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„Wieder einer ihrer Leute“: Der neue Regierungschef im Libanon wird mit massenhaftem Protest empfangen – wie auch sein Besucher, Waffenlieferant Macron

Auch bei den Protesten im Libanon spielen die Frauen eine zentrale Rolle, hier im November 2019 in Beirut„… Der bisherige libanesische Botschafter in Deutschland, Mustapha Adib-Abdul-Wahed, soll neuer Regierungschef im Libanon werden. Bei parlamentarischen Konsultationen am Montag stimmte die Mehrheit der Abgeordneten für Adib, Präsident Michel Aoun betraute ihn mit der Bildung eines neuen Kabinetts. Der 48-Jährige ist seit 2013 Botschafter in Berlin. Er ist promovierter Rechts- und Politikwissenschaftler und war bereits Chefberater unter dem ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten und zweifachen Milliardär Nadschib Mikati. Es ist bereits die zweite Regierungsbildung im Libanon innerhalb eines Jahres. Der momentan geschäftsführende Regierungschef Hassan Diab war wenige Tage nach der Explosion von Tausenden Tonnen Ammoniumnitrat in Beirut zurückgetreten. Diab selbst war erst seit Januar im Amt; er folgte auf den Milliardär Saad Hariri, der als Reaktion auf Massenproteste im Oktober 2019 zurückgetreten war. Seit Oktober vergangenen Jahres befindet sich der Libanon in einer Wirtschafts-, Finanz- und Politikkrise. Viele Libanes*innen vertrauen ihren Politikern und Regierungen nicht. Sie bezichtigen sie, trotz unterschiedlicher Parteien zu einer politischen Klasse zu gehören, die das Land durch Korruption und Missmanagement in den Staatsbankrott geführt hat…“ – aus dem Beitrag „Auf Diab folgt Adib“ von Julia Neumann am 31. August 2020 in der taz online externer Link – woraus schon deutlich wird, dass auch diese neue „Wahl“ – angesichts des skizzierten Lebenslaufes – eine aus dem alten Personalbestand ist, weswegen die erneuten Proteste nun wahrlich keine Überraschung sind… Zum Protest, sowohl gegen den neuen Regierungschef, als auch gegen seinen Besucher einige aktuelle (Video) Berichte, ein Bericht zur reaktionären Gegenmobilisierung und zwei Hintergrundbeiträge zur gesamten politischen Situation, sowie der Hinweis auf den bisher letzten unserer zahlreichen Beiträge zu den Auseinandersetzungen im Libanon:

„EU-Mann in Beirut“ von Karin Leukefeld am 02. September 2020 in der jungen welt externer Link zu den mehr als eindeutigen „Wählern“ des neuen Ministerpräsidenten im In- und Ausland unter anderem: „… Monat nach der Explosion im Hafen von Beirut am 4. August und nur drei Wochen nach dem Rücktritt der Regierung von Hassan Diab am 10. August hat der libanesische Präsident Michel Aoun den Diplomaten Mustapha Adib mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Dessen Wahl war möglich geworden, weil er als langjähriger libanesischer Botschafter in Berlin nicht nur die Rückendeckung Deutschlands, sondern auch die des französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat. Adib ist mit einer Französin verheiratet, studierte und promovierte in Rechtswissenschaften und internationaler Politik in Frankreich. Die zwei europäischen Schwergewichte haben seither ihren Führungsanspruch im Zedernstaat mit politischen Auftritten in den Trümmern des Hafens und mit großen Geldzusagen deutlich gemacht. Bei seinem zweiten Besuch im Libanon am Dienstag stellte Macron eine weitere Geberkonferenz in Aussicht, allerdings nur, wenn es bis Oktober »Reformbemühungen« gebe. Mit Adib haben Berlin und Paris nun einen Mann in Beirut, der ihren Plänen nicht im Wege sein wird. (…) Nicht nur haben die Fraktionen im Parlament mehrheitlich für Adib gestimmt, dem verschiedene ehemalige Ministerpräsidenten ihre Unterstützung zusagten. Auch hatte der einflussreiche Vorsitzende der libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah, am Sonntag seine Zuversicht ausgedrückt, dass die Abgeordneten erfolgreich einen Kandidaten für die Regierungsführung wählen würden…“

