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Die Lage in Griechenland vor den Wahlen

Landesweiter Generalstreik in Griechenland gegen Teuerung und gegen den Krieg in der Ukraine am 6. April 2022In diesem Frühjahr stehen in Griechenland turnusmäßig Neuwahlen des Parlaments auf dem Programm. Die stramm rechte Regierung von Mitsotakis (Nea Demokratia), deren Mandat im Juni endet, strebt – nach Medienberichten – einen Urnengang im April 2023 an. Jüngsten Umfragen zufolge liegt die ND deutlich vor der größten Oppositionspartei SYRIZA von Alexis Tsipras. (…) Aufgrund der unsicheren Aussichten sorgte sich das „Handelsblatt“ am 3.1.2023 bereits darum, dass „die Parlamentswahlen Premierminister Kyriakos Mitsotakis das Amt kosten könnten“. Eine erneute Regierung unter Alexis Tsipras „könnte das Reformwunder des Landes gefährden“, klagt sich das deutsche Wirtschaftsblatt. (…) Erkauft wurde dies durch eine massive Verarmung großer Teile der Bevölkerung (…) Auf diese Fragen, den gewerkschaftslichen und sozialen Widerstand und den Umgang mit dem Ukraine-Krieg und die Lage der Linken geht im folgenden Interview Dr. Gregor Kritidis ein, der seit vielen Jahren in der Griechenland-Solidarität aktiv ist…“ Aus dem Vorwort von Andreas Schuchardt vom Gewerkschaftsforum Hannover zu seinem Interview mit Gregor Kritidis – siehe dieses in Gänze:

„Es geht längst nicht mehr um einzelne Forderungen, sondern ums Ganze“

Ein Gespräch mit Gregor Kritidis
über die jüngste Abhöraffäre, soziale Proteste und den Zustand der Linken in Griechenland.

Dr. Gregor Kritidis ist Politikwissenschaftler und seit langem in der Griechenland-Solidarität aktiv.
Interview: Andreas Schuchardt

 

Die griechische Rechts-Regierung von Kyriakos Mitsotakis steht wegen einer Abhöraffäre unter Druck. Worum geht es dabei und was sind die möglichen Konsequenzen? Ist ein Sturz der Regierung denkbar?

Im Frühjahr 2022 wurde bekannt, dass der Wirtschaftsjournalist Thanassis Koukakis mithilfe der Spionagesoftware „Predator“, mit dem sein Mobiltelefon infiziert worden war, ausspioniert worden ist. Im Sommer fand die IT-Sicherheit des EU-Parlaments die Spionagesoftware auf dem Handy des Europaabgeordneten Nikos Androulakis, der gleichzeitig Vorsitzender der oppositionellen PASOK ist. Das ist besonders pikant, weil Androulakis Mitglied im Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung des EU-Parlaments ist und über zahlreiche sensible Kontakte verfügt. Infolge dieser Enthüllungen mußten Panagiotis Kontoleon, der Chef des griechischen Gemeindienstes EYP, und Grigoris Dimitriadis, Büroleiter und Neffe von Premierminister Kyriakos Mitsotakis, ihren Hut nehmen. Mitsotakis stritt jegliche Mitwisserschaft vehement ab, obwohl er die EYP bei Amtsantritt seiner persönlichen Kontrolle unterstellt und auch Kontoleon persönlich ausgewählt hatte. Zudem bedrohten Mitglieder der regierenden Partei Journalisten mit hohen Gefängnisstrafen, sollten sie weiter über die Affäre berichten. Diese ließen sich jedoch nicht einschüchtern.

Es folgten weitere Enthüllungen des Magazins Documento, die auf Informationen beruhten, die dessen Herausgeber Kostas Vaxevanis offenbar aus dem Umfeld der Regierungspartei selbst zugespielt wurden. Demnach sind von den Bespitzelungen nicht nur Journalisten, Oppositionspolitiker, Leiter staatlicher Institutionen und Unternehmer betroffen, sondern auch Regierungsbeamte, Kabinettsmitglieder und selbst Außenminister Nikos Dendias. In griechischen Medien wird darauf hingewiesen, dass die Bespitzelten innerparteiliche Konkurrenten von Mitsotakis umfassten. Der zur Aufklärung eingerichtete parlamentarische Untersuchungsausschuss und die ermittelnde Staatsanwaltschaft kommen angesichts des Ausmaßes der Überwachungen mit ihrer Arbeit kaum hinterher.

