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„Österreichs Kinder werden durch Austeritätspolitk, Auslagerung und Lohndumping bedroht, nicht durch irgendeine „ISIS-Tante““
Der Satz ist aus dem Interview „Menschlichkeit kann heute nur antikapitalistisch sein“ von Andreas Schuchardt mit Emanuel Tomaselli (Redakteur der österreichischen marxistischen Zeitung „Der Funke“) ursprünglich in gekürzter Fassung am 12. März 2016 in der jungen welt erschienen, worin die reaktionäre und aggressive österreichische Politik gegen Refugees ebenso Thema ist, wie ihre rechte Mobilisierungsqualität – und die Mobilisierung dagegen. Und die Schlussfolgerung gezogen wird: „Als Marxist wundert mich wie sich die Linke nun um die Ränder dieser Utopie gruppiert: jene die auf nationale Lösungen setzen und jene die an der Illusion der Demokratisierung dieses Werkzeugs festhalten. Beide bauen ihr Programm auf unterschiedliche Interessenslagen innerhalb des bürgerlichen Lagers. Eine Linke die auf der Höhe der Zeit agiert, muss ein eigenständiges Programm vertreten: das der sozialen Revolution…“. Siehe das ganze Interview:
„Menschlichkeit kann heute nur antikapitalistisch sein“
(Emanuel Tomaselli ist Redakteur der österreichischen marxistischen Zeitung „Der Funke“, dem Organ der gleichnamigen politischen Strömung innerhalb und außerhalb des linken Flügels der SPÖ) Interview: Andreas Schuchardt
Österreich hat in einem spektakulären Schritt, zusammen mit verschiedenen Staaten der Region, die so genannte „Balkanroute“ weitgehend dicht gemacht. Steht die Alpenrepublik tatsächlich kurz vor dem Kollaps?
Die einzigen die am Anschlag stehen, sind die tausenden freiwilligen HelferInnen, deren Arbeit durch behördliche Willkür und organisierten politischen Unwillen zusätzlich erschwert wird. Österreich ist ein reiches Land, das die Armen jeder Nation und Hautfarbe schlecht behandelt: aus politischem Kalkül und zur Verteidigung des Reichtums der Top-1%. Jetzt agiert die Bundesregierung auch wieder als Chef am Balkan, das entspricht der traditionellen imperialistischen Orientierung in der Region.
Am 1.März brachte die „Neue Zürcher Zeitung“ online den Aufmacher „Missstände in Wien: Islamisten unterwandern Kindergärten“. Wie schlimm ist die Lage? Kommt jetzt der Baby-Dschihad?
Dieser ganze Unsinn wurde durch eine fragwürdige Studie des öesterreichischen Außenministeriums lanciert. Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP), der nebenher auch als Reklamefigur für die Raiffeisenbank fungiert, ging es darum, die SPÖ Wien, die am längsten an der „Willkommenskultur“ festhielt, in den Dreck zu ziehen. Die materielle Grundlage der Kindergartenmisere liegt vielmehr im Spardruck. Anstatt Geld für öffentliche Kindergärten aufzustellen werden private Kinderbetreuungs-Initiativen subventioniert. Dass dort pädagogisches vieles im Argen liegt kann ich aus eigener Erfahrung berichten. Österreichs Kinder werden durch Austeritätspolitk, Auslagerung und Lohndumping bedroht, nicht durch irgendeine „ISIS-Tante“.
Gibt es in Österreich rechtsradikale Straßenproteste à la PEGIDA oder vermehrt Angriffe auf Migranten?
Im rechtsradikalen Bereich findet ein regelrechter Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Gruppierungen statt. Man kann fast sagen, dass diese Szene hyperaktivistisch agiert. Sie bringen zwar vermehrt Leute auf die Straße, aber es handelt sich noch immer um die üblichen Verdächtigen: akademische Nazis, die einen gesellschaftlichen Randbereich um sich scharen. Angriffe und Brandanschläge nehmen ebenfalls zu, aber zur Zeit jedenfalls sehe ich hier nicht, dass das über die immer vorhandene Szene hinausgeht.
Besteht die Gefahr, dass die FPÖ auf der Welle einer xenophoben Massenhysterie zur stärksten Partei wird?
