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Die gelben Jacken in Frankreich provozieren: Zuerst die Staatsmacht, dann aber auch Debatten – auch in der BRD
Die Hunderttausende, die in Frankreich vor allem am 17. November 2018 demonstriert, blockiert und protestiert haben, sind eine massive Herausforderung – zunächst für die französische Regierung. Die darauf mit Polizei (und auf La Réunion auch mit der Armee) reagiert. Sie sind aber auch – wie viele solcher vielschichtigen Bewegungen (beispielsweise aus der jüngeren Zeit die Proteste der LKW-Fahrer in Brasilien, oder die Anti-Korruptionskampagne in Indien, die mit dem Wahlsieg der Hindu-Fundamentalisten endete) – eine Herausforderung für die Gewerkschaften, soziale Bewegungen und linke Organisationen. Die französischen Gewerkschaften hatten sich am ersten Aktionswochenende eher „heraus gehalten“, zwar die Steuerpolitik der Regierung Macron kritisiert, aber nicht zur Teilnahme an den Protesten aufgerufen. Was die Rechten umso eifriger taten, zumal sie bei der Organisation der Aktionen bereits „im Boot“ waren. In der zweiten Woche versuchen Gewerkschaften und Linke schon weitaus mehr, eigene Positionen zu verbreiten, zumal die Proteste auch thematisch breiter werden und schlicht das Thema „Armut“ auf die Tagesordnung setzen. Auch im Ausland, inklusive der BRD wird versucht, diese Bewegung zu verstehen und entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Weswegen es nicht überraschend ist, dass nach unserer ersten Veröffentlichung dazu „„Frankreich: „Gelbe Westen“ protestieren – spektakulär, doch mit welchen Inhalten und welchen Zielen?“ von Bernard Schmid am 19. November 2018 sich Leserinnen und Leser meldeten, die darauf hinwiesen, dass es eben auch andere als diese Einschätzung gebe. Wir dokumentieren Beiträge aus Frankreich und der BRD:
„Bewegung der Gelben Westen – keine emanzipatorische Perspektive?“ von Peter Nowak am 20. November 2018 bei telepolis unterstreicht unter anderem: „… Schmid begründet seine Einschätzung so: „Konsensbildend bei den aktuellen Protestlern wirkt jedoch just eine Kritik an einem einzeln herausgegriffenen Aspekt auf der Ausgabenseite, nämlich der geplanten Erhöhung von Steuern auf Kraftfahrstoff. Letztere soll schrittweise von 2019 bis 2023 stattfinden. Sie wird Autosprit verteuern und soll Diesel, das vormals in Frankreich erheblich günstiger war als Benzin – auch, weil es lange Zeit durch den Gesetzgeber begünstigt wurde, Dieselautos zu fahren – genauso teuer werden.“ Nun könnte man argumentieren, dass es sich hier durchaus um eine Art von Kämpfen um Mobilität und um die Verteilung der Energie geht, die in der nächsten Zeit zunehmen könnten. Denn die alte kapitalistische Botschaft, die Armen sollen den Gürtel enger schnallen, wird heute mit grünen und ökologischen Argumenten vorangetrieben. So ist auch in Deutschland heute die energetische Modernisierung ein Schlüssel zur Schröpfung von Mieterinnen und Mietern, die ökologischen Aspekte sind hingegen nicht bewiesen. Daher werden sich Subalternen auch gegen diese neue sich im Gewand des Kolorismus kleidenden Formen der Ausbeutung wehren. Diese Kämpfe sind durchaus legitim. Sie richten sich gegen Macron, der in liberalen und in Deutschland auch in grünen Kreisen seit seiner Kandidatur als Hoffnungsträger des angeblich aufgeklärten Europas gefeiert wird. Mit dem absehbaren Ende der Ära Merkel dürfte Macron noch mehr in die Rolle des liberalen Helden rücken, der angeblich das totale Gegenteil von Putin, Trump und Erdogan sein soll. Dass die reale Politik von Macron wenig mit diesen Heroisierungen und Mythen zu tun hat, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Wenn dann die Ruhe in Macrons Hinterland gestört wird, muss das keine schlechte Nachricht sein. Die Menschen fallen eben nicht auf die Propaganda rein von Macron als Helden der liberalen Welt, hinter dem sich jetzt alle Wohlmeinenden scharren sollen…“