Bisher hat sich Premier Mitsotakis in Verschwörungstheorien geflüchtet und wahlweise ukrainische, armenische oder russische Geheimdienste als Täter herbeiphantasiert, was ihm die weitgehend regierungsloyalen Medien noch haben durchgehen lassen. In den internationalen Medien wird aber breit über das griechische Watergate berichtet, und die europäischen Partner bringen der griechischen Regierung in diesem Punkt kein Vertrauen mehr entgegen. Mittlerweile bröckelt auch in Griechenland die Front der Unterstützer, So haben die konservativ-liberalen Zeitungen To Vima und Ta Nea die Enthüllungen von Documento bestätigt – beide gehören neben dem Fernsehsender MEGA zur Unternehmensgruppe des Reeders Vangelis Marinakis, bis dato ein Freund der Familie von Premierminister Mitsotakis. Dagegen hält sich der Reeder Giannis Alafouzos – zu seinem Imperium gehören u.a. die Tageszeitung Kathimerini und der Fernseh- und Radiosender Skai – bisher merklich zurück, obwohl auch er auf einer Liste der Ausgespähten steht. Es steht zu vermuten, dass hinter den Kulissen schon nach einer Alternative zur Regierung Mitsotakis gesucht wird.

Die oppositionelle SYRIZA vertritt die These, dass die Abhöraffäre mit der Vergabe von Rüstungsaufträgen an französische Konzerne zusammenhängt. Angesichts des Umfangs dieser Geschäfte – es geht um 14 Mrd. € – ist das nicht von der Hand zu weisen. Allerdings verweist dieser Skandal auch auf die Digitalisierung als das zentrale Fortschrittsprojekt der Regierung. Die Idee besteht darin, alle gesellschaftlichen Bereiche auf smarte Weise digital, d.h. zentral zu steuern. Angesichts der grassierenden Vetternwirtschaft und Korruption – der Fall des ND-Abgeordneten Andreas Patsis steht dafür aktuell exemplarisch – sind die Funktionseliten erpressbar. Die Sammlung von Informationen und die Überwachung etwaiger „Abweichungen“ ist daher für das liberalkonservative Herrschaftsprojekt von großer Bedeutung. Die Digitalisierung steht freilich auf tönernen Füßen, wie sich an der Waldbrandbekämpfung zeigen läßt: Zwar gibt es im Gegensatz zu Deutschland in Griechenland überall Handy-Empfang, aber es gibt keinen wirksamen, geschweige denn vorbeugenden, Katastrophenschutz. Im Falle von Katastrophen fällt in aller Regelmäßigkeit der Notruf aus, aber die Betroffenen bekommen eine Push-Nachricht auf ihr Handy, dass sie sich in Sicherheit bringen sollen. Auf Dauer kann Symbolpolitik eine funktionierende Infrastruktur nicht ersetzen.

Auch auf der Straße und in den Betrieben gibt es Gegenwind. Am 9. November 2022 gab es den zweiten Generalstreik des abgelaufenen Jahres. Was waren die Forderungen? Wie hoch war die Beteiligung? Wer waren die treibenden Kräfte? Und was ist weiter geplant?

Grundsätzlich hat sich an den grundlegenden politisch-ökonomischen Koordinaten in Griechenland seit 2010 wenig bis nichts geändert: Nach wie vor findet eine umfassende Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, eine Auspressung der lebendigen Arbeitskraft und eine Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen statt. Dadurch werden alle gesellschaftlichen Konflikte strukturiert, und entsprechend finden diese auch ihren Niederschlag bei sozialen Protesten.

Einer der zentralen Konflikte ist der gegen die Privatisierungen und ihre Folgen, sei es die der Wasser- und Elektrizitätswerke oder der Seehäfen. Gerade die gegenwärtigen Steigerungen der Energiepreise haben mit der ungezügelten privaten Bereicherung zu tun, die durch die Privatisierungen möglich wird und die mit dem Segen der Gläubiger in der EU seit Jahren stattfindet.

Ein zweiter Großkonflikt sind die sozial-ökologische Krisen – erinnert sei an die jährlich im Sommer wiederkehrenden Waldbrände apokalyptischen Ausmaßes wie dieses Jahr auf Euböa und die aus der ungebremsten Bautätigkeit resultierenden Überschwemmungskatastrophen im Winter. Dazu gehörten auch die Konflikte um die Errichtung gigantischer Windparks in Naturschutzgebieten.

Ein dritter Konflikt dreht sich um die Arbeitsverhältnisse, wobei hier Löhne, Gehälter und Arbeitszeiten ein Aspekt sind, der andere die Rechte von gewerkschaftlicher Organisierung und vor allem das Streikrecht. Beides ist mit der Einführung von Formen digitaler Überwachung und Kontrolle verbunden.

