betroffen. Neben Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen und der Organisation des Schulsystems geht es den Streikenden vor allem um eine Lohnerhöhung. 30% mehr Gehalt fordert die größte Lehrer*innengewerkschaft ZNP gemeinsam mit der kleineren FZZ-Gewerkschaft. Das Einstiegsgehalt liegt umgerechnet derzeit bei etwas mehr als 400 €. Auch nach 15 Jahren Schuldienst sind es nur knapp über 1200 € monatlich. In einem letzten Vermittlungsversuch hatte die PiS-Regierung eine stufenweise Lohnerhöhung verknüpft mit einer Aufstockung der Arbeitszeit angeboten. Darauf ließ sich lediglich die PiS-nahe Solidarność-Gewerkschaft ein, die aber im schulischen Sektor nur eine Minderheit repräsentiert. Dabei hatte PiS gerade erst zum wiederholten Mal umfangreiche Sozialleistungen und Subventionen beschlossen. Zusätzliche Gelder gibt es für Rentner*innen und die Landwirtschaft. Die teils nicht unerheblichen Transferleistungen der Regierung gehen vor allem an Teile der Bevölkerung, die als potentielle PiS-Wählerschaft betrachtet werden…“ so beginnt der Beitrag „Der polnische Lehrer*innenstreik. Zum größten Arbeitskampf unter der PiS-Regierung“ von kapturak vom 14. April 2019 – LabourNet Germany dankt nach Warschau

Der polnische Lehrer*innenstreik. Zum größten Arbeitskampf unter der PiS-Regierung

Seit einer Woche streiken die Lehrer*innen in Polen. Es ist der größte Arbeitskampf im Bildungswesen seit über 25 Jahren. Fast 75% der Schulen sind vom Ausstand betroffen. Neben Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen und der Organisation des Schulsystems geht es den Streikenden vor allem um eine Lohnerhöhung. 30% mehr Gehalt fordert die größte Lehrer*innengewerkschaft ZNP gemeinsam mit der kleineren FZZ-Gewerkschaft. Das Einstiegsgehalt liegt umgerechnet derzeit bei etwas mehr als 400 €. Auch nach 15 Jahren Schuldienst sind es nur knapp über 1200 € monatlich.
In einem letzten Vermittlungsversuch hatte die PiS-Regierung eine stufenweise Lohnerhöhung verknüpft mit einer Aufstockung der Arbeitszeit angeboten. Darauf ließ sich lediglich die PiS-nahe Solidarność-Gewerkschaft ein, die aber im schulischen Sektor nur eine Minderheit repräsentiert.

Dabei hatte PiS gerade erst zum wiederholten Mal umfangreiche Sozialleistungen und Subventionen beschlossen. Zusätzliche Gelder gibt es für Renter*innen und die Landwirtschaft. Die teils nicht unerheblichen Transferleistungen der Regierung gehen vor allem an Teile der Bevölkerung, die als potentielle PiS-Wählerschaft betrachtet werden. Lehrer*innen fallen hier durchs Raster. Das streikende Kollegium einer Schule in Zielona Góra hat einen Protestsong produziert mit dem Refrain: „Für manche bist du weniger wert als eine Kuh“. PiS’ jüngstes Förderprogramm sieht 500 Złoty für jedes Rind vor.

Die Streiks im öffentlichen Dienst – und die üble Rolle von Solidarność

Der Streik reiht sich ein in verschiedene Arbeitskämpfe im öffentlichen Sektor unter der PiS-Regierung. Proteste und Streiks gab es bei Rettungssanitäter*innen,  Ärzt*innen, dem Personal der mehrheitlich staatlichen Fluglinie LOT, den Flughafenarbeiter*innen oder den Angestellten im Gerichtswesen.  Demnächst wollen die Sozialarbeiter*innen die Arbeit niederlegen.

Regelmäßig fällt dabei die unsolidarische Rolle der Dachgewerkschaft Solidarność auf, die sich generell nicht nur durch eine Nähe zur PiS-Regierung, sondern noch darüber hinausgehende extrem rechte Tendenzen auszeichnet. Die Chefin der LOT-Gewerkschaft rät den Lehrer*innen deshalb ausdrücklich, sich von der  Solidarność fernzuhalten. Mittlerweile gibt es zahlreiche Meldungen von Solidarność-Mitgliedern, die mit ihrer Gewerkschaftführung unzufrieden sind und sich eigenständig dem Streik anschließen. Viele haben auch schon die Austrittserklärung eingereicht.

