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Durchwachsen. Beata Siekanska und Piotr Tyszler über Bewegung in Polens Gewerkschaftslandschaft
Immer wieder erreichten uns in den letzten Jahren Meldungen über recht kämpferische Auseinandersetzungen von Kolleginnen und Kollegen in Polen, seien es die Krankenschwestern und ihr »weißes Städtchen«, seien es die KollegInnen von Amazon, bei H&M oder bei Starbucks. Andererseits gibt es aber auch die Erzählungen von staatstragenden und korporatistischen Gewerkschaften in Polen, die den konservativen Parteien dort näher stehen als irgendwelchen linken, fortschrittlichen Positionen. Die Lage erschien uns unübersichtlich und wir haben nachgefragt. Beata Siekanska und Piotr Tyszler, die mit anderen gerade dabei sind, den Freien Gewerkschaftsverband »Walka« (Kampf) zu gründen, versuchen uns einen Überblick zu verschaffen…“ Artikel von Beata Siekanska und Piotr Tyszler*, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe 4/2017
Durchwachsen. Beata Siekanska und Piotr Tyszler über Bewegung in Polens Gewerkschaftslandschaft
Du hast kein Smartphone? Kein Problem – tritt einfach in die Gewerkschaft ein. Klingt das komisch? Keinesfalls.
»Sie eröffnen ein Gewerbe. Treffen Absprachen z.B. mit einer Firma, die sich mit Handys befasst, und auf diese Weise gewinnen sie Mitglieder«, sagt Piotr Senk, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Beschäftigen der Bahngesellschaft Großpolen. »Haben sie mehr Mitglieder, so können sie mit der Firma vereinbaren, dass die Handys billiger an ihre Mitglieder abgegeben werden. Dank dessen verdienen sie auch. Wie? Wenn irgendwelche Kongresse sind, werden sie von der Firma gesponsert«.
Die Gewerkschaft der Lokführer, die ihren Mitgliedern solche Boni anbietet, ist keine Ausnahme. Viele Gewerkschaften bieten ihren Mitgliedern »Geschenke«, damit sie Mitglied werden.[1] Päckchen zu Feiertagen, Elektronik und sogar Bargeld – all das ist üblich. Das gilt natürlich vor allem für die großen Gewerkschaften mit einer breiten Struktur, die aus den Beiträgen hohe Einkünfte haben und darüber hinaus gewerblich aktiv sind, indem sie – gesetzlich zulässig – Verkaufsstellen oder Kantinen auf dem Betriebsgelände betreiben. Große Gewerkschaften beziehen ihre Einkünfte zum Teil aus Gewerbe, denn laut Gesetz dürfen sie gewerblich tätig sein. Sie haben Immobilien, wie Ferienobjekte, oder erwerben welche. In Poznan stieg die Miete, nachdem die Gewerkschaft die Häuser übernommen hatte, um das Doppelte. Kleinere Gewerkschaften können solche Attraktionen nicht anbieten, was auch dazu führt, dass sie weniger Mitglieder gewinnen.
In der Gewerkschaftslandschaft Polens gibt es drei große Spieler, die im »Rat des Gesellschaftlichen Dialogs« dabei sind. Dieses trilaterale Organ besteht aus VertreterInnen dieser Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände und der Regierung. Der »Rat für Gesellschaftlichen Dialog« trat 2015 an die Stelle der trilateralen Kommission für Wirtschaft und Soziales, die seit 2001 in ähnlicher Weise funktionierte. Die gewerkschaftliche Seite repräsentieren: die NSZZ Solidarnosc, die OPZZ und das Forum der Gewerkschaften. Die beiden ersten stammen noch aus der Zeit Volkspolens. Damals war die Solidarnosc die Hauptkraft der Opposition und die 1984 entstandene OPZZ repräsentierte eine gegenüber der damaligen Regierung freundliche Gewerkschaft.
Neue Realität nach 1989
Nach dem Umbruch hatten die Gewerkschaften Mühe, sich der neuen Realität anzupassen. Die großen Streiks zu Beginn der 1990er Jahre brachten neue Spieler auf den Plan und führten gleichzeitig zur Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung. Allerdings gaben die »Solidarnosc« und die OPZZ weiter den Ton an. Die OPZZ war von Beginn an mit der post-kommunistischen Linken (SLD) verbunden und die »Solidarnosc« unterstützte rechte politische Formationen. Sie war 1997 sogar der Initiator der siegreichen Mitte-Rechts Koalition AWS (Wahlaktion Solidarnosc).
