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„Britannia ist nicht „entfesselt““: Erstaunlich scharfe Kritik der „Financial Times“ und der „FAZ“ an den wirtschaftspolitischen Plänen von Liz Truss

Aufkleber der Don't Pay Energy Bills Kampagne in GroßbritannienIn Großbritannien übernahm die neue Parteichefin der Tories, die 47jährige Liz Truss, am 6. September 2022 den Posten des Premierministers von Boris Johnson und viele Beobachter befürchten, nach den entsprechenden Aussagen der neuen Mieterin Downing Street 10 ein Revival des Thatcherismus, mit dem sie Inflation, Rezession und die beachtliche Streikbewegung diverser Sektoren der Working Class auf der Insel bekämpfen will. Da dürfte interessant sein, wie die „Financial Times“, das Sprachrohr des (britischen und internationalen) Finanzkapitals, diese Pläne beurteilt. Manch einen mag es überraschen, dass ausgerechnet dieses großbürgerliche Blatt davon wenig begeistert ist. Im Folgenden als ein Beispiel die scharfe Polemik eines der führenden „FT“-Kommentatoren Martin Wolf vom 20.9.2022. (…) Es ist unschwer zu erkennen, dass die Stimme des Finanzplatzes London, für mehr Keynesianismus und weniger Neoliberalismus eintritt, ohne deshalb gleich auf die im Zuge der neoliberalen Strukturreformen und veränderten Unternehmensstrategien in der Arbeitswelt verschärfte Ausbeutung und Standortkonkurrenz zu verzichten…“ Aus dem Vorwort des Gewerkschaftsforums Hannover zur dankenswerten Übersetzung – und ein weiterer Beitrag zum Ende der kurzen Truss-Regierung:

  • Chaos in Großbritannien: Truss hinterlässt ein enorm armes, verschuldetes und wirtschaftlich instabiles Land – Johnson hofft auf ComebackNew

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Vorwort des Gewerkschaftsforums Hannover

In Großbritannien übernahm die neue Parteichefin der Tories, die 47jährige Liz Truss, am 6. September 2022 den Posten des Premierministers von Boris Johnson und viele Beobachter befürchten, nach den entsprechenden Aussagen der neuen Mieterin Downing Street 10 ein Revival des Thatcherismus, mit dem sie Inflation, Rezession und die beachtliche Streikbewegung diverser Sektoren der Working Class auf der Insel bekämpfen will.

Da dürfte interessant sein, wie die „Financial Times“ externer Link, das Sprachrohr des (britischen und internationalen) Finanzkapitals, diese Pläne beurteilt. Manch einen mag es überraschen, dass ausgerechnet dieses großbürgerliche Blatt davon wenig begeistert ist. Im Folgenden als ein Beispiel die scharfe Polemik eines der führenden „FT“-Kommentatoren Martin Wolf vom 20.9.2022.

Begleitend hat die „Financial Times“ in den letzten Tagen eine ganze Breitseite von Artikeln gegen die Truss-Pläne abgefeuert. So klärte sie ihre Leserschaft am 22. September 2022 darüber auf, dass – laut Meinungsumfrage – eine Mehrheit der Briten Steuererhöhungen und mehr Staatsausgaben wünscht: „Majority of Britons support tax rises and more spending, survey finds.“

Kein Wunder, denn – wie die „FT“ am heutigen 23.9.2022 meldete – ist das Verbrauchervertrauen im Vereinigten Königreich auf den niedrigsten Stand seit 1974 gefallen: „UK Consumer confidence falls to record low in September. Worst reading since 1974 comes as households struggle to cope with costs of living crises“.

Am 22. September 2022, kommentierte Rachel Reeves: „Trickle-down economics is no substitude for a growth plan. Truss and Kwarteng want to repeat a failed experiment.“ („Trickle-down-Wirtschaftspolitik ist kein Ersatz für einen wachstumsplan. Truss und Kwarteng wollen ein gescheitertes Experiment wiederholen.“)

Zur neoliberalen „Trickle-down“-Theorie, dass langfristig auch die Armen profitieren, wenn man zunächstmal die Reichen fördert, die von Ronald Reagan und Margaret Thatcher propagiert und praktiziert wurde, siehe auch:
https://de.wikipedia.org/wiki/Trickle-down-%C3%96konomie externer Link

Am 21. September 2022 z.B. lautete die kategorische Feststellung: „Trussonomics gamble does not have long to prove itself.“ („Trussonomics hat nicht lange Zeit, sich zu bewähren“), verbunden mit der skeptischen Frage: „Can the prime minister keep the promises made by her predecessor Boris Johnson in 2019?“ („Kann die Premierministerin die Versprechen ihres Vorgängers Boris Johnson im Jahr 2019 einhalten?“)

Am 22. September hieß es: „Will Kwarteng’s welfare move pay off for the Tories? Chancellor’s strategy to push people into work is fraught with problems, and new survey shows low-tax approach becoming unpopular.“  („Wird sich Kwartengs Wohlfahrtsaktion für die Tories auszahlen? Die Strategie des Schatzkanzlers, die Menschen in Arbeit zu bringen, ist problematisch, und eine neue Umfrage zeigt, dass der Ansatz der niedrigen Steuern unpopulär wird.“)

Es ist unschwer zu erkennen, dass die Stimme des Finanzplatzes London, für mehr Keynesianismus und weniger Neoliberalismus eintritt, ohne deshalb gleich auf die im Zuge der neoliberalen Strukturreformen und veränderten Unternehmensstrategien in der Arbeitswelt verschärfte Ausbeutung und Standortkonkurrenz zu verzichten. Außerdem war Mister Keynes imperialistischen Kriegen gegenüber durchaus nicht abgeneigt. Der Begriff „Kriegs-Keynesianismus“ ist kein Produkt kommunistischer „Hassrede“!