Die Solidarność-Sektion im Bildungsbereich, deren Vorsitzender zugleich auch für PiS als Stadtrat aktiv ist, hat nicht nur das Separatabkommen geschlossen, sondern stellt auch einen wesentlichen Teil des streikbrechenden Personals. Doch das genügt nicht. Der Streik fällt in die Prüfungsphase und die Regierung sucht Streikbrecher*innen; und das  nicht mehr nur unter pensionierten Lehrkräften. Jede*r mit minimalen pädagogischen Qualifikationen kann sich zur Prüfungsaufsicht melden.

Die Kampagne der Regierung gegen den Streik

Auf die streikenden Lehrer*innen selbst übt die Regierung in verschiedener Weise Druck aus. Dazu gehört etwa eine – nach Ansicht der Lehrer*innengewerkschaft illegale – Erhebung der Personendaten der Streikenden. Vor allem ist es aber die unablässige mediale Kampagne, mit der das Regierungslager versucht, die Stimmung gegen die Lehrerschaft zu wenden und auch innerhalb derselben Zweifel zu sähen. Die in rücksichtsloser Propaganda erprobten regierungsnahen Medienkanäle, allen voran das von PiS vollständig kontrollierte staatliche Fernsehen, sind bestrebt, einen Keil zwischen die Bevölkerung, speziell die Eltern, und die Lehrer*innenschaft zu treiben – unter anderem indem die Schüler*innen als Leidtragende in den Mittelpunkt gerückt, die Lehrer*innen dagegen als egoistische und maßlose Bande präsentiert werden.

Wurde beim Hungerstreik der Ärzt*innen 2017 das Privatleben und der vermeintliche Luxusurlaub einer Streikenden an die Öffentlichkeit gezerrt, so werden diesmal falsche Geschichten über die angeblichen Reichtümer einer Schuldirektorin verbreitet. Mit tendenziösen Umfragen wie „Sollen die polnischen Lehrer zumindest genau soviel arbeiten, wie ihre Kollegen in der EU?“ wird das Klischee von faulen, fordernden Lehrer*innen mit viel Freizeit genährt.

Die Reaktionen auf den Streik und die Solidarität

Laut Umfragen ist die Bevölkerung in der Frage des Streiks gespalten. Eine knappe Mehrheit von 52% spricht sich dafür aus. 43% lehnen den Arbeitskampf hingegen ab. Die Solidaritätsbekundungen sind jedoch deutlich sichtbar und werden (noch) mit viel Engagement vorgetragen. Am Ende der ersten Streikwoche fanden in mehreren Städten große Demonstrationen statt, mit denen Zehntausende ihre Zustimmung für das Anliegen der Lehrer*innen zum Ausdruck brachten. In Poznań bildeten die Menschen mit Kerzen ein riesiges Ausrufezeichen, das Symbol des Streiks. Vielerorts bilden sich Elterninitiativen zur Unterstützung der Streikenden.

Ein wichtiges Signal und ein für eine längere Streikdauer unentbehrliches Instrument ist die Einrichtung eines Spendenfonds für nicht gewerkschaftlich organisierte oder der Solidarność angehörende Streikende. Innerhalb von zwei Tagen konnten hier bereits über 2 Mio. Złoty gesammelt werden. Im Komitee des Fonds sind Prominente aus Kultur und Wissenschaft wie die Man Booker-Preisträgerin Olga Tokarczuk. Mit an Bord ist aber auch z.B. die Präsidentin des Arbeitgeberspitzenverbandes PKPP Lewiatan Henryka Bochniarz, die ihr Interesse am Lehrer*innenstreik in erster Linie mit dem Bedarf an gut ausgebildeten künftigen Arbeitskräften begründet.

Die liberale Opposition müsste mit ihrer eigenen Regierungspolitik brechen, um wirklich solidarisch sein zu können

Ein häufiger Vorwurf des rechten Lagers rund um die PiS-Regierung lautet, dass es sich um einen „politischen Streik“ handele. Und zweifellos findet der Streik auch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen der nationalistisch-autoritären PiS-Regierung und den liberalen bis konservativen Oppositionsgruppen statt.

