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„Akt 10“ der Gelbwesten in Frankreich: Nach wie vor starke Mobilisierung – und immer stärkere Debatten. Repressionsversuche – sowieso
Auch am zehnten Tag der nun über zwei Monate andauernden Mobilisierung der Gelbwesten in Frankreich waren über 80.000 Menschen bei Aktionen in zahlreichen Städten auf den Straßen. Der allwöchentliche „Schwerpunktsort“ war diesmal Toulouse, wo sich nach offiziellen Angaben über 10.000 Menschen beteiligten (während das Innenministerium landesweit behauptet, es wären gerade einmal 27.000 gewesen). Das besondere an diesem Tag: Zahlreiche Aktionen (nicht nur) vor Gefängnissen, in den Aktive der Bewegung festgehalten werden. „Wieder 84.000, größere Riots in Bordeaux, Toulouse, Rennes, Cannes, Angers“ am Abend des 19. Januar 2019 bei #Resistance2019 ist eine Art Gesamtbilanz der aktuellen Berichterstattung, die auf diesem Twitter-Kanal ausführlich und chronologisch veröffentlicht wurde. Siehe dazu auch einen weiteren Foto-Aktionsbericht zu „ActeX“ vor den Gefängnissen, einen Twitter-Kanal zur Tageschronologie, drei Beiträge zur Debatte um die Bedeutung der Bewegung und ihre Hintergründe und Auswirkungen – und einen weiteren zur systematischen Repression durch die Staatsmacht mit natürlich völlig ungefährlichen Waffen…:
„Gilets Jaunes“ ist der Twitter-Kanal, der den wohl vollständigsten Überblick über die Aktionen des Tages gibt – auch denen der Polizei…
„1000 #giletsjaunes devant la prison de #foix en solidarité avc les prisonniers #ActeX“ am Mittag des 19. Januar 2019 bei L’Envolée zeigt eigentlich nur zwei Fotos: Mitten in der Provinz 1.000 Menschen vor einem Gefängnis, um für die Freiheit festgenommener Aktivisten zu demonstrieren – diese Fotos stehen aber eben auch für eine Vielzahl ähnlicher Aktionen im ganzen Land an diesem Tag.
„Diskussion zu den Klassenauseinandersetzungen um die gelben Westen in Frankreich“ bei Kosmoprolet ist eine Veranstaltungseinladung für den 25. Januar 2019 in Zürich, worin die Entwicklung dieser Bewegung noch einmal so zusammengefasst wird: „Die soziale Zusammensetzung der Bewegung hat einen besonderen geographischen Charakter: Ihren Ausgangspunkt nahm sie in der städtischen Peripherie, wo der Mangel an öffentlichen Verkehrsmitteln das Auto zum notwendigen Fortbewegungsmittel macht. In der Ablehnung der Dieselsteuer kam ein klassenübergreifender Unmut über die Reformpolitik der Regierung zum Ausdruck, welcher kleine Selbstständige und Ladenbesitzer ebenso erfasste wie ArbeiterInnen im privaten und öffentlichen Sektor. Die heterogene soziale Gemengelage drückt sich auch in ihren widersprüchlichen ideologischen und politischen Zielsetzungen aus. Neben der Forderung nach Rücknahme der Steuer traten bald weitere Forderungen wie die nach einer Erhöhung des Mindestlohns. Neben klassenkämpferischen Parolen sind nationalistische und rassistische Sprüche zu vernehmen. Zudem mischen Kader rechtsextremer Gruppen bei den Auseinandersetzungen mit. Mit der Ausweitung und Radikalisierug der Proteste zum Stichtag des „dritten Aktes“ der Gelben Westen in Paris am 1. Dezember wurden diese Kräfte anscheinend in den Hintergrund gedrängt. Auch am 8. Dezember wurden Mitglieder der rechtsradikalen Action française aus den Reihen der gelben Westen aktiv verdrängt. Es kam zu Vereinigungen der Gelben Westen mit streikenden ArbeiterInnen, mit ökologischen und feministischen Protesten sowie demonstrierenden SchülerInnen…“
„Vom Demonstrationseffekt zur Revolution?“ am 18. Januar 2019 im Untergrundblättle weist unter anderem auf Kontinuitäten in diesem Zusammenhang hin, die auch einen Hintergrund für die aktuelle Entwicklung darstellen – sowohl in der Politik der EU, als auch im Widerstand dagegen: „Am Abend des 29. Mai 2005 lehnte eine Mehrheit der Franzosen den Vertrag über eine Verfassung für Europa ab und sagte: „Nein, wir werden diesen Weg nicht fortsetzen“. Die Franzosen geben wie andere europäische Bürger eine beispiellose Warnung an die Institutionen in Brüssel und an die politischen Parteien ab. Dabei hätte es bloß eine Formalität sein sollen. Im Frühjahr 2004 war die Prognose für eine „Ja“-Stimme sehr positiv. Die beiden großen politischen Parteien, die UMP und die PS, waren überwiegend dafür. Dieser Text, allesamt in Bezug auf Kompromisse und institutionelle Komplexität, hätte so einfach verabschiedet werden müssen, wie einen Brief zum Postamt zu bringen. Zumindest haben