„Frankreichs kolonialer Schatten“ von Rudolf Balmer am 30. August 2020 in der taz online externer Link unter anderem zu libanesischen Reaktionen in Frankreich auf Macrons erneuten Besuch: „… Seit der Explosion treffen sich einige hundert ExillibanesInnen regelmäßig auf dem Victor-Hugo-Platz in Paris zu Protestkundgebungen. Sie singen ihre Nationalhymne, aber auch die Marseillaise in der Hoffnung auf das „Mutterland“, als das viele Frankreich aufgrund der eng verknüpften Geschichte betrachten. Ebenso eng verbunden sind für die Demonstrierenden Trauer und Wut. Ob auch der libanesische Botschafter Rami Adwan in seiner wenige Schritte entfernten Residenz die Rufe der Protestierenden hört? Auf einem Schild wird der 44-Jährige, ein ehemaliger Studienkollege Macrons an der französischen Kaderschmiede ENA, als „Repräsentant eines kriminellen Systems“ aufgefordert, auf sein Amt zu verzichten, wenn er nicht „zum Komplizen des Verbrechens“ werden wolle. „Wir sind hier aus Empörung über die verkommenen Politiker, die seit Jahrzehnten das Leben der Libanesen verderben“, erklärt der in Frankreich praktizierende Kardiologe Elian Sarkis. „Wir wollen den Rücktritt des Botschafters, weil er nicht das Volk repräsentiert, sondern nur General Aoun.“ Dass nach der libanesischen Regierung auch Präsident Michel Aoun oder der Botschafter freiwillig der „Einladung“ abzutreten Folge leisten werden, glaubt Sarkis indes nicht. Dazu brauche es den „Druck der Bürger auf den Straßen“…“

„Le président des capitalistes français a été accueilli par les jeunes révoltés libanais aujourd’hui“ am 01. September 2020 im Twitter-Kanal von Autonomie Ouvrière externer Link ist einer der zahlreichen Videoberichte von den Demonstrationen in Beirut gegen den Macron-Besuch, die deutlich machen, dass auch dieses Mal das Willkommen, das europäische Medien in der Regel zwangshaft zu verbreiten suchen, nicht einhellig war – sondern, ganz im Gegenteil, die Proteste groß.

„Another video from one of the entrances of the parliament – protestors throw rocks, metal pieces at security forces. Security throws more teargas“ am 01. September 2020 im Twitter-Kanal von Luna Safwan externer Link ist ebenfalls ein Videobericht – hier von der Demonstration gegen den neuen Regierungschef vor dem Parlament (mit Einsatz von Tränengas, natürlich „Made in France“) – und auch hierbei waren sowohl Masse als auch Militanz zu registrieren.

„Hezbollah/Amal supporters holding Shia religious banners vandalize a stage/screen/speakers“ am 30. August 2020 im Twitter-Kanal von Timour Azhari externer Link ebenfalls ein Videobericht, der deutlich macht, dass nicht nur die Regierung (deren wesentliche Reaktion auf die Explosion in der Verhängung des Ausnahmezustandes bestand, siehe dazu unseren Verweis am Ende dieses Beitrags) gegen die Proteste vorgeht, sondern eben auch die reaktionären Milizen – hier mit einem Überfall auf einen Kundgebungsort.