Ein vierter Konflikt dreht sich um sexuelle Übergriffe und Gewalttaten, in Griechenland ist eine breite MeToo-Bewegung entstanden. Dabei stehen vor allem soziale Abhängigkeitsverhältnisse im Mittelpunkt wie bei der olympischen Seglerin Sofia Bekatorou, aber auch im Falle von Studentinnen der Universität Saloniki, die sich gegen Übergriffe ihrer Professoren erwehren mussten. Ähnlich gelagert sind die Übergriffe von renommierten Regisseuren gegenüber Schauspielerinnen oder Vergewaltigungen nach Partys, wobei die Täter junge Männer aus der Oberschicht waren.   

Ein fünfter Konfliktherd ist seit Jahrzenten der Bildungsbereich, und hier sind insbesondere die Universitäten betroffen. Die Regierung Mitsotakis treibt die Zerstörung des öffentlichen Bildungssystems mir der Anerkennung privater Hochschulen voran und hat zur Absicherung ihrer autoritären Politik die OPPI, eine spezielle Polizeitruppe für die Hochschulen aufgestellt. Dagegen gibt es seitens der Studierenden massiven Widerstand.

Sechstens ist das Gesundheitssystem infolge der Kürzungen seit 2010 in einem tragischen Zustand. Bespielhaft dafür ist die Behandlung von Corona-Patienten, die einer intensivmedizinischen Betreuung bedurft hätten, auf den Fluren von Kliniken. Die Regierung hat dabei die zahlreichen Todesfälle schlicht in Abrede gestellt und behauptet, die Behandlung sei so gut wie auf der Intensivstation gewesen.

Und schließlich – siebtens – werden, entgegen aller internationalen Normen, Flüchtlinge wie Kriminelle interniert oder mit Pushbacks in die Türkei zurückgedrängt. Diese Barbarisierung der Flüchtlingspolitik findet seit Jahren mit dem Segen der EU statt. Wenn ein Menschenleben nichts mehr zählt, hat das natürlich Rückwirkungen auf eine Gesellschaft.

Die Generalstreiks sind ein Ventil, mit denen die Gewerkschaftsverbände auf den sozialen Unmut in breiten Teilen der Gesellschaft reagieren müssen. Die Beteiligung war ziemlich breit, wobei die von den verschiedenen Organisationen der radikalen Linken beeinflussten Basisgewerkschaften und mit Abstrichen auch die kommunistischen Verbände die treibenden Kräfte waren und sind. Ein weiterer Seismograph für die gestiegene Konfliktbereitschaft waren die Gedenk- und Protestmärsche am 17. November anlässlich des 49. Jahrestages der Niederschlagung des Studierendenaufstandes gegen die Diktatur der Obristen 1973. Laut der „Zeitung der Redakteure“ nahmen allein in Athen 40.000 Menschen daran teil. Zentrale Themen waren dabei die Inflation und der Krieg in der Ukraine, wobei es längst nicht mehr um einzelne Forderungen geht, sondern ums Ganze. Angesichts eines Zustandes allgemeinen Unrechts geht es nicht mehr allein um die Verbesserung einzelner Rechte.

Die verallgemeinerte Bespitzelung ist neben Denunziation, Desinfomation und Propaganda eine Methode, mit der der engere Kreis um Mitsotakis versucht, die Kontrolle über all diese Krisenherde zu behalten und den zentrifugalen Kräften innerhalb der eigenen Reihen entgegen zu wirken.  

Mitsotakis & Co. stehen im Ukraine-Krieg fest an der Seite der USA, der NATO und des Selenskyj-Regimes. Wird diese Politik von der Bevölkerungsmehrheit geteilt?

Auf den ersten Blick könnte man diesen Eindruck bekommen. Faktisch ist die Regierungspolitik aber äußerst widersprüchlich. Die griechische Regierung, die sie stützenden Oligarchen und ihre Medien versuchen, sich aufgrund der Konkurrenz mit der Türkei der Rückendeckung der US-Regierung zu versichern. Sie akzeptieren daher auch, das Alexandroupolis zur NATO-Drehscheibe für Südosteuropa geworden ist. Andererseits hat die Regierung Mitsotakis aber auf EU-Ebene dafür gesorgt, dass die griechischen Reeder weiterhin legal russisches Öl transportieren dürfen. Während also alle Kritiker der Kriegsunterstützung und die Friedensbewegung in den Medien der Oligarchen als fünfte Kolonne Moskaus denunziert werden, profitieren diese gleichzeitig bei erhöhten Frachtraten davon, dass sie legal die Wirtschaftssanktionen gegen Russland brechen können.

