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Nigerias Präsident droht – vergeblich. Die Massenaktionen gegen den Polizeistaat gehen weiter – und die Solidarität mit ihnen wächst: Gewerkschaften, Menschenrechtsgruppen – und Flüchtlinge in der BRD

Plakat der Anti-SARS-Kampagne in Nigeria Oktober 2020„… Die Proteste gegen SARS-Polizeieinheiten begannen 2017 oder sogar früher. Die Regierung hat wiederholt behauptet, sie habe die Einheit „reformiert“, obwohl die Polizisten völlig ungestraft weiter wüten. Laut einem Bericht von Amnesty International ist die SARS-Polizei regelmäßig an außergerichtlichen Tötungen, Entführungen und Vergewaltigungen beteiligt, ebenso wie „Folter einschließlich Erhängen, Scheinhinrichtungen, Schlagen, Prügeln und Treten, Verbrennen durch Zigaretten, Waterboarding, beinahe Erstickung mit Plastiktüten, sexueller Gewalt und der Nötigung der Verhafteten, belastende Körperhaltungen einzunehmen“. Die Massenproteste werden nicht nur vom tiefen Hass auf die repressive und korrupte Polizei getrieben, sondern auch von der weit verbreiteten Wut über Massenarbeitslosigkeit, Armut und eine beispiellose soziale Ungleichheit. In Nigeria, das mit 206 Millionen Menschen das größte Land Afrikas ist, haben sich diese seit langem vorherrschenden Bedingungen durch die Corona-Pandemie und die katastrophale und inkompetente Reaktion der Regierung drastisch verschärft. In völliger Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben der Arbeiter setzt die Elite alles daran, die Wirtschaft komplett zu öffnen. Laut Oxfam verfügen die drei reichsten Milliardäre Afrikas – Aliko Dangote aus Nigeria an der Spitze – über mehr Vermögen als die untere Hälfte der Bevölkerung – 650 Millionen Menschen in ganz Afrika. Die fünf reichsten Nigerianer haben demnach zusammen ein Nettovermögen von 29,9 Milliarden Dollar, was ausreichen würde, um 112 Millionen Nigerianer aus der Armut zu befreien. Der Aufstand in Nigeria hat tiefe historische Wurzeln, die bis zur kolonialen Unterdrückung durch das britische Empire zurückreichen. Das Vereinigte Königreich gewährte die Unabhängigkeit 1960 nur im Rahmen einer Vereinbarung, mit der Königin Elizabeth Monarchin und Staatsoberhaupt von Nigeria bleiben konnte. Weit davon entfernt, die Befreiung der unterdrückten Massen einzuleiten, war dieses Abkommen – wie ähnliche Vereinbarungen in anderen afrikanischen Ländern – der Moment der aufstrebenden nationalen Bourgeoisie, die eifrig daranging, den von den Kolonialisten ererbten Staats- und Unterdrückungsapparat zu übernehmen. Sie verteidigten die künstlich gezogenen Grenzen, die sie als Garantie für ihren eigenen Reichtum und Macht geschaffen hatten...“ – aus dem Beitrag „Massaker der nigerianischen Regierung an Demonstranten gegen Polizeigewalt“ von Bill Van Auken am 22. Oktber 2020 bei wsws externer Link über soziale und historische Bedingungen des nigerianischen Aufstandes gegen Polizeiterror. Siehe dazu auch acht weitere aktuelle Berichte und Beiträge zu den fortgesetzten Protesten und der wachsenden Solidarität sowie historischen Parallelen und Ursachen in Nigeria – sowie den Hinweis auf unsere ausführliche Materialsammlung zu dieser Bewegung vom 21. Oktober 2020:

„Nigerias Polizei geht gegen Protestierende vor“ am 22. Oktober 2020 in nd online externer Link meldet zum „Lekki-Massaker“ in eher zurückhaltenden Formulierungen: „… »Amnesty International hat glaubwürdige, aber verstörende Hinweise auf exzessive Gewaltanwendung erhalten, die zum Tode von Demonstranten an der Lekki-Mautstelle in Lagos führten«, schrieb die Menschenrechtsorganisation im Kurznachrichtendienst Twitter zu dem nächtlichen Vorfall an der Mautstelle. Dort hatten sich Demonstranten geweigert, sie zu verlassen und die Sperrstunde einzuhalten. Die Behörden hatten nach Krawallen vor einem Polizeirevier am Dienstag eine 24-stündige Ausgangssperre in der größten Stadt des westafrikanischen Staates und deren Umland verhängt. Auch im Bundesstaat Edo wurde eine Ausgangssperre verhängt, nachdem Demonstranten in der Stadt Benin in ein Gefängnis eingebrochen waren. Nach Angaben der dortigen Behörden hatten sie dabei 1993 Häftlinge befreit...“

