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Frankreich – Kein Wintermärchen: Renten„reform“ und Arbeitslosenversicherung, Klimaaktivismus und Umweltmilitanz sowie ein neues „Ausländergesetz“

„Loi Macron“ – zwangsweise Sozialpartnerschaft nach Gusto der UnternehmerverbändeEin Themenbündel, verfasst von Bernard Schmid zwischen dem 22. und dem 31. Dezember 22, in drei Teilen:
(I) Macron packt die „dicken“ Reformen an: Renten„reform“ kommt (voraussichtlich) nun im Januar 23, jene der Arbeitslosenversicherung ist in vollem Gange
(II) Klimaaktivismus und Umweltmilitanz: Auch in Frankreich debattiert man über angeblichen „Ökoterrorismus“, werden junge (und manchmal weniger junge) Leute aktiv
(III) Neues „Ausländergesetz“ steckt in der Pipeline (mit Fotos). Seit dem Hochsommer 2022 angekündigter Entwurf für NOCH ein Gesetz zum Dauerbrenner-Thema Immigration (und zu migrantischer Arbeit) wurde konkretisiert und liegt in einer überarbeiteten Erstfassung vor. Parlamentsdebatte folgt im Januar 23. Erste Protestmobilisierungen fanden statt…

Teil I: Macron packt den Tiger in den Tank und die dicken „Reformen“ aus:

Die mehrfach aufgeschobene Renten„reform“ kommt (voraussichtlich) nun kommende Woche definitiv auf den Tisch; jene der Arbeitslosenversicherung ist in vollem Gange. Gewerkschaften zeigten sich hellauf über Letztere empört

Und wieder ein Jahr vollbracht, wieder nur Scheiße gemacht: Nein, nicht doch, so viel bilanzierende Selbstkritik enthielt die TV-Ansprache von Staatspräsident Emmanuel Macron zum Jahreswechsel 2022/23 nicht. Achtzehn Minuten lang sprach das Staatsoberhaupt, ein Längenrekord unter der (1958 begründeten) Fünften Republik. Hugh.

Dabei streifte er zahlreiche Themen, ohne sich inhaltlich allzu viel festzulegen. Am Anfang und am Ende firmierten jeweils der laufende Ukrainekrieg, was auch eine Art und Weise war, dem Publikum zu bedeuten, dass Letzterer an den meisten aktuellen Problemen in Frankreich – jedenfalls an den Preissteigerungen und der drohenden Energieknappheit – die Schuld trug.

Ansonsten suchte er mittels seiner Rede in erster Linie Optimismus auszustrahlen, zur Einigkeit aufzurufen, Vorfreude auf kommende Ereignisse zu erwecken; insbesondere auf die anstehenden Olympischen Spiel in Paris und Umland sowie die Beendigung der Restaurierung der im April 2019 bei einem Brand schwer beschädigten Kathedrale Notre-Dame de Paris (beide sind für 2024 programmiert). Auch kündigte er Klimaschutzmaßnahmen v.a. durch eine Importsteuer auf Einfuhrprodukte, zu deren Herstellung starke CO2-Emissionen erforderlich waren, und die Fabrikation erster Elektroautos auf französischem Territorium an; greifen sollen diese allerdings erst zum Zeithorizont 2030. Im Übrigen kommentieren wir an dieser Stelle vorläufig nicht die inhaltliche Fragwürdigkeit der Vorstellung, E-Autos trügen entscheidend zum Umwelt- und Klimaschutz bei, in Anbetracht der zu ihrer Herstellung nötigen „seltenen Erden“ ebenso wie der Entsorgungsproblematik für ihre Batterien.

Richtig konkret wurde Emmanuel Macron jedoch in zweierlei Richtung: Ja, es müsse „länger gearbeitet“ werden, was er vor allem im Hinblick auf die Lebensarbeitszeit formulierte (um die Arbeitszeitpolitik bezogen auf die wöchentliche bzw. jährliche Arbeitszeit ging es in seiner Rede nicht), und, ja, sowohl die „Reform“ der Rentensysteme als auch jene, bereits begonnene, der Arbeitslosenversicherung werde im anlaufenden Jahr durchgeführt werden.