„Die französische Protestbewegung der „gelben Jacken“: Wutbürger oder Revolution? Über die Widersprüche sozialer Bewegungen in den kommenden Krisenjahren“ von Markus Winterfeld am 22. November 2018 bei Kritische Perspektive hebt einleitend hervor: „Wie ist diese Protestbewegung einzuordnen? – Schaut man sich die Argumente an, mit denen sie mal als „Wutbürger“, d.h. als französischer PEGIDA-Verschnitt, mal als „zwischen Autofahrerlobby und extremer Rechter“ changierend einsortiert wird, so können diese Argumente kaum überzeugen. Das liberale Blatt führt als Beleg an, dass „die Mobilisation […] spontan über Internet und Smartphone, in lokalen Gruppen ohne zentrale Steuerung“ erfolgte. „Wutbürger“ ist nach dieser Auffassung, wer außerhalb der Parteien- und Gewerkschaftslandschaft steht. Wenn man mehr sagen will, wird es unscharf: „Nach französischen Medienberichten waren an den Straßensperren vor allem Leute anzutreffen, die in bescheidenen Verhältnissen leben und entweder nicht wählen oder der extremen Rechten zuneigen. Doch das sind vorläufige Beobachtungen, eine solide soziologische und politische Einordnung der Protestierenden liegt noch nicht vor.“ Das Gewerkschaftsportal mokiert, dass „ein aus dem Bereich der Arbeiterbewegung kommender Protest […] mit einiger Wahrscheinlichkeit nach auch nicht unbedingt gelb als Erkennungsfarbe gewählt“ hätte, dass es mindestens zwei Fälle von rassistischer oder homophober Beleidigung und Gewalt gegen AutofahrerInnen gab, und dass die Le Pen-Partei „Rassemblement National“ (ehemals Front National) sowie eine Reihe weiterer rechter Parteien zur Beteiligung aufgerufen hatten. Wenn das alles ist, was für die Einordnung der Bewegung als unsolidarisch, rechts und reaktionär vorzubringen ist, so reicht das nicht aus, noch dazu auch Luc Mélenchon, französischer Bernie Sanders, mit seiner „La France Insourmise“ zur Beteiligung aufgerufen hatte, ferner derartige Gewaltfälle von vielen ProtestteilnehmerInnen kritisiert und z.T. aktiv unterbunden wurden. Die Story, die man uns erzählen will, passt irgendwie nicht, und wir tun gut daran, uns selbst ein Bild zu machen…“
„Macron und sein Problem mit den „gelben Westen“ – Frankreich am Scheideweg“ von Jens Berger am 16. November 2018 bei den Nachdenkseiten sieht es eindeutig: „Die Proteste der „gelben Westen“ sind Sozialproteste. Sie sind aber auch Anti-Establishment-Proteste mit einer klaren kulturellen Note. Es ist aber nicht so einfach, die Proteste der „gelben Westen“ in eine Schublade zu stecken. Zwar geht es vordergründig um Mineralölsteuern und die als „Umweltpolitik“ verkaufte Senkung der Höchstgeschwindigkeit auf zweispurigen Landstraßen auf 80 km/h, die abseits von Paris als sinnfreie „Kopfgeburt der Städter“ gesehen wird. Eigentlich geht es aber um eine Gesellschaft, die sich immer stärker auseinanderentwickelt. Hier die einfachen Menschen auf dem Lande, die das Auto zum Broterwerb brauchen und sozioökonomisch durch steigende Lebenshaltungskosten und stagnierende Löhne ohnehin bereits mit dem Rücken an der Wand stehen. Und dort die begüterten städtischen Eliten, die immer reicher werden, viel von Umweltschutz reden, die Rechnung dafür aber den einfachen Leuten auf dem Land präsentieren. Diese Spaltung der Gesellschaft ist freilich kein französisches Alleinstellungsmerkmal, sondern ohne weiteres auf Großbritannien, die USA und auch Deutschland übertragbar. In Northumberland, Montana und Brandenburg dürfte sich die Begeisterung, die Umwelt durch höhere Mineralölsteuern zu „retten“, auch in überschaubaren Grenzen halten…“