„Violences policières : affrontements à Lagos, Ibadan, Ebonyi, Mushin, Bénin city, Abia“ am 21. Oktober 2020 bei Anthropologie du Présent externer Link ist eine – sehr ausführliche und mit Videoberichten und Fotos ergänzte – Materialsammlung über die Proteste vor allem am Mittwoch und vor allem auch außerhalb der Hauptstadt Lagos, was den landesweiten Charakter der Bewegung sehr deutlich macht.

„Nigeria president warns protesters; fails to address shooting“ am 22. Oktober 2020 bei Al Jazeera externer Link meldet zur Fernsehansprache des Präsidenten dass er sich auf Drohungen gegen die Demostrationen beschränkt habe – sie gefährden seine nationale Sicherheit. Zum Lekki-Massaker beispielsweise sagte er – nichts…

„Déjà-vu in Nigeria“ von Wole Soyinka am 21. Oktober 2020 in der taz online externer Link dokumentiert, ist ein Essay des Literatur-Nobelpreisträgers, worin er unter anderem hervor hebt: „… Diese Jugend hat frisches Blut in müde Venen gepumpt. Was für ein Segen, in dieser Zeit am Leben zu sein und mitzuerleben, wie die Jugend endlich beginnt, ihre Zukunft in die Hand zu nehmen. Aber – und waren wir hier nicht schon einmal? – plötzlich, über Nacht, veränderte sich alles. Die Staatssicherheitsdienste – wer genau, müssen wir erst noch herausfinden – karrten Schläger heran, um die Proteste aufzulösen. Die Videos sind da, glitzernde Konvois mit verdeckten Nummernschildern, die Schläger und Verbrecher einsammeln und dann ausspucken, um die friedlichen Proteste zu brechen. Die Söldner zündeten die Autos der Protestierenden an, mit Knüppeln und Macheten gingen sie auf die versammelten Jugendlichen los, sie stürmten mindestens ein Gefängnis und ließen die Insassen frei. Manche dieser Vandalen, wie wir inzwischen wissen, waren selbst Häftlinge, die man angeheuert hat und die man vermutlich nicht nur mit Geld bezahlt hat. Die Opferzahlen stiegen erst sporadisch und gipfelten schließlich vergangene Nacht in der Tötung einer noch unbekannten Anzahl von Protestierenden in einem Stadtteil von Lagos namens Lekki. (…) Die Regierung muss unbedingt begreifen, dass im Dämonenalbum der Protestierenden jetzt die Armee den Platz von SARS eingenommen hat. Soweit ich bislang feststellen konnte, hat der Gouverneur von Lagos die Armee nicht eingeladen, er beschwerte sich nicht über einen Zusammenbruch von Recht und Ordnung. Dennoch agierte der Zentralstaat autoritär und hat dem Gemeinschaftsgeist eine kaum heilbare Wunde zugefügt. Muss ich hinzufügen, dass ich bei der Ankunft in meiner Heimatstadt Abeokuta erneut eine Straßensperre passieren musste? Es ging glimpflich ab. Ich hatte es erwartet, und sicherlich werden weitere errichtet, während ich dies schreibe. Manche behaupten, die anhaltenden Proteste würden der Wirtschaft schaden und so weiter. Das ist albern und fantasielos. Covid-19 zermürbt die nigerianische Wirtschaft, oder was davon existiert, seit acht Monaten. Covid kann man natürlich nicht einfach mit Gewehrkugeln zu Boden bringen – Menschenleben sind ein leichteres Ziel, und es lassen sich sogar Trophäen als Siegesbeweis zur Schau stellen, wie die blutgetränkte nigerianische Flagge, die eines der Opfer schwenkte, als er ermordet wurde. Die Gouverneure im ganzen Land müssen eines sofort machen: den Abzug der Soldaten fordern. Beruft unverzüglich Bürgerversammlungen ein. Ganztägige Ausgangssperren sind keine Lösung. Übernehmt die Sicherheit eurer Bürger mit den Ressourcen, die ihr zur Verfügung habt. Organisiert lokale Ordnungskräfte gegen die Infiltration von Hooligans und gegen den erpresserischen und zerstörerischen Opportunismus. Wir trauern mit den Hinterbliebenen und drängen die Bundesstaaten zu materieller Entschädigung. Um Heilung einzuleiten – dürfen wir davon ausgehen, dass dies gewünscht ist? –, muss die Armee sich entschuldigen, nicht nur bei der Nation, sondern bei der gesamten Welt. Die Fakten sind unstrittig. Ihr, das Militär, habt das Feuer auf unbewaffnete Zivilisten eröffnet. Es muss Wiedergutmachung geben und es muss gesichert sein, dass solche Irrungen nicht wieder vorkommen...“