Übrigens steht die „Financial Times“ mit ihrer Position keineswegs allein da. Auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, das wichtigste Presseorgan der herrschenden Klasse in der BRD, bezeichnete die britischen Konservativen in einem Leitartikel am 8. September 2022 auf der Titelseite als „Ausgelaugte Tories“ und diagnostizierte: „Nun sucht Truss Inspiration bei Margaret Thatcher: niedrige Steuern, Wiederbelebung des britischen genius (vulgo: Unternehmergeist) und ein robuster Auftritt im Ausland. Für viele klingt das verzweifelt, ja nach letztem Aufgebot.“

Die ökonomische Lage und die kleinbürgerliche (zum Teil auch proletarische) Massenbasis hingegen erforderten jedoch etwas ganz anderes: „Die Bürger verlangen, auch weil sie sich daran gewöhnt haben, dass der Staat einspringt, wenn äußere Einflüsse ihren Lebensstandard gefährden oder sie in Armut stürzen. das geht nicht zusammen mit der klassischen Tory-Vision vom kleinen Staat und wird die neue Premierministerin schon bald als inkosistent dastehen lassen.“

Mit solidarischen Grüßen,  GEWERKSCHAFTSFORUM HANNOVER am 23.9.2022

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Die wirtschaftlichen Konsequenzen von Liz Truss

Es ist sicherlich ein Hirngespinst, dass weitere Steuersenkungen und Deregulierung die Leistung verändern werden

Martin Wolf („Financial Times“, 20. September 2022, Meinung)

Das Land kehrt zu einem normaleren Leben zurück. Aber so normal wird es nicht sein. Dafür wird Liz Truss sorgen.

Am Freitag wird Schatzkanzler Kwasi Kwarteng auf sein Energie-Notpaket ein Mini-Budget folgen lassen. Es wird erwartet, dass er die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge rückgängig macht und eine geplante Erhöhung der Körperschaftssteuer stoppt. Außerdem wird er ein jährliches Wachstumsziel von 2,5 % festlegen. Sollten wir das ernst nehmen? Nein und ja. Nein, denn die Vorstellung, dass die Regierung einer Marktwirtschaft ein Wachstumsziel erreichen kann, ist lächerlich. Ja, weil es die Politik leiten wird. Die Frage ist nur, ob dies zum Guten oder zum Schlechten sein wird. Ich tippe auf das Letztere.

Weder Hayek noch Friedman hätten ein Wachstumsziel überhaupt für sinnvoll gehalten. Das ist Planung. Hayek würde zu Recht darauf bestehen, dass wir weder das Wissen noch die Instrumente haben, um ein solches Ziel zu erreichen. In Britannia Unchained, das 2012 veröffentlicht wurde (zwei der Autoren waren Kwarteng und Truss), wurde Brasilien als Modell vorgeschlagen. Zehn Jahre später sieht das albern aus.

Ein Wachstumsziel ist nicht nur nicht umsetzbar, sondern eine Gefahr. Nehmen wir an, Kwarteng sagt dem Finanzministerium und dem Office for Budget Responsibility, dass sie in ihren Prognosen von diesem Ziel ausgehen müssen (falls sie überhaupt welche erstellen dürfen). Wenn er sich irrt, könnte die Verschlechterung der öffentlichen Finanzen eine Vertrauenskrise auslösen, wie es in den 1970er Jahren geschah. Er scheint solche Befürchtungen als bloßen „Managerismus“ abzutun.

Lassen wir also das Ziel beiseite und betrachten wir die Politik. Truss sagt, dass „die Wirtschaftsdebatte in den letzten 20 Jahren von Diskussionen über die Verteilung dominiert wurde“. Doch laut OECD hat das Vereinigte Königreich nach den USA die größte Ungleichheit bei der Verteilung des verfügbaren Haushaltseinkommens aller Länder mit hohem Einkommen. Auch die Sparpolitik von George Osborne nach der Krise hatte nichts mit „Verteilung“ zu tun. Ihr Blick auf die vergangene Debatte in Großbritannien ist ein Ablenkungsmanöver.

Wir müssen stattdessen erkennen, dass der Thatcherismus 40 Jahre später eine Zombie-Idee ist, und zwar aus zwei gegensätzlichen Gründen – sowohl was erreicht wurde als auch was nicht.