Die politischen Bindungen beider Gewerkschaften hatten auch Einfluss auf die Häufigkeit von Streiks und Protesten. Als die Postkommunisten an der Regierung waren, reduzierte die ihr verbundene OPZZ ihre Aktivitäten, dafür verstärkte die »Solidarnosc« ihr Engagement, um es 1997 wieder einzuschränken, als sie selbst an der Macht war. Ein Zeitraum, in dem beide Gewerkschaften gemeinsam handeln konnten, war die Phase, in der die neoliberale Bürgerplattform 2007-2015 die Regierung bildete. Von ihrer vermeintlichen Stärke zeugt der Umstand, dass sie auf dem Höhepunkt der Unzufriedenheit der Bevölkerung einen Generalstreik[2] für April 2015 ausriefen, diesen dann in eine Demo umwandelten, an der sich rund 30.000 - 40.000 Menschen beteiligten – im Vergleich zu den Mitgliederzahlen (mindestens 1,5 Millionen[3]) also relativ wenige. Der letzte Generalstreik in Polen fand 1988 statt.
Die dritte große Gewerkschaft ist das Forum der Gewerkschaften, das 2002 entstand und diejenigen Gewerkschaften vereint, die weder zur »Solidarnosc« noch zur OPZZ gehören. Zu den größten Mitgliedsgewerkschaften zählen die Gewerkschaften der Krankenschwestern und Hebammen, der Bahn-Beschäftigten, der Polizei und der Ingenieure und Techniker. Offiziell ist das Forum mit keiner politischen Partei verbunden. Allerdings hat es 2005 ein Abkommen mit der populistischen Partei Samoobrona (Selbstverteidigung) von Andrzej Lepper abgeschlossen.
Daneben existiert auch noch der Freie Gewerkschaftsverband »Sierpien 80« (August 80), der einige tausend ArbeiterInnen mobilisieren und erfolgreiche Streiks führen konnte. Durch seine nicht immer glücklichen politischen Bündnisse (wie mit dem populistischen Bauernführer Andrzej Lepper), aber auch infolge der Liquidierung vieler gewerkschaftlich gut organisierter Großbetriebe verlor er viele Mitglieder. Aktuell spielt er deshalb nicht mehr solch eine Rolle wie noch vor zehn Jahren.
Ein Problem der polnischen Gewerkschaften ist ihre Zersplitterung. Die am stärksten organisierten Branchen zeichnen sich zwar nicht durch eine große Zahl von Beschäftigten aus, dafür aber durch einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad. In den staatlichen Betrieben ist der Organisationsgrad am höchsten. Dies ist auf die Tradition aus der Zeit Volkspolens zurückzuführen. So herrscht etwa im Bergbau, der dem Finanzministerium untersteht, ein Organisationsgrad von 72 Prozent. Jedoch sprechen die Gewerkschaften dort nicht mit einer Stimme. Ähnlich verhält es sich bei der Bahn und in den Gaswerken, wo der Organisationsgrad 24 bzw. 31 Prozent beträgt. Ein weiterer, gut organisierter Berufszweig ist das Bildungswesen, wo jeder vierte Beschäftigte einer Gewerkschaft angehört. Die zur OPZZ gehörende Gewerkschaft der Polnischen Lehrer (ZNP) ist hier die stärkste. Sie ist besonders aktiv bei den Protesten gegen die Bildungsreform der jetzigen Regierung, bei der es neben der Umgestaltung des Schulsystems – zwei- statt bisher dreigliedrig – darum geht, im Lehrplan die patriotische und (polnisch-)historische Bildung zu verstärken. Eine weitere Gewerkschaft, die in diesem Sektor tätig ist, ist die »Solidarnosc«. Sie ist »natürlich« für diese Reform und gegen alle LehrerInnen, die dagegen streiken wollen.
