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Kolumbianische Militärpolizei mordet weiter: Massenproteste jetzt im ganzen Land – sie töten mit Tasern, sie töten mit dem Gewehr. Und können die Proteste dennoch nicht aufhalten

Proteste in Kolumbiens Hauptstadt, nachdem die Welle an Polizeimorden sie erreicht hat - September 2020Während die Regierung Kolumbiens versucht, die wachsende Zahl jener Menschen zu beruhigen, die gegen die hemmungslose Gewaltorgie der Militärpolizei protestieren – in dem sie eine unabhängige Untersuchung ankündigt, indem der Präsident die Bestrafung der „Taser-Killer“ fordert – lässt sie in Wirklichkeit Polizeitruppen quer durchs Land verlegen, um die Proteste mit Repression zu unterdrücken. Während es trotz der wachsenden Zahl von Todesopfern – deutlich mehr, als sagen wir, in Belarus – keine internationalen Reaktionen (außer starker Solidarität sozialer Bewegungen und linker Organisationen) gibt, gibt es umso mehr Reaktionen im Land selbst: Spätestens, allerspätestens seit Freitagabend, aber zunehmend auch schon in den Tagen davor haben sich die Proteste über das ganze Land ausgebreitet – auch etwa in Medellin, Bucamaranga oder Villavivencio und an vielen weiteren Orten gab es massive Proteste, die sich von brutaler Repression allüberall weder einschüchtern noch verhindern lassen. Proteste gegen einen Polizeiterror, der viel größere Ausmaße hat, als den tragischen Tod eines Mannes, der eher per Zufall in die polizeiliche Todesmaschine geraten war. Die Kooperation der Behörden mit paramilitärischen Banden hat dieses Jahr bereits 55 Todesopfer von Aktiven sozialer Bewegungen gefordert, in erster Linie in eher entlegenen Regionen (oft genug auch Fokus indigenen Widerstandes) und gegenüber Ex-Guerillas der FARC, nachdem die Regierung Duque den Friedensprozess faktisch beendet hat. Zu den anhalten Protesten gegen die mörderische Staatsgewalt in Kolumbien eine aktuelle Materialsammlung vom 13. September 2020 – und der Hinweis auf unseren ersten Beitrag vom 11. September:

„Tod in der Hand der Polizei“ von Katharina Wojczenko am 11. September 2020 in der taz online externer Link fasste die Proteste bis Freitag so zusammen, inklusive der erwartbaren Versuche der Bürgermeisterin, zu befrieden: „… Seit am Mittwoch das Video bekannt wurde, kommt Bogotá nicht zur Ruhe. Hunderte sind auf die Straße gegangen, um gegen Polizeigewalt zu protestieren. Der erst friedliche Protest kippte teilweise in Vandalismus um. Auf manchen Bildern erinnert die Stadt an ein Inferno. Busse wurden angezündet, Fenster an Banken eingeschlagen und Geschäfte geplündert. Mindestens ein Drittel aller Polizeiwachen ist in Flammen aufgegangen. Spätnachts kreisen Hubschrauber, Krankenwagensirenen ertönen. In Bogotá und der Nachbarstadt Soacha sind bei den Protesten mindestens zehn Menschen gestorben, die meisten an Schussverletzungen, alle unter 30 Jahre, darunter ein Minderjähriger. Mehr als 400 Menschen wurden verletzt, darunter auch Polizisten. „Wir verurteilen die Polizeigewalt, aber gleichzeitig verurteilen wir auch den Vandalismus von einigen Demonstranten“, sagte Bogotás Bürgermeisterin Claudia López. Sie hat Ordóñez’ Angehörigen Rechtsbeistand angeboten und fordert eine Polizeireform. Es hat sich einiges angestaut. „Es geht nicht nur um Javier Ordóñez“, sagt Juanita Moreno (Name geändert). „Es geht auch um das, weshalb wir seit November protestiert hatten, bis die Pandemie uns stoppte.“ Zum Beispiel die mangelhafte Umsetzung des Friedensabkommens, die Morde an den Bürgerrechtler*innen und die jüngste Massaker-Welle, bei der vor allem Jugendliche ermordet wurden. Das Gefühl, dass der Staat einen im Stich lässt und seine Macht missbraucht...“