Thatcher hat die Arbeitsmärkte liberalisiert, die Gewerkschaften eingeschränkt, verstaatlichte Industrien privatisiert und die Spitzensteuersätze gesenkt. Ihre Politik (zu der auch die Förderung des EU-Binnenmarktes gehörte) sowie die der späteren Regierungen stärkte auch den Wettbewerb auf den Produktmärkten. Insgesamt ist das Vereinigte Königreich heute im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften mit hohem Einkommen ein Niedrigsteuerland. Es hat eine deregulierte Wirtschaft, in der die Erfolgreichen gut belohnt, die weniger Erfolgreichen aber bestraft werden. Diese Thatcher’schen Ziele sind heute Realität.

Was haben Thatcher und ihre Nachfolger also nicht erreicht? Sie haben die größte Verzerrung in der Wirtschaft, nämlich die Bodennutzung, nicht liberalisiert. Sie haben die Qualifikationen der Bevölkerung nicht verändert, was durch die Bedingungen, unter denen viele Kinder aufwachsen, erschwert wurde. Sie haben es versäumt, die Mängel in der Unternehmensführung zu beheben, die zu einer Verzerrung der Ausgaben gegenüber den Investitionen führen. Sie haben es zugelassen, dass die Suche nach Sicherheit in den Betriebsrenten die Portfolios von der Bereitstellung von Risikokapital für Unternehmen auf den Besitz von Staatsanleihen umgestellt hat. Dadurch wurden die Pläne faktisch zu staatlich gestützten Umlageverfahren.

Alles in allem hat sich die Wirtschaftsleistung nicht dauerhaft zum Besseren verändert. Im Jahr 2019 war die Produktion pro geleisteter Arbeitsstunde im Vereinigten Königreich im Vergleich zu Frankreich und Deutschland in etwa so hoch wie im Jahr 1979. Vor allem die Produktivität hat seit der Finanzkrise stagniert. Die Investitionen sind im Verhältnis zum BIP die niedrigsten aller großen Länder mit hohem Einkommen. Die Unternehmensinvestitionen sind seit dem Brexit-Referendum real unter ihrem Höchststand geblieben. Die vorangegangene Implosion des Finanzsektors unter der „Light Touch“-Regulierung hat nicht geholfen. Ebenso wenig wie die Sparmaßnahmen nach der Krise oder die Torheit des Brexit selbst. Allein die Unsicherheit ist schlecht für das Vertrauen und damit für die Investitionen.

Die Vorstellung, dass weitere Steuersenkungen und Deregulierung (wie die Aufhebung der Obergrenze für Banker-Boni) diese Entwicklung ändern werden, ist ein Hirngespinst. Was einfach ist, wurde bereits getan. Was noch übrig ist, ist schwer zu erreichen. Um ein Beispiel zu nennen: Höhere Investitionen erfordern höhere Ersparnisse. Woher sollen diese kommen? Hinzu kommen die komplexen Zusammenhänge von Klimawandel und Energie. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass sowohl eine bessere Wirtschaftsleistung als auch politische Stabilität von einer geringeren Ungleichheit abhängen, die nicht noch größer ist als die heutige.

Die Regierung Truss hat sich nicht nur Steuersenkungen und Deregulierung verschrieben. Sie deutet auch immer wieder die Möglichkeit eines Bruchs mit der EU über das Nordirland-Protokoll an, was auch einen Bruch mit den USA bedeuten würde. Dies würde das Vertrauen in die Redlichkeit des Vereinigten Königreichs untergraben, die Unsicherheit verstärken, beweisen, dass der Brexit noch nicht vollzogen ist, und den Eindruck erwecken, dass die Regierung nicht mit den Entscheidungen leben kann, die sie in ihrer eigenen Vorzeigepolitik getroffen hat. Zu allem Überfluss scheint Truss auch noch mit China brechen zu wollen. Ihr Großbritannien scheint entschlossen zu sein, keine Freunde zu haben.

Darüber hinaus haben die Tories ihre Mehrheit unter Boris Johnson mit dem Brexit, der Stärkung des NHS und der Angleichung ärmerer Gebiete gewonnen. Auf diese Weise schufen sie eine neue Koalition aus traditionellen Anhängern und ehemaligen Labour-Wählern. Heute ist der Brexit nicht vollzogen, der NHS steckt in der Krise und die Angleichung der Lebensverhältnisse scheint in Vergessenheit zu geraten. Gerade einmal 81.000 Mitglieder der Tory-Partei haben jemanden zur Premierministerin gewählt, der nicht einmal die erste Wahl ihrer gewählten Abgeordneten war. Sie hat kein Mandat für die Politik, die sie verfolgen will. Man kann sich kaum etwas vorstellen, das besser geeignet wäre, den heute weit verbreiteten Zynismus gegenüber Politik und Politikern zu verstärken.

Vertrauen ist leicht zu zerstören, aber schwer wiederherzustellen. Deshalb ist es wichtig, sein Wort zu halten. Britannia ist nicht „entfesselt“. Stattdessen befindet sie sich in gefährlichen Gewässern. Können der neue Kapitän und der Erste Offizier die vor ihnen liegenden Klippen überhaupt sehen?

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Siehe zum Hintergrund zuletzt im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=204667
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