Weder die »Solidarnosc« noch die OPZZ zeigen sich kämpferisch, wenn es um die Verteidigung oder gar Erweiterung der Rechte der ArbeiterInnen geht. Die Gewerkschaftsführungen auf Landes-, Regional- und sogar Betriebsebene bilden eine Gruppe, die sich hervorragend an die Bedingungen angepasst hat und gut zwischen den Erwartungen der ArbeiterInnen und den Interessen der Unternehmen vermitteln können, in denen sie tätig sind.
Die großen Gewerkschaftszentralen bemühen sich, in der veränderten Wirklichkeit zu überleben. Die Liquidierung der großen Betriebe hat sich negativ auf die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder, die traditionell ihre Basis waren, ausgewirkt. Die Baubranche hat zum Beispiel einen Organisationsgrad von vier Prozent (CBOS) – offiziell, aber in Wirklichkeit sind es Promille. Die Bau-Firmen werden immer kleiner und wenn bei den Beschäftigten ein Interesse an gewerkschaftlicher Organisierung bestünde, so würde es daran scheitern, dass Gewerkschaften laut Gesetz mindestens zehn Mitglieder in einer Firma haben müssen. Das wäre schon ein Wunder, denn die meisten Baufirmen sind kleiner.
Dort, wo die Gewerkschaften ihre Basis und starke Vertretungen haben, versuchen viele der Gewerkschaftsführer, gut mit dem Arbeitgeber klar zu kommen, denn paradoxerweise hängt davon ihre gewerkschaftliche Karriere ab. Den Mitgliedern wird die gute Beziehung zum Arbeitgeber als ein Vorteil für die Beschäftigten verkauft. Die Praxis allerdings zeigt, dass die guten Beziehungen zwischen den Gewerkschaftsvorständen und den Arbeitgebern eher den Letzteren nützen.
Zwei Beispiele: Als die Empörung über die Erhöhung der Leistungsvorgaben im Lager von H&M bei Poznań sich verstärkte, spielte die Chefin der dortigen »Solidarnosc« in einem Interview für die Medien die Stimmung unter den Kollegen gegenüber dem Arbeitgeber herunter. Ähnliches passiert durch die »Solidarnosc« bei Amazon in der Nähe von Poznań und Wroclaw, wo die radikale Stimmung der Gewerkschafter der »Arbeiter-Initiative« (OPZZIP) gleich wieder durch eine zuvorkommende Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber ad absurdum geführt wurde.
Die Repressionen gegen gewerkschaftliche Tätigkeiten bekommen besonders die kleinen, neu entstehenden Gewerkschaften zu spüren. Das ist für sie besonders schmerzlich, da sie oft nicht über ausreichend finanzielle Mittel verfügen, um einen Anwalt einzuschalten. Oft müssen die Funktionäre Anwälte aus eigener Tasche zahlen, denn die Beiträge reichen nicht dafür. Die großen »goldenen« Gewerkschaften haben Rechtsanwälte und finanzielle Mittel, aber faktisch hat sich ihre Tätigkeit weit von ihren deklarierten Werten entfernt. Probleme beginnen meist schon bei der Gründung einer Gewerkschaft. Die Arbeitgeber bemühen sich gleich, diese zu zerschlagen. Häufig wird es so gehandhabt, dass sie der neu entstandenen Gewerkschaft den Dialog verweigern. Dafür beginnen Entlassungen. Nach der Entscheidung des Obersten Gerichts ist für die Entlassung eines Gewerkschaftsführers aus disziplinarischen Gründen die Zustimmung dieser Gewerkschaft notwendig.
Wojciech Dorsz, ein Mitarbeiter bei Radio Trojka, wurde aus disziplinarischen Gründen entlassen, weil er »schwarze PR« gemacht hatte. Die Chefs des Radios sahen sich nicht nur in ihrer Arbeit beeinträchtigt, sondern fühlten sich durch seine Aufforderung, eine öffentliche Mediation einzuschalten, auch erpresst. Auch der vorhergehende Chef der Gewerkschaft der Journalisten und Beschäftigten beim 2. und 3. Programm von Radio Polska war mit der gleichen Begründung entlassen worden – ohne Zustimmung der Gewerkschaft.
