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Frankreichs umkämpfte Arbeitsrechts-„Reform“, Teil 44

Artikel von Bernard Schmid vom 22. Juli 2016

Frankreich 2016: Loi travail: non, merci!Definitive Verabschiedung des Gesetzentwurfs erfolgte in vierter Lesung; am selben Tag wie die nächste Verlängerung des Ausnahmezustands (vgl. nebenstehenden Artikel)  * 211 Seiten und 54 Artikel zur Verschlechterung der Situation für die Lohnabhängigen * Ausführungsdekrete wurden bereits auf Vorrat verfasst… * Dennoch weitere Mobilisierungen ab September d.J. geplant

Und aller schlechten Dinge sind – drei. Die französische Regierung hatte es eilig, wirklich sehr eilig damit, das heftig umstrittene „Arbeitsgesetz“ an diesem Dienstag auch in vierter Lesung im Blitzverfahren durch das Parlament zu peitschen.

Erneut kündigte Premierminister Manuel Valls am Nachmittag des Tages an, auf das juristische Instrument des Verfassungsartikels 49-3 zurückzugreifen. Diese Verfahrensregel erlaubt es, einen Gesetzestext auch ohne Aussprache im Parlament zu verabschieden. Letztere kann entweder einem Misstrauensvotum mit absoluter Mehrheit zustimmen, oder der Entwurf gilt als verabschiedet. Nach geltenden Regeln darf eine Regierung den Artikel zwar nur einmal pro Sitzungsperiode (jeweils von Oktober bis Juli) verwenden. Aber handelt es sich um denselben Text, dann wird der mehrfache Rückgriff auf diese Handhabe zur Knebelung der Abgeordneten doch nur einmal gezählt.

Bewertung

Interessanterweise hat die Regierung Valls diese Möglichkeit insgesamt drei mal in der Nationalversammlung genutzt (am 10. Mai, 05. Juli und erneut am 19. Juli), also gegen Abgeordnete aus dem „eigenen“ sozialdemokratischen Lager – aber nicht im Senat, dem konservativ dominierten Oberhaus. Dessen rechte Mehrheit hatte im Juni dieses Jahres vierzehn Tage lang völlig freie Hand, um den Text nach Belieben zu verschärfen. (Die Debatte dort fand vom 13. bis 28. Juni statt) Das Regierungslager ging dann zwar zur ursprünglichen Fassung zurück. Die Senatsposition kam der Regierung jedoch zugute, denn es handelte sich um ein abgekartetes Spiel, bei dem das rechtssozialdemokratische Kabinett zeigen konnte, letztendlich verkörpere es doch das berühmte „kleinere Übel“. Die Konservativen ihrerseits konnten Signale an ihrer Wählerschaft aussenden.

Im Prinzip war der Text damit am Dienstag Abend, in der entscheidenden letzten Lesung, „durchgewunken“. Theoretisch hieß es, noch 24 Stunden abzuwarten, also bis am Mittwoch Abend, um sicher zu gehen, dass kein Misstrauensantrag zur Abstimmung gestellt wird. Es war jedoch keiner angekündigt, obwohl die verbliebenen Reste der Platzbesetzerbewegung (Nuit Debout) seit Anfang Juli d.J. eine Kampagne dafür in Richtung der Abgeordneten durchführten, und es wurde auch keiner gestellt.

Daraufhin wurde am Donnerstag, den 21. Juli in „feierlicher“ Abstimmung nochmals bekräftigt, dass der Text hiermit angenommen sei. (Vgl. http://www.francetvinfo.fr/economie/emploi/carriere/vie-professionnelle/droit-du-travail/duree-du-travail-heures-sup-licenciements-economiques-ce-que-la-loi-travail-va-changer-pour-vous_1533715.html externer Link)

In seiner letzten Fassung umfasst er, nachdem in den Wochen zuvor einige kleinere Änderungsanträge integriert worden waren, nun 211 Seiten Gesetzestext und 54 Artikel.

Nicht aufgenommen wurde jedoch der „Komprimiss“vorschlag, den der sozialdemokratische – durchaus überaus regierungsloyale – Abgeordnete Olivier Faure noch Anfang Juli d.J. vorgelegt hatte. Demnach sollte der Gesetzestext eine Sperre vorsehen, welche es verbietet, durch Kollektivabkommen mit einer oder mehreren Gewerkschaften im Unternehmen (diese werden künftig durch das neue „Arbeitsgesetz“ erleichtert, zu Lasten von Branchenabkommen) die Höhe von Überstundenzuschlägen zu reduzieren.