„Kolumbien ist zu einem großen Friedhof geworden“ am 10. September 2020 beim Kolumbien-Info externer Link bewertet die Zusammenhänge der zahlreichen „Todesfälle“ quer durchs Land unter anderem so: „… Eine neue Welle der Gewalt und Massaker hat Kolumbien fest in seiner Hand. Junge Menschen, Bauern, Linke und Andersdenkende sind diese Opfer der „kollektiven Morde“, wie Präsident Duque die Massaker und die systematische Auslöschung der Opposition beschönigt. Das Wort Massaker vermeidet er, obwohl die taten genau das sind. Sie erinnern an die schlimmen Jahrzehnte, als Kolumbien inmitten des Bürgerkrieges stand und paramilitärischer Terror alltäglich war. Schon nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages zeichnete sich ab, dass außer der ehemaligen aufständischen Bewegung FARC und den einfachen Menschen des Landes, die ehemals herrschende Clique und Oligarchie kein Interesse an Frieden, Fortschritt und Veränderungen haben. Es begann, wie damals in den 1980er Jahren mit der linken Partei Unión Patriótica, ein systematisches Morden von ehemaligen Guerillakämpfern und linken oppositionellen. Diametral dazu stand kein Interesse des Staates für Sicherheit zu sorgen, geschwiege denn das Friedensabkommen umzusetzen. Nun schellen die Alarmglocken. In den zurückliegenden Wochen häufen sich die Massaker in allen Regionen des Landes, vor allem jedoch dort, wo sich die ehemalige FARC-EP nach ihrer Waffenniederlegung und dem Friedensprozess zurückgezogen hat und wo nun paramilitärische Strukturen das Vakuum füllen. Auch wenn die Urheber der Massaker nicht immer gleich zu benennen sind, Regionen wie Antioquia oder Bolívar stehen klar unter ihrem Einfluss. Es scheint, dass in Kolumbien nicht nur die Pandemie herrscht, sondern auch die Massaker, die immer wiederkehrender werden. Warum nun diese Welle immer tödlicher und blutiger wird, lässt sich nur schwer sagen. Es sind sicherlich mehrere Faktoren, die dafür verantwortlich sind. Zum einen ist da das Nichtagieren des Staates und seine nicht vorhandene Verfolgung der Taten und fehlende Schutzmechanismen. Paramilitärische Gruppen, gedeckelt und unterstützt von rechten Politikern, Großgrundbesitzern, Wirtschaftsunternehmen und teilweise auch durch die staatlichen Sicherheitskräfte, fühlen sich sicher in ihrem Treiben ermuntert…“

 „Con pistola taser en Bogotá y con fusil en Cauca, gobierno asesina la esperanza de paz de los colombianos“ am 10. September 2020 bei ClajaDep-LaHaine externer Link dokumentiert, ist eine Erklärung des Consejo Regional Indígena del Cauca Colombia der die (besonders zahlreichen) Morde an Indigenen im Cauca und die aktuellen Polizeimorde in Bogota und anderen Städten zusammen als Kriegserklärung an alles, was oppositionell ist bewertet.

„Violence policière, la police tue un avocat“ am 12. September 2020 bei Anthropologie du Présent externer Link ist eine ausführliche (v.a. spanische und französische) Dokumentation von Berichten über die Proteste in allen großen Städten Kolumbiens.

„Movilización contra el genocidio y la brutalidad policial en Bucaramanga“ am 10. September 2020 bei Colombia Informa externer Link berichtet ausführlich in Form einer Foto-Dokumentation vom Beginn der Proteste in Bucaramanga am Donnerstag, wobei insbesondere sehr viele Studierende der Universidad Industrial sich beteiligten

„Así han sido las movilizaciones en Medellín“ am 12. September 2020 ebenfalls bei Colombia Informa externer Link ist ebenfalls eine Fotodokumentation – hier, zwei Tage später als in Bucaramanga, der Beginn der Massenproteste (kleinere hatte es auch schon zuvor gegeben) in Medellin.