sich das alle vorgestellt: Politiker, Beobachter, Journalisten, Meinungsforschungsinstitute… Aber das französische Volk hat die Debatte ergriffen, die es ihm ermöglichte, grundlegende Fragen über Wirtschaft, Demokratie und Institutionen zu stellen. Die Kampagne dauerte ein Jahr, von der Ankündigung des Referendums bis zum Tag der Abstimmung. Es wurde eine denkwürdige politische Phase, in der die Ängste vor einem Frankreich, das bereits in eine wirtschaftliche und soziale Krise geraten war, zum Ausdruck kamen. Die europäischen Institutionen akzeptierten dieses „Nein“ für eine Weile, und vergassen es schnell mit Ersatzverträgen gegen den Willen der Bevölkerung. Diese Verweigerung der Demokratie wird die europäischen Institutionen brandmarken. Zu diesem technokratischen und liberalen, ja sogar ultraliberalen Europa haben die Franzosen im Mai 2005 nein gesagt…“
„Théorie communiste – Anmerkung zur Bewegung der Gelbwesten“ am 18. Januar 2019 im Kommunisierung.net unter anderem zur Bedeutung dieser Bewegung: „Im gegenwärtigen Fall betrifft die Forderung den Lebensstandard und präziser, innerhalb dessen, was ihn tangiert, die Gesamtheit der erzwungenen Ausgaben und unter ihnen jene, welche alle als „den Tropfen“ beschreiben, „der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“: die Erhöhung des Benzinpreises (hauptsächlich Diesel). Die Frage ist jene des Lebensstandards, der Einkommen. Doch diese Frage bleibt nicht eine wirtschaftliche Frage, sie wird unmittelbar politisch. Die Abgaben, die Steuern, das ist der Staat. In dieser unmittelbaren Verwandlung der Wirtschaft in Politik findet der Interklassismus seine Form, die ihn definiert und stärkt. Die Folge ist nie gesellschaftlich neutral, sondern besiegelt im Interklassismus eine seiner Komponenten: die Handwerker und Chefs kleiner Unternehmen, die das „Volk“ vereinigen. Um den Marx des Artikels „Kritische Randglossen zu dem Artikel »Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen«“ zu plagiieren: Es ist „eine wirtschaftliche Revolte mit einer politischen Seele“. Und man findet hier die Frage der Legitimität des Staates wieder. Die „politische Seele“ einer wirtschaftlichen Revolte liegt in der Tendenz der Klassen ohne politischen Einfluss, ihre Isolierung vom Staat und der Macht zu beenden. Die Beendigung dieser Isolierung ist gleichbedeutend mit der Beförderung des Volkes und der Proklamation desselben als unmittelbar Staat seiend…“
„Polizeigewalt gegen Proteste der Gelbwesten: „Reihenweise Verstümmelungen““ von Thomas Pany am 18. Januar 2019 bei telepolis berichtet unter anderem in einer Art aktuellem Propagandasturm: „Im Mittelpunkt der momentanen Aufmerksamkeit stehen Waffen mit „dazwischenliegender Gewalt“, um armes de force intermédiaire annähernd wortgetreu zu übersetzen. In den Nachrichten kommen sie oft als „nicht-tödliche“ Waffen vor, die von der Polizei verwendet werden, um Gummigeschosse oder „Flashballs“ auf Demonstranten abzuschießen. Tatsächlich wurden die Flashballs in den letzten Jahren von der französischen Polizei ersetzt durch „Verteidigungskugeln“, so die wörtliche Übersetzung von Balles de Défense (BD). Die dazugehörige Waffe wird Lanceur de Balles de Défense genannt und ihre Abkürzung LBD steht für eine lange Reihe sehr unangenehmer Vorkommnisse. Sie ist berüchtigt. Das Zentralorgan der bürgerlichen Konservativen, der Figaro, klärte an diesem Donnerstag über die LBD-40 auf, zeigte sie in einer großen Infografik unter der Feststellung, dass „mehrere Gilets jaunes von Schüssen der LBD-40 durch die Polizei und die Gendarmerie verletzt wurden“. Man erfährt, dass die 40mm-Kugel mit einer Geschwindigkeit von 100 Meter in der Sekunde den Lauf verlässt, dass ein Laserpointer auf die Waffe gesetzt werden kann, der eine „sehr gute Treffsicherheit“ auf 40 Meter erlaube, und dass die Reichweite in einem Bereich zwischen 25 und 50 Metern liege. Die Munition bestehe aus einer 40x46mm-Kugel aus Kautschuk, die auf eine „pyrotechnische Kartusche“ montiert sei. Der Unterschied zur Flashball-Waffe wird von der Zeitung Ouest-France anschaulich bebildert und auf der oben erwähnten Seite Désarmons-les erfährt man, dass die LBD-40 (aka GL06-NL) der Schweizer Firma Brüger & Thomet dem deutschen Konkurrenten HK69 von Heckler&Koch vorgezogen wurde, als die französische Regierung 2005 nach den großen Unruhen in den Vorstädten die Polizei mit nicht-tödlichen Waffen mit kurzer Reichweite aufrüsten wollte…“