Vertreter*innen der liberalen Opposition stellen sich demonstrativ hinter die Streikenden. Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei, der Bürgerplattform (PO), erklärte, dass man im Falle eines Regierungswechsels nach den Parlamentswahlen im Herbst die Forderungen der Lehrer*innen erfüllen werde. Auch der Auftritt des Warschauer Bürgermeisters, einem wichtigen Vertreter der PO, auf der bislang größten Demonstration zur Unterstützung des Streiks lässt sich kaum unabhängig vom alles überlagernden Parteiengegensatz verstehen. Von dieser Seite wird der Streik als ein Teil des generellen Kampfes gegen die PiS-Regierung dargestellt und in Szene gesetzt. Selbst die Chefin der wirtschaftsliberalen Nowoczesna-Partei posierte zuletzt mit Streikplakaten.

Dabei stellt sich dann doch die Frage, wieso man nun plötzlich die Schulpolitik unter der neoliberalen PO-Vorgängerregierung fundamental anders und lehrer*innenfreundlicher bewerten soll und inwieweit entsprechende Hoffnungen auf das, was gegebenenfalls auf PiS folgen wird, tatsächlich begründet sind.

Ähnlich widersprüchlich ist auch der Fall der liberalen Gazeta Wyborcza, der zweitgrößten Zeitung des Landes. Noch vor wenigen Wochen hatte man dort die Sozialausgaben der PiS-Regierung und speziell angebliche Lohnerhöhungen für Lehrer*innen verächtlich gescholten. Auf der Titelseite prangte in großen Lettern: „PiS verteilt mit vollen Händen unser Geld“. Bevor PiS an die Macht gelangte, war die Wyborcza vorn mit dabei, wenn es darum ging, die Vorstellung einer überprivilegierten Lehrer*innenschaft zu pflegen. Nun werden in Warschau auf der Straße kostenlose Streik-Sonderausgaben der Zeitung zur Unterstützung der Lehrer*innen verteilt.

Es wäre aber sicher falsch, von einer rein einseitigen Instrumentalisierung der Streikenden zu sprechen. Wenigstens von Teilen der Lehrer*innenschaft und ihrer Repräsentant*innen wird und wurde bereits in der Vergangenheit deutlich die Nähe zur liberalen Oppositionsbewegung gesucht. Wenn die ZNP auch nicht im selben Maße parteinah ist wie die Solidarność, so waren ihre Vertreter*innen doch auch früher schon an Anti-PiS-Protesten sichtbar beteiligt. Die massiven Eingriffe in die Lehrpläne und der chaotische Umbau der Schulstruktur unter PiS taten hier ein Übriges.

Perspektive für Selbstorganisation?

Eine über die Parteiengegensätze hinausweisende Sicht bietet dagegen eine Einordnung von links. Ein Positionspapier der syndikalistischen Gewerkschaft Inicjatywa Pracownicza, die im Übrigen den Streik vollumfänglich unterstützt, eröffnet eine breitere Perspektive: „Der Verlauf der verschiedenen Arbeitskämpfe im öffentlichen Sektor – von denen der Lehrer*innenstreik nur den sichtbarsten Konflikt mit den weitreichendsten Konsequenzen darstellt – habe gezeigt, dass „die nationalistische, reaktionäre und bewahrende Rechte genauso wenig die Interessen der arbeiten Klasse repräsentiert, wie das die vorangegangenen Neoliberalen oder gefärbten Sozialdemokraten taten. […] Jegliche organisierte Aktion der Arbeitswelt ist ihr genauso ein Feind, wie sie es für die vorherigen Regierungen war – diese zeigt nämlich die Stärke der Arbeiterinnen und Arbeiter und ist unabhängig vom ‚guten Willen‘ der Regierung, die sich selbst als paternalistischer ‚Vormund des Volkes‘ erschaffen will.

Für die autoritäre PiS-Regierung könnte eine Selbstorganisation von unten, die Paralysierung eines Bereichs des öffentlichen Lebens, der weite Teile der Bevölkerung betrifft, und eine parallele gesellschaftliche Mobilisierung in jedem Fall noch ein Problem darstellen. Eine Fortsetzung des Konflikts bis zu den Europawahlen im Mai wird man mit Sicherheit vermeiden wollen. Ob ein Ende des Arbeitskampfs nur über verschärften Druck auf die Streikenden oder doch auch über Zugeständnisse erreicht werden soll, ist noch nicht abzusehen.

kapturak am 14. April 2019 in Warschau – wir danken

(Zwischenüberschriften von der Redaktion)(siehe den Autor bei Twitter: @kapturak externer Link)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=147430
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