„El pueblo colombiano se levanta y grita: ¡La rebelión se justifica!“ am 12. September 2020 bei El Comunero externer Link berichtet insbesondere von den landesweiten Aktionen gegen die CAI (Comando de Acción Inmediata de la policía), von denen nun schon so viele abgebrannt sind, dass es für die Demokratie in Kolumbien besser aussieht als vorher. Die Autoren unterstreichen dabei – auch in Konfrontation etwa mit jenen Strömungen des „Vermittelns“, wie sie von der Bürgermeisterin von Bogota vertreten werden (die „natürlich“ trotzdem von der Rechten wegen mangelnder Brutalität angegiftet werden) – einen alten Satz (den die Linke an der Macht oft genug selbst vergisst) – „Rebellion ist gerechtfertigt“…

„Policía en Colombia: por qué es militar y no civil (y qué tiene que ver con las demandas de las recientes protestas)“ von Danniel Pardo am 11. September 2020 bei ClahaDep-LaHaine externer Link (ursprünglich im spanischen Dienst der BBC) erklärt, warum in Kolumbien (wie etwa auch in Brasilien) die Polizei eine militärische Einrichtung ist – und was dies mit den aktuellen Protesten zu tun habe. Wobei insgesamt unterstrichen wird, dass es zwar auch in anderen Ländern militarisierte Polizei gebe, dass es aber vermutlich kein anderes Land gebe, in dem die Polizei so oft militärische Aufgaben übernommen habe – und die Armee polizeiliche…

„The Uprising in Colombia: “An Example of What Is to Come“ am 11. September 2020 bei Crimethinc externer Link ist ein Interview mit einem Aktivisten über die aktuellen Proteste und ihre Perspektiven, das in die Entwicklung seit den Massenprotesten im letzten Herbst eingebettet ist – und eben ausführlich die Vorgeschichte der aktuellen Proteste behandelt – weswegen die Schlussfolgerung dann auch ist, dies sei nur der Anfang der Dinge, die da kommen…

„Zwei Jahre Duque: Soziale Organisationen in Kolumbien ziehen verheerende Bilanz“ von Adriano Gomez-Bantel am 12. September 2020 bei amerika21.de externer Link befasst sich mit den „sozialen Voraussetzungen“ der aktuellen Proteste: „… Mehr als 500 soziale Organisationen haben einen detaillierten Bericht über die bisherigen zwei Amtsjahre des kolumbianischen Präsidenten Iván Duque vorgelegt, in dem das Management des Präsidenten und seiner Regierung evaluiert wird. Der Titel der Bestandsaufnahme lautet: „Die schlechte Regierungsführung des Lehrlings ‒ Autoritarismus, Krieg und Pandemie“. Die wichtigsten Schlussfolgerungen des Berichts sind, dass die Misswirtschaft in Kolumbien nicht verringert wurde und die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten sich verschärft haben. Auch der Umgang mit der Covid-19-Pandemie wird kritisch beurteilt. Rund 60 Milliarden US-Dollar seien an Kreditgarantien für das Finanzsystem vorgesehen, dem Gesundheitsministerium und dem Nationalen Gesundheitsinstitut wurden jedoch nur knapp 960 Millionen US-Dollar zugewiesen. Auch die staatlichen Hilfen an Klein- und Kleinstunternehmen seien ungenügend gewesen, sodass viele Menschen existenziell bedroht sind. Zudem liege es in der Verantwortung des Präsidenten, dass während der Corona-Pandemie der Autoritarismus der Regierung zugenommen habe. Neben weiteren Kritikpunkten ist auch der Frieden ein wichtiges Themenfeld der Analyse: Unter Duque hätten sich innerstaatliche bewaffnete Konflikte und Verbrechen gegen soziale Führungspersönlichkeiten vermehrt. Dem Präsidenten wird vorgehalten, das Friedensabkommen mit der demobilisierten Guerillaorganisation Farc-EP ausgehebelt und die Gespräche mit der ELN-Guerilla beendet zu haben. Die Konflikte seien verschärft worden. Nur zwei Tage vor der Veröffentlichung des Berichts fanden landesweite Gewerkschaftsproteste statt. Die Demonstrationen richteten sich gegen die Ende August erlassene regressive Arbeits- und Rentenreform, die Wiederaufnahme des Unterrichts an Schulen ohne Sicherheitskonzept inmitten der Pandemie und die staatliche Unterstützung der Fluggesellschaft Avianca mit einem Darlehen über 370 Millionen US-Dollar...“

„Declaración de uniamericas ante los hechos violentos en Colombia“ am 11. September 2020 im Twitter-Kanal der UNEB externer Link (Bankgewerkschaft in Kolumbien) dokumentiert die Protesterklärung der südamerikanischen Föderation der Dienstleistungsgewerkschaften, in der Polizei und Regierung ungewöhnlich scharf kritisiert werden…

„Lucha de voces“ externer Link ist einer der (sehr zahlreichen) Twitter-Kanäle aus Kolumbien, in denen die jeweils aktuellen Meldungen zu Protest und Repressionsversuchen gemeldet werden.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=177967
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