„Libanon: Die Bombe wird nicht aufhören zu explodieren“ am 01. September 2020 bei Enough is Enough externer Link ist die Übersetzung eines Beitrags von Tarek Abi Samra (genauere Angaben zur Publikation einleitend im Text), worin es unter vielem anderen heißt: „… Es war eine alptraumhafte Woche, in der unsere zerbrochenen Seelen nicht nur unter dem Schock der Katastrophe zusammenbrachen, sondern auch – und das glaube ich ganz besonders – durch die Tatsache, dass diese Katastrophe eine Erinnerung und eine Prophezeiung zugleich ist. Ja, wir alle haben die Explosion vor Jahren gehört, wir haben sie am 4. August 2020 gehört, und unsere Enkelkinder werden sie in Zukunft hören, wenn wir bis dahin nicht aufgehört haben zu existieren. Ich werde den Quatsch mit der „konsensualen Demokratie“ oder dem “ sektiererischen Tribalismus“ beiseite lassen: Sie regieren uns, indem sie uns auf eine Bombe setzen, die jederzeit explodieren kann, auch wenn diese Bombe schon viele Male explodiert ist und immer wieder explodieren wird. Entweder wir oder die Explosion: So regieren sie uns. Ganz einfach. Wenn sie einmal aufrichtig gewesen wären, hätten sie uns gesagt: Wir wollen dominieren, plündern, töten, genießen und uns gegenseitig umbringen, und wenn ihr versucht, euch zu widersetzen, werden wir das ganze Land in die Luft jagen, obwohl wir es bereits in die Luft gejagt haben und fast nichts mehr davon übrig ist. Wir alle wissen das, und wir vergessen es nicht, aber wir spüren es nicht jeden Tag in diesem offenen Terror, der durch unsere Körper fließt. Der Geist erinnert uns immer wieder an die Wahrheit, aber der Körper vergisst sie. Oder er versinkt in Verleugnung. Er hat nicht die Ausdauer des Geistes. Erst dann fand diese Explosion statt, die die Erinnerung der Körper wiederbelebt hat, und unserer Körper erinnerte sich, erinnerte sich an die Art dieser Diät, die der Geist nie vergessen hat. Denn das im Libanon herrschende Regime ist nichts anderes als dieser Terror, der jetzt unsere Eingeweide auffrisst. Die Explosion vom 4. August ist schon allein deshalb unglaublich, weil sie ganz normal ist…“

„»Die Revolution aus dem Schoße der Trauer?«“ von Miriam Younes am 17. August 2020 in analyse&kritik externer Link (Ausgabe 662) zu den Schwächen der Protestbewegung unter anderem: „… Und dennoch – etwas ist zu Ende gegangen, sowohl am 17. Oktober und in den Monaten danach als auch nun erneut seit dem 4. August. Nach dem ersten Schock und dem schrittweisen Verstehen dessen, was an diesem Tag passiert ist, stauen sich auf den Straßen Beiruts Trauer und Wut auf, seit dem 8. August kommt es täglich zu Protesten, in denen zu Rechenschaft und Verantwortlichkeit der jeweiligen Politiker*innen aufgerufen wird. Die Sicherheitskräfte reagieren mit unverhältnismäßiger Gewalt, unverhältnismäßig vor allem angesichts des Ausmaßes an Verlust und Zerstörung, den die Explosion zurückgelassen hat. Die Protestbewegung, die »thawra«, ist nach Monaten relativen Stillstands zurück, in Schock, Rage und Trauer, und mit dem erklärten Ziel, dass es dieses Mal zu einem klaren Wandel und zu einem Umsturz kommen muss. Dennoch und trotz dieses klaren Ziels, scheint der Weg zu diesem ersehnten Wandel ein weiterhin langer, beschwerlicher und schwer definierbarer. Die Schwäche der libanesischen Protestbewegung im Hinblick auf politische Programmatik und politische Organisation wird von vielen Beobachter*innen und auch von Menschen in der Bewegung selbst immer wieder kritisiert. Zukunftsweisende Fragen von politisch-ideologischer Verortung innerhalb und außerhalb des Libanon, längerfristigen politischen Visionen und möglichen Organisationsformen sind hier ebenso ungeklärt wie momentane Forderungen im Hinblick auf die politischen Schritte der nächsten Monate, sei es, was die Frage nach möglichen Neuwahlen angeht oder die Frage nach einer internationalen oder nationalen Untersuchung der Explosion vom 4. August. Diese Schwäche ist angesichts der politischen und wirtschaftlichen Umstände, in denen die Bewegung agiert, durchaus verständlich und von Teilen der Protestbewegung auch gewollt. Und dennoch: Die momentane Protestbewegung ist die einzige Hoffnung, die der Libanon in der jetzigen Situation hat..“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=177531
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