„Nigeria: End Excessive Force Against Protesters“ am 22. Oktober 2020 bei Human Rights Watch externer Link ist der gemeinsame Appell zahlreicher Menschenrechtsorganisationen an die Regierung Nigerias, die Unterdrückung der Protestbewegung sofort zu beenden.

„NLC CONDEMNS THE LEKKI TOLL GATE KILLINGS“ am 22. Oktober 2020 beim Nigeria Labour Congress externer Link ist die (zwar späte, aber immerhin) Solidaritätserklärung des Gewerkschaftsbundes mit den Anti-Polizeiprotesten im ganzen Land – wobei der Schwerpunkt der Kritik an der Regierung auf das „Lekki-Massaker“ gelegt wird.

„Unions in solidarity with youth protests to stop police brutality in Nigeria“ am 22. Oktober 2020 bei IndustriAll externer Link dokumentiert die Solidaritätserklärungen jener Einzelgewerkschaften in Nigeria, die der internationalen Föderation angeschlossen sind.

„The colonial enterprise hard-baked violence in Nigeria: how it can be fixed“ am 19. Oktober 2020 bei The Conversation externer Link ist ein ausgesprochen lesenswerter Beitrag über Kontinuitäten der Repression in Nigeria – seitdem die britischen Unternehmen im Rahmen ihrer Kolonialdiktatur mit ihren sogenannten Sicherheitskräften aktiv wurden…

Am heutigen Freitag, 23.10. findet in Köln am Roncalliplatz zwischen 16 und 19 Uhr  eine Mahnwache satt – siehe den Aufruf auf Twitter externer Link – für andere Städte siehe #standwithnigeria – und für News #EndSARS #EndSWAT

„Revolution in Nigeria“ vom 22. Oktober 2020 ist ein per Email verbreiteter Solidaritäts-Aufruf aus Stuttgart, den wir hiermit dokumentieren:
Seit Oktober 2020 demonstrieren hunderttausende in den Städten Nigerias gegen Polizeigewalt. Die Spezialeinheit für Raubüberfälle (SARS) geht seit Jahren gewaltvoll gegen die Bevölkerung vor. Bereits 2018 gab es eine Umbenennung in Folge von Protesten aber faktisch keine Konsequenz. Bei den Massenprotesten spielen vor allem Frauen eine entscheidende Rolle. Seit Anfang dieser Woche gehen Militär und Polizei brutal gegen die Proteste #endSARS vor. Dabei starben über 70 Demonstrant*innen durch Militär- und Polizeigewalt. Wir fordern: Das Ende von Korruption und gewaltvollem, willkürlichem Vorgehen innerhalb von Polizei und Staat! Die Umverteilung von Reichtum innerhalb der Gesellschaft! Den Rückzug der Militäreinheiten aus den Städten! Die Bewegung #endSARS ist verbreitet in ganz Nigeria. Ein Grund warum sich so viele mit dem Protest identifizieren und solidarisieren ist, dass jede und jeder in Nigeria eine persönliche Geschichte zu Polzeigewalt hat. Entweder man kennt eine Familie oder ein eigenes Familienmitglied oder Freund ist unrechtmäßig inhaftiert oder auf offener Straße erschossen worden. Den Protesten gehen jahrelange, alltägliche Unsicherheit vor raus; Für viele zählt die Angst vor ungerechtfertigter und willkürlicher Gewalt zu ihren persönlichen Fluchtgründen. Die Nigerianische Community ruft zur Solidaritätsdemonstration in Stuttgart auf: 14 Uhr Kundgebung auf dem Marienplatz in Stuttgart, ab 15 Uhr Demo mit Zwischenkundgebungen über den Rotebühlplatz (15:30 Uhr) zum Karlsplatz (17 Uhr). Seid dabei, informiert und solidarisiert Euch gegen staatliche Gewalt in jedem Land!
KONTAKT: Flüchtlinge für Flüchtlinge externer Link (Refugees4Refugees), Selbstorganisierte Beratungsstelle von und für Gefluchtete in Stuttgart

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=180008
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