Die FPÖ war in den Umfragen schon stärkste Partei, bevor der Syrien-Krieg und die Flüchtlingskrise überhaupt erst ins Massenbewusstsein drängten. Was stimmt ist, dass Rassismus zurzeit eine Massenideologie ist. Jedes Übel wird entlang der „Migranten-Frage“ aufgearbeitet. Erst die Anschläge in Paris im November und dann die Ereignisse in der Sylvesternacht in Köln bildeten die Knotenpunkte, die diesen Acker bestellt haben. Darauf drängen sich jetzt alle Parteien und Medien, um die Saat auszubringen.
Das heißt konkret?
Im Februar etwa verzeichnete Österreich die höchste Arbeitslosigkeit der 2. Republik, in liberalen Medien wird analysiert, dass die Zunahme nur unter Migranten stattfinde. So wird nun jedes gesellschaftliche Phänomen aufgearbeitet. Als ob es nie eine Globalisierung der Märkte, inklusive der Arbeitsmärkte gegeben hätte. Es wird verschwiegen, dass gerade das österreichische Kapital dabei massiv durch seinen Kapitalexport in die neuen Ost-Märkte profitiert hat. Heute präsentieren sie alle die Milchmädchenrechnung: zieh die Migranten ab, und du siehst, es gäbe kein Problem. Der grundlegende Prozess ist: die Form der rituellen Austragung des Klassenkampfes hinter den gepolsterten Türen der Sozialpartnerschaft funktioniert in Zeiten der Krise nicht mehr. Dies wird von Seiten der Unternehmer immer mehr artikuliert, auf Seiten der Arbeiterbewegung führt dies zu einer ständigen Schwächung und weitgehenden Entfremdung der Klasse von ihren historischen Organisationen.
Welche Entwicklungsperspektiven siehst Du für das Entstehen einer starken antirassistischen und internationalistischen Bewegung? Gibt es Chancen für einen Schulterschluss der vielen freiwilligen Flüchtlingshelfer / Integrationslotsen mit der Antifa-Bewegung?
Hier gab und gibt es viele schöne und erfolgreiche Beispiele wie das geht. Gesamtgesellschaftlich aber ist die Linke an dieser Frage ist gescheitert, das muss offen gesagt werden. Generell müssen wir sehen, dass in den vergangenen Monaten die Linke aller Schattierungen und Orientierungen geschwächt worden ist, da sie sich in hoch-polarisierten Situationen als handlungsunfähig erwiesen hat. Zu nennen ist hier der Tabubruch der SPÖ / FPÖ-Koalition im Burgenland, gegen den die SPÖ-Linke zunächst Sturm lief, um ihre Organisierungsversuche dann aber – vorerst – wieder einzustellen. Dann die Flüchtlingsbewegung, die in weiten Teilen der Linken lange gar nicht als politische Bewegung wahrgenommen wurde, obwohl Menschlichkeit heute nur antikapitalistisch sein kann. Auf dem Rücken dieser Bewegung und um die FPÖ zu verhindern, wählten viele Leute bei den Kommunalwahlen noch einmal die SPÖ.
Und linke Listen?
Linke Wahlprojekte in Wien sind an ihrem von der Gesellschaft isolierten Voluntarismus gescheitert. Das Vakuum hier ist groß, die Entfremdung zwischen tausenden potentiellen linke AktivistInnen und den bestehenden Organisationen ist unüberbrückbar geworden, insbesondere solange die Sozialdemokratie an der Regierung ist. Das Ganze erinnert etwas an Italien: starke linke Traditionen, die politisch auf Heimatsuche sind. Entschieden wird das werden, wenn der aufgestaute Zorn sich Form einer massenhaften sozialen Bewegung entlädt. Dass dies kommt steht außer Frage, wann die Menschen massenhaft bereit dafür sind, liegt aber außerhalb der Wirkungskraft der Linken.
Hat sich die EU als Fehlkonstruktion erwiesen?
Für wen? Wie Lenin schon sagte ist ein vereintes kapitalistisches Europa eine reaktionäre Utopie, und diese wird täglich bereitet. Als Marxist wundert mich wie sich die Linke nun um die Ränder dieser Utopie gruppiert: jene die auf nationale Lösungen setzen und jene die an der Illusion der Demokratisierung dieses Werkzeugs festhalten. Beide bauen ihr Programm auf unterschiedliche Interessenslagen innerhalb des bürgerlichen Lagers. Eine Linke die auf der Höhe der Zeit agiert, muss ein eigenständiges Programm vertreten: das der sozialen Revolution.