Bislang gilt, dass Überstunden mit mindestens 25 Prozent Aufschlag, in kleineren Unternehmen und für die ersten vier Überstunden in einer Woche jedoch mit mindestens 10 Prozent Aufschlag bezahlt werden müssen. Dieser Lohnzuschlag kann künftig in Unternehmen frei vereinbart werden, d.h. ein Abkommen im Unternehmen kann Abweichendes bestimmen, auch wenn die Abweichung „nach unten“ geht. („Nach oben“ war sie ohnehin schon immer rechtlich möglich, aufgrund des in Frankreich wie in Deutschland sonst gültigen „arbeitsrechtlichen Günstigkeitsprinzips“. Demnach gilt von mehreren Normen, die greifen könnten, die für die Lohnabhängigen günstigste – es sei denn, der Gesetzgeber hat etwas Anderes vorgesehen. Mehrere Gesetzestexte, vom 04. Mai 2004 bis heute, hebeln dieses „Günstigkeitsprinzip“ jedoch in weiten Bereichen aus, vor allem bei der Arbeitszeitpolitik.

Den „Kompromiss“vorschlag von Olivier Faure unterstützten im letzten Anlauf „immerhin“ 123 sozialdemokratische Abgeordnete, also ein starkes Drittel der 292-köpfigen Regierungsfraktion in der Nationalversammlung. (Vgl. http://www.lcp.fr/actualites/loi-travail-123-deputes-ps-contre-la-baisse-de-la-majoration-des-heures-supplementaires externer Link) Verändert hätte er gar nicht viel, denn die Regelungen des künftigen neuen Gesetzes erlauben es zugleich, sehr viele – über die „Normarbeitszeit“ von 35 Stunden wöchentlich hinaus geleistete – Arbeitsstunden überhaupt nicht als Überstunden zu werten. Von Anfang an (d.h. seit dem sozialdemokratischen Gesetz zur 35-Stunden-Woche vom 19. Januar 2000) galt und gilt, dass die „35 Stunden“ nur im Durchschnitt über einen längeren Zeitraum erreicht werden müssen; was noch nie ausschloss, dass eine Arbeitswoche 28 Stunden und die nächste 42 Stunden beträgt. Bislang gilt, dass der „Ausgleichszeitraum“ dafür bei einseitiger Festlegung durch den Arbeit„geber“ bis zu einem Monat, bei Einigung mit einer oder mehreren Gewerkschaften dagegen bis zu einem Jahr betragen darf. Künftig kann er, nach dem neuen Gesetz, bis zu zwölf Wochen (per einseitige Anordnung durch den Arbeitgeber) oder gar bis zu drei Jahren (bei Einigung mit einer oder mehreren Gewerkschaften) betragen. In diesem Szenario gilt, dass in einer der längeren Arbeitswochen die Stunden zwischen der 35. und der 42. oder 44… eben nicht als Überstunden gewertet werden, sofern nur irgendwann innerhalb der „Ausgleichs“-Zeitspanne dann kürzere Arbeitswochen eingelegt werden.

Dennoch wurde dieser feine „Komprimiss“vorschlag von 123 sozialdemokratischen Abgeordneten letztendlich durch die Regierungsspitze abgeschmettert. Diese warf dem Abgeordneten Olivier Faure gar vor, „hinter dem Rücken der Regierung“ die Strippen zu ziehen bzw. Komplotte zu schmieden. Was der arme, der Staatsspitze durchaus ergebene Mann nun wirklich nicht verdient hatte… (Vgl. dazu ausführlich: http://www.lemonde.fr/politique/article/2016/07/07/olivier-faure-le-depute-plastique-rabroue_4965390_823448.html externer Link)

Ausblick

Wird damit das Gesetz schon in Kraft gesetzt? Nein, noch nicht ganz. Zunächst muss der Staatspräsident, in diesem Falle François Hollande, es noch unterschreiben. Danach kann es im Journal Officiell (Amtsblatt, Gesetzesanzeiger) veröffentlicht werden, es trägt dann das Datum der Unterzeichnung. Auch könnten Parlamentarier/innen noch den „Verfassungsrat“ (Conseil constitutionnel), also das französische Verfassungsgericht anrufen, zur Prüfung der Vereinbarkeit zwischen dem Gesetz und dem höchsten juristischen Grundlagentext. Dazu müssten sich mindestens sechzig von ihnen zusammentun.