„Auf den Barrikaden“ von Hansgeorg Herrmann am 26. November 2018 in der jungen welt hebt zur politischen Entwicklung der Bewegung hervor: „… Die landesweiten Proteste ausgelöst hatte eine von der Regierung vor drei Wochen angekündigte Erhöhung der Kraftstoffsteuer um zehn Prozent. Der zunächst von Parteipolitik unberührte Widerstand gegen diese Maßnahme Macrons weitete sich anschließend auf das gesamte »Reformpaket« des Präsidenten aus. Eine deutliche Mehrheit der Franzosen hat sich von einem Staatschef abgewendet, der vor nur 18 Monaten noch mit mehr als 66 Prozent der Stimmen die Stichwahl um das Amt gewonnen hatte. Seine Sympathiewerte sind inzwischen auf knapp 25 Prozent gesunken. Aus dem zuvor als »unverbrauchter Erneuerer« eingeschätzten, früheren Investmentbanker ist in den Augen vieler längst ein »Präsident der Reichen« und »Präsidentenkönig« geworden, der seine Amtsführung mit monarchischer Attitüde und einsamen Entscheidungen zelebriert. Gegen den Widerstand von mehr als 60 Prozent der Franzosen ließ Macron von seiner absoluten Parlamentsmehrheit ein neues, unternehmergerechtes Arbeitsrecht abnicken, die staatliche Eisenbahngesellschaft teilweise privatisieren und eine über weite Strecken elitäre Bildungspolitik umsetzen. Während die politische Linke bisher weitgehend stumm blieb, profitiert die Rechte von der »Macronie«, wie die Franzosen Macrons Politik inzwischen nennen. Sowohl die neofaschistische Formation »Rassemblement Nationale« (früher Front National) unter ihrer Führerin Marine Le Pen als auch die rechtskonservativen »Les Républicains« des früheren Präsidenten Nicolas Sarkozy nutzen den wachsenden Widerstand für ihre Zwecke…“
„L’exaspération est générale : la riposte doit être générale“ am 23. November 2018 bei Paris-Luttes.info ist eine gemeinsame Stellungnahme zahlreicher Basiskollektive aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen – unter ihnen Eisenbahngewerkschafter, die streikenden Postler vom Bezirk 92, von der Hyatt-Hotelkette – die als Reaktion auf den 17. November dazu aufrufen, am 15. Dezember eine Großdemonstration zu organisieren, die „unser eigenes soziales Lager“ sichtbar mache, die Forderungen der Menschen konkret ausdrücken solle und mobilisieren. Beispielsweise, in dem die Teuerung durch Forderungen nach echten Lohnerhöhungen gekontert werden.
„Si tous nos mouvements convergeaient, nous pourrions gagner…“ am 19. November 2018 beim Gewerkschaftsbund SUD Solidaires ist eine Stellungnahme der alternativen Föderation, die gleichzeitig Aufforderung an andere Gewerkschaften ist, dazu beizutragen, dass die verschiedensten Kämpfe zusammen fließen, wofür ein gemeinsames Programm vorgeschlagen wird, das beispielsweise 1.700 Euro Mindestlohn und die Rücknahme der Steuerreform zugunsten der Reichen beinhaltet.
Siehe nun auch die Antwort von Bernard Schmid vom 26.11.2018: Reportage vom „Gelbe Warnwesten“-Protest auf den Pariser Champs-Elysées und einige Anmerkungen zur Natur dieser Protestbewegung – auch in Antwort auf manche Kritiker