Der MeRA-25-Abgeordnete Kleon Grigoriadis hat diese Heuchelei öffentlich angeprangert und ist daraufhin vom Reeder Giannis Alafousos wegen Verleumdung angezeigt worden. Grigoriadis hat daraufhin selbst im Parlament die Aufhebung seiner Immunität beantragt, um den Fall öffentlich vor Gericht klären zu lassen. Der Vorfall zeigt, dass die sozialen Widersprüche auch einen zugespitzten Ausdruck im Parlament finden. Von einer Unterstützung der Regierung in der Kriegsfrage kann aufgrund der ökonomischen Interessenlagen nicht einmal in ihren eigenen Reihen die Rede sein, entsprechend wenig Unterstützung genießt dieser Krieg in der breiten Bevölkerung. Es ist durchaus exemplarisch, dass Eisenbahnarbeiter den Transport von Rüstungsgütern verweigert haben.

In diesem Zusammenhang sei die Rede von Selenskyj im griechischen Parlament erwähnt, mit der dieser für Unterstützung im Krieg gegen Russland gebeten hat. Selenskyj hielt es für geschickt, einen griechisch-stämmigen Soldaten aus Marioupolis zu seiner Videoansprache zuschalten zu lassen. Dieser entpuppte sich als ASOW-Mitglied, was einen öffentlichen Aufschrei zur Folge hatte. Es ist nicht lange her, dass die neonazistische Goldene Morgendämmerung als kriminelle Vereinigung verurteilt worden ist, und nun wurde ein Mitglied ihrer Partnerorganisation im Parlament präsentiert. Zudem hat Selenskyj bei seinem Auftritt die Zypern-Frage nicht erwähnt, vermutlich, um die Beziehungen zur Türkei nicht zu belasten. Das kam ebenfalls nicht gut an.

Wie stark ist die linke Opposition? Insbesondere die ehemals große Hoffnung der europäischen Linken SYRIZA von Alexis Tsipras?

Es ist bezeichnend, dass nach den Veröffentlichungen zur Spitzel-Affäre in den Medien der Marinakis-Gruppe SYRIZA die Gelegenheit ergriffen hat, die Angriffe auf Mitsotakis zu verschärfen. Aus eigener Kraft wäre die Partei dazu nicht in der Lage gewesen, dazu ist ihre soziale Verankerung zu gering. Eine Alternative im Sinne einer politischen Kraft, welche die oben skizzierten Konflikte produktiv bearbeiten könnte, stellt SYRIZA nicht dar, dazu fehlen der Partei die Mittel, aber scheinbar auch der Wille, ihre Schwächen zu überwinden.

Und wie steht es um die übrige, parlamentarische wie außerparlamentarische Linke, zum Beispiel die Kommunistische Partei (KKE), die von Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis gegründete neue Partei und die linksradikale ANTARSYA?

Die KKE ist mit ihren zahlreichen Vorfeldorganisationen und den in der PAME zusammengeschlossenen Gewerkschaftsverbänden nach wie vor ein gewichtiger Faktor im politischen Leben Griechenlands, aber aufgrund ihrer Wagenburg-Mentalität zu einer vorwärtstreibenden Bündnispolitik nicht in der Lage.

Die Varoufakis-Partei MeRA-25 ist in intellektueller Hinsicht von Gewicht, neben dem bereits erwähnten Kleon Grigoriadis wird die Partei durch Sofia Sakorafa, eine ehemalige Speerwerferin und SYRIZA-Abgeordnete, im Parlament vertreten. Über eine relevante soziale Verankerung verfügt die Partei jedoch nicht.

ANTARSIA ist eine Organisation von Aktivistinnen und Aktivisten und spielt innerhalb des linksradikalen und anarchistischen Spektrums sowie bei den Basisgewerkschaften eine wichtige Rolle, verfügt aber nicht über eine relevante Breitenwirkung.

Daneben gibt es eine Reihe von Organisationen und Personen in grundlegender Opposition zu den herrschenden Kräften. Momentan ist schwer abzuschätzen, wie sich die Situation entwickeln wird. Noch ist die Opposition zersplittert, aber wie sich nach 2010 gezeigt hat, können dynamische Proteste schnell zu einer breiten Bewegung zusammenfließen. Dann wird sich auch zeigen, welche kollektiven Lernprozesse seitdem erfolgt und welche Konsequenzen aus der Niederlage 2015 gezogen worden sind.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=208266
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