Konkret führte das französische Staatsoberhaupt dazu aus: „Wird man/Werden wir 2023 länger arbeiten müssen? Auch da wird, wie ich mich vor Ihnen verpflichtet habe, dieses Jahr tatsächlich das einer Reform der Renten werden, die darauf abzielt, das (Anm.: finanzielle) Gleichgewicht unser Rentensysteme für die kommenden Jahre und Jahrzehnte zu sichern. Es ist nötig, dass wir mehr arbeiten, dies ist genau der Sinn der Reform der Arbeitslosenversicherung (Anm.: vgl. dazu unten Näheres), die durch die Regierung unterstützt und durch das Parlament beschlossen worden ist. Das ist auch der Sinn dieser Reform (Anm.: Rentenreform), zu der die Sozialpartner und die Regierung in den kommenden Monaten arbeiten werden, um die neuen Regeln festzulegen, die schon ab dem Ende des Sommers 2023 Anwendung finden werden.“ (Vgl. seine Ansprache im Wortlaut (Originalton) unter: https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2022/12/31/voeux-2023-aux-francais externer Link Audio Datei)

Vor allem was die regressive Renten„reform“ betrifft, war diese Ankündigung mit einiger Anspannung erwartet worden, zumal dieselbe (RRR) in den letzten Jahren mehrfach verschoben worden ist. Zunächst war sie im Herbst 2019 durch die Regierung unter Macrons damaligem Premierminister Edouard Philippe konkret auf’s Tapet gebracht worden. Mehrere Wochen lang fanden dagegen massive Sozialproteste und Streiks statt, insbesondere im Transportsektor – in den öffentlichen Verkehrsmitteln dauerten die Ausstände vom 05. Dezember 19 bis zu ihrer Aussetzung am 20. Januar 2020. Auch nach diesem Datum fanden noch starke Demonstrationen gegen das Regierungsvorhaben statt, und zwar bis zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie (erste Welle) und der dadurch bedingten Zwangspause im sozialen und politischen Leben. (LabourNet berichtete ausführlich, vgl. im März 2020: Frankreich: Protest gegen Renten-Konterreform am Weltfrauenkampftag – weitere Mobilisierungsschritte geplant) Letztere sorgte damals für den Abbruch des „Reform“projekts (Frankreich: Renten„reform“ durch die Corona-Krise faktisch gekippt – Kampf gegen Gesundheitsgefährdung im Vordergrund), wobei man der Ehrlichkeit halber zugeben muss, dass sich die Proteste zu dem Zeitpunkt bereits weitgehend erschöpft hatten und sich die soziale Opposition sonst nicht hätte durchsetzen können. Danach gab es sowohl im Jahr 2020 als auch 2021 mehrere Anläufe seitens von Staatspräsident Macron, das Thema erneut auf die Tagesordnung zu setzen (vgl. Frankreich: Renten„reform“ durch die Corona-Krise faktisch gekippt – Kampf gegen Gesundheitsgefährdung im Vordergrund), doch scheiterte das Vorhaben wiederholt an strategischen Widersprüchen in seinem eigenen politischen Lager. Dort hielt mindestens ein Teil es für inopportun, das Projekt relativ kurzfristig vor dem Wahljahr 2022, mit der Präsidentschaftswahl im April des Jahres und der darauffolgenden Parlamentswahl im Juni 22, durchzudrücken. Im Zusammenhang damit rechnete man ansonsten wohl mit einer überdeutlichen Wahlniederlage.

Darauf kommt es nun nicht länger an: Aufgrund der Verfassungsänderung vom 23. Juli 2008 kann ein Staatspräsident nur zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten hintereinander absolvieren, und Macron kann also 2027 nicht nochmals antreten. Jemand anders aus seinem politischen Lager könnte dies zwar versuchen, doch zeigte sich Emmanuel Macron jedenfalls bislang eher darum bemüht, seine eigenen politischen Verbündeten auszubremsen – so torpedierte er in den letzten Monaten allzu deutliche Präsidentschaftsambitionen (für spätere Jahre) seines früheren Premierministers Philippe, in welchem er einen potenziell aufstrebenden Rivalen erblickte -, als deren Pläne zu befördern.

Nun drängt also ein anderer