Ein solcher Gang vor die Verfassungsrichter gilt als nicht unwahrscheinlich. Letztere hätten dann maximal einen Monat Zeit, um das Gesetz entweder für verfassungskonform zu erklären, es ganz oder teilweise zu zensieren, oder aber um Auslegungsvorbehalte an einzelnen Punkten anzumelden. Danach erst kann der Präsident dann unterzeichnen.

Eine weitere Etappe für die konkrete Umsetzung des Gesetzes wird die Verabschiedung von „Dekreten“ sein, also von den zuständigen Ministerien ausgearbeiteten Ausführungsrichtlinien, die die näheren Details regeln. Normalerweise nimmt das Monate in Anspruch. Allerdings vermeldete das Wochenmagazin L’Express am 15. Juni 16 in einer winzigen Fünfzehn-Zeilen-Meldung (vgl. Papier-Ausgabe Seite 24 unten rechts), das Arbeitsministerium unter Myriam El Khomri sei dabei, eine ganze Reihe von Ausführungsdekreten bereits auf Vorrat zu verfassen – noch bevor das Gesetz verabschiedet sei. Auch ein Anzeichen für die enorme Eile der Regierung, die unter Druck der Kapitalverbände und wohl auch der EU-Kommission steht.

Die öffentliche Meinung hat ihre mehrheitliche Auffassung dazu nicht geändert. Am Montag, den 18. Juli berichtete eine Meldung der Nachrichtenagentur AFP, nach neuesten Befragungen seien 70 Prozent „unzufrieden mit der bevorstehenden Verabschiedung“ (vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2016/07/18/97001-20160718FILWWW00240-loi-travail-70-des-francais-mecontents-son-adoption.php externer Link). Dies entspricht den Mehrheitsverhältnissen seit Bekanntwerden der Vorlage im Februar 2016.

Zwar macht die soziale Bewegung, nach vier Monaten Dauermobilisierung vom 09. März (dem ersten gewerkschaftlichen „Aktionstag“ mit Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen) bis zum 05. Juli d.J. als dem dreizehnten „Aktionstag“, derzeit überwiegend eine Sommerpause. Auch finden keine angemeldeten Platzkundgebungen der Platzbesetzerbewegung Nuit debout seit dem 11. Juli mehr statt; die nächste Anmeldung soll für den Abend des 31. August d.J. erfolgen. Was jedoch in der Praxis nicht ausschließt, dass sich an manchen Abenden einige Dutzend Menschen aus dem „harten Kern“ von Nuit debout in mehr oder minder informellem Rahmen zusammenfinden; einige der zu Sachthemen tätigen „Kommissionen“ von Nuit debout arbeiten auch weiterhin. Am Donnerstag, den 14. Juli, also dem diesjährigen Nationalfeiertag, nahmen rund 400 bis 500 Menschen an einer Kundgebung nebst Konzert gegen Polizeigewalt auf der Pariser Place de la République (d.h. dem Versammlungsort von Nuit debout) teil. Diese war nicht aus den Reihen von Nuit debout heraus angemeldet worden, sondern von einem Kollektiv gegen polizeiliche Gewalt, doch war quasi der gesamte „harte Kern“ von Nuit debout dazu erschienen. In den nächsten Tagen soll ein weiteres Ereignis, dieses Mal aus der Platzbesetzerbewegung heraus organisiert, gegen die erneute Verlängerung des Ausnahmezustands stattfinden.

Am 15. September wird jedoch zu erneuten gewerkschaftlichen Demonstrationen aufgerufen, um die Rücknahme des Gesetzes zu fordern. Zuvor wird am 07. September im westfranzösischen Nantes eine gemeinsame öffentliche Veranstaltung mit Philippe Martinez und Jean-Claude Mailly, den Generalsekretären der CGT (des stärksten gewerkschaftlichen Dachverbands in Frankreich) und von FO (des drittstärksten Dachverbands), stattfinden. An ihr beteiligen sich auch die übrigen, gegen das künftige „Arbeitsgesetz“ kämpfenden gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse: die Union syndicale Solidaires (Zusammenschluss überwiegend von linken Basisgewerkschaften), die FSU (Gewerkschaftsverband im Bildungswesen) und die Unef (Studierendengewerkschaft) (Vgl. http://canempechepasnicolas.over-blog.com/2016/07/des-le-7-septembre-contre-la-loi-travail-martinez-et-mailly-en-meeting-a-nantes-a-la-rentree.html externer Link

Ansonsten gilt auch weiterhin: „Wer zuletzt lacht, wird am besten lachen!“… (Vgl. ganz in diesem Sinne auch: https://www.facebook.com/groups/1142312039178827/permalink/1249186321824731/ externer Link)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=101473
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