Bei der Handelskette Dino Polska wurden die Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten, die Beschäftigten wurden schikaniert und Überstunden nicht bezahlt. Daraufhin schlossen sich die Solidarnosc-Gruppen der einzelnen Supermärkte zu einem Verbund zusammen. Die Vorsitzende dieses Solidarnosc-Verbandes wurde entlassen, weil sie »die Arbeiter in die Anarchie geführt« und bei dem »Arbeitgeber das Vertrauen verloren« habe; einige Beschäftigte wurde wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft entlassen. Die Solidarnosc erreichte zwar, dass die Kollegin wieder zurückkehren konnte, doch diese verzichtete in der Folge auf die Funktion als Vorsitzende. Auch Magda, eine weitere Kollegin und Gewerkschaftsmitglied, war rechtswidrig entlassen worden. Aus Enttäuschung über die fehlende praktische Unterstützung, aber auch wegen der sehr zuvorkommenden Haltung der Solidarnosc gegenüber dem Arbeitgeber trat sie in der Folge in den Verband der Polnischen Syndikalisten (ZSP) ein, einer quasi gewerkschaftlichen Organisation. ZSP organisierte eine Serie von Protesten vor Supermärkten in ganz Polen und erkämpfte für Magda unter anderem, dass ihre geleisteten Überstunden bezahlt wurden. In der Zwischenzeit jedoch übte der Chef der Solidarnosc in der Region Druck gegen die Proteste vor den Supermärkten aus und trug so dazu bei, diese einzudämmen. Vorfälle dieser Art, wo die Solidarnosc gegen die Beschäftigten agiert und nicht zu ihrem Schutz, gibt es viele.
So wurde der Busfahrer Andrzej Wlodarczyk vom örtlichen Nahverkehrsunternehmen MPK entlassen, weil »er die zulässigen Grenzen der Kritik an seinen Vorgesetzten und den Gremien des Arbeitgebers überschritten hatte«. Vor Gericht erschienen Vertreter der betrieblichen Solidarnosc-Gruppe. Sie kamen, um den Chef des Betriebes zu unterstützen, und nicht den entlassenen Busfahrer, obwohl dieser der Solidarnosc des MPK angehörte. Als Zeuge sollte auch der Ehrenvorsitzende dieser Gewerkschaft beim MPK, der zugleich Abgeordneter der rechtskonservativen PiS im polnischen Parlament (Sejm) ist, gehört werden. Drei Mal begründete er sein Fernbleiben mit seinen Aufgaben als Abgeordneter, um schließlich dem Gericht ein Schreiben zu übersenden, in dem er die Entlassung des Busfahrers als gerechtfertigt bezeichnete. Das Gericht sah die Entlassung von Wlodarczyk als rechtswidrig an. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der MPK kann Berufung einlegen.
Einer der Organisatoren des kürzlich durchgeführten Protestes der Briefträger, der sich insbesondere gegen niedrige Löhne, das hohe Pensum an Sendungen und das Arbeitstempo richtete, wurde disziplinarisch entlassen. Als Grund wurden Facebook-Einträge angegeben, die nach Auffassung der Post andere zum Protest aufriefen und die Autorität der Arbeitgeber untergruben. Dieser Protest wurde von der Basis aus organisiert, ohne Rücksprache mit der Gewerkschaft, weil diese nach Ansicht der Postler die Arbeiter verraten und zu eng mit dem Vorstand der Post zusammengearbeitet hatte.
Es geht auch anders…
Aber nicht alle Gewerkschaften gehen dem Arbeitgeber zur Hand, es gibt auch solche, die ihnen den Kampf ansagen, um die Rechte der Beschäftigten zu verteidigen. Anlass für die Entstehung der Gewerkschaft der Beschäftigten der Bahngesellschaft Großpolen war die Bezahlung der Lokführer, die trotz gleicher Arbeit unterschiedlich hoch ausfällt. Mit Unterstützung durch andere Gewerkschaften bei der Bahn in Poznan konnten sie nicht rechnen. »Wir sind die einzige real funktionierende Gewerkschaft bei den Bahnen in Poznan. Bei den anderen Gewerkschaften hat der Beschäftigte nichts zu suchen, tatenlos akzeptieren sie alle Forderungen des Arbeitgebers«, so Piotr Senk, der Vorsitzende dieser Gewerkschaft.
Schon während des ersten offiziellen Treffens drohte der Arbeitgebervertreter der kommunalen Gesellschaft, ein ehemaliger Funktionär der Solidarnosc und ehemaliger Vize-Vorsitzender des Landtages, mit der Staatsanwaltschaft. Ihm missfiel, dass die Gewerkschaft das Logo der Bahngesellschaft benutzt hatte. Darüber hinaus zeigte er sich verärgert, weil das Ziel, gegen Mobbing kämpfen zu wollen, suggeriere, dass bei der Firma Mobbing an der Tagesordnung sei. In der Folge kam es zu Drohungen und verschiedenen Formen von Repression. Abteilungsleiter warnten die Beschäftigten vor einem Eintritt in diese Gewerkschaft. Den ArbeiterInnen in Zbaszynek wurde damit gedroht, dass sie dann die 90 km nach Poznan fahren müssten. Beschäftigten mit Zeitverträgen wurde gedroht, dass diese nicht mehr verlängert würden. Die Einträge der Beschäftigten auf der Facebook-Seite der Gewerkschaft wurden beobachtet, und sie wurden darüber informiert, dass dies nicht gern gesehen wird. Jetzt sind dort keine Einträge mehr zu sehen, denn die Beschäftigten wissen, welcher Gefahr sie ausgesetzt sind. Solche Formen der Einflussnahme des Arbeitgebers auf die Gewerkschaft sind kein Einzelfall und treten auch in vielen anderen Firmen und Branchen auf. Das wirkt sich entsprechend auch auf alle Formen aus, gewerkschaftlich aktiv zu werden und größere Kreise von Beschäftigten zu gewinnen.
Nach Untersuchungen des Staatlichen Amtes für Statistik (CBOS) beträgt das Durchschnittsalter eines Gewerkschafters 44 Jahre. Zu der Gewerkschaft der Beschäftigten der Bahngesellschaft Großpolen gehören einige Zwanzigjährige, aber sie halten ihre Mitgliedschaft vor der Betriebsleitung geheim. Sie haben Angst. Sie haben Zeitarbeitsverträge und möchten keine Schwierigkeiten bekommen. Aus dem gleichen Grund war es ihnen auch nicht möglich, weitere jüngere ArbeiterInnen zu gewinnen.
Um die Genehmigung zum selbstständigen Führen einer Lokomotive zu erhalten, muss ein Lokführer eine bestimmte Anzahl von Stunden von einem erfahrenen Kollegen begleitet werden. Die Geschäftsführung hat eine Anweisung erlassen, nach der zu dieser Begleitung alle möglichen Kollegen berechtigt sind – außer dem Vorsitzenden der Gewerkschaft und anderen Gewerkschaftsaktivisten. Sie fürchtet sich offenbar, weil die Gewerkschaft trotz der geringen Anzahl der Mitglieder schon einiges erreichen konnte – im Moment gehören ihr 40 Mitglieder an, aber es fehlen noch welche, um durchgreifen zu können, zumal sie keine finanzielle Unterstützung erhalten. Würden junge Lokführer eintreten, könnte sich die Situation ändern.
Es wird ein großer Aufwand zum Ausbau neuer Gewerkschaften betrieben, jedoch scheinen die großen Gewerkschaften – so paradox das klingt – gegenüber den neuen radikalen und kompromissloseren Gewerkschaften zu verlieren. Die neuen Gewerkschaften sind nicht mit einer traditionellen Bürokratie belastet und damit weitaus mobiler – und vor allem: Sie haben Lust auf Aktionen. Ihre einzige Chance im Wettbewerb mit den großen Gewerkschaften ist ihre Aktivität und ihr Kampf, der schließlich in für die Beschäftigten spürbare Ergebnisse mündet. Die alten, traditionellen Gewerkschaften haben sich in ihren Branchen vergraben, selten schauen sie über ihren Tellerrand hinaus und bemühen sich, neue Felder für ein gewerkschaftliches Engagement anzugehen. Diese neuen Felder werden aber von den neuen Gewerkschaften angegangen, die im Vergleich zu den alten Kollegen zwar keine Päckchen an Feiertagen oder Handys verteilen, aber dafür in der Lage sind, über die Strukturen der Firma hinaus zu mobilisieren – nötigenfalls auch, wenn es nur um den Schutz eines einzelnen Arbeiters geht. Dies unterscheidet die neuen von den alten Gewerkschaften. Die alten haben sich selten eingesetzt für »Einzelfälle«, bei denen das Arbeitsrecht missachtet wurde. Die neuen engagieren sich für jeden einzelnen Fall, außerdem sind sie dabei, in den Branchen ihren Einfluss geltend zu machen, für die die alten kein Interesse zeigten. Die traditionellen Gewerkschaften scheinen die Veränderungen nicht wahrzunehmen, die sowohl darin bestehen, dass Beschäftigungsverhältnisse außerhalb des Arbeitsrechts immer populärer werden, als auch darin, dass ihre traditionelle Basis im Schwinden begriffen ist. Im Zuge der strukturellen wirtschaftlichen Veränderungen ist das Entstehen von neuen, alternativen Gewerkschaften eine Hoffnung für die Weiterentwicklung der Gewerkschaftsbewegung – und auf das Verschwinden der alten bürokratischen Strukturen der Gewerkschaften.
Aus dem Polnischen: Norbert Kollenda
* Beata Siekanska und Piotr Tyszler sind Aktivisten des Freien Gewerkschaftsverbandes »Walka« – (Kampf), der gerade gegründet wird; es ist geplant, sich im April registrieren zu lassen.
Anmerkungen:
1) Der Übersetzer hat selbst erlebt, wie sich Rettungssanitäter versammelten, um über ein einheitliches Berufsbild zu beraten und aus der Zersplitterung heraus über eine gemeinsame Gewerkschaft nachzudenken. Da platzte der damalige Chef des Forums der Gewerkschaften mitten in die Beratungen und versuchte, sie mit kostenlosen Englischkursen zu ködern, die dann in Reisen nach England münden würden.
2) Am 26. März 2013 fand in Oberschlesien ein Generalstreik statt. Dazu hatten die drei großen Gewerkschaften zusammen mit dem Freien Gewerkschaftsverband Sierpien 80 (August 80) aufgerufen.
3) NSZZ Solidarnosc und OPZZ haben beide mehr als 500.000 Mitglieder, der kleinere Gewerkschaftsbund FZZ gibt an, mehr als 400.000 Mitglieder zu haben. Siehe: http://de.worker-participation.eu/Nationale-Arbeitsbeziehungen/Laender/Polen/Gewerkschaften
Glossar:
AWS (Akcja Wyborcza Solidarnosc – Wahlaktion Solidarnosc): 1996 gegründetes Wahlbündnis, das aus etwa 40 bis 50 Gruppierungen aus dem Post-Solidarnosc-Lager bestand; Ausrichtung war christlich, konservativ und liberal. Von 1997 bis 2001 stellte die AWS mit Jerzy Buzek den Premierminister; 2003 löste sie sich auf nationaler Ebene auf.
CBOS: Centrum Badania Opinii Spolecznej – ist eine Stiftung als Meinungsforschungszentrum
FZZ: Forum Gewerkschaften: 2002 entstanden, vereint diejenigen Gewerkschaften, die weder zur Solidarnosc noch zur OPZZ gehören
NSZZ »Solidarnosc«: Niezalezny Samorzadny Zwiazek Zawodowy »Solidarnosc« – Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft »Solidarität«
OPZZ: Ogolnopolskie Porozumienie Zwiazkow Zawodowych – Gesamtpolnischer Gewerkschaftsverband
OPZZIP (»Arbeiter-Initiative«): Kleine Basisgewerkschaft, die unter anderem bei Amazon aktiv ist
OPZZPiP: Gesamtpolnische Gewerkschaft der Krankenschwestern und Hebammen, deren Dachverband das Forum der Gewerkschaften (FZZ) ist
Partei Samoobrona (Selbstverteidigung): Die Partei des 2011 verstorbenen Bauern-Politikers Andrzej Lepper, ursprünglich entstanden als Bauerngewerkschaft
SLD: Sojusz Lewicy Demokratycznej (Bündnis der Demokratischen Linken) ist eine sozialdemokratische Partei in Polen
WZZ »Sierpien 80« Freier Gewerkschaftsverband August 80 – hervorgegangen aus »Solidarnosc 80«, die sich aus Protest gegen die Vereinbarungen des Runden Tisches und der Rolle von Lech Walesa 1989 von der Solidarnosc gelöst haben, weil deren Vorgehen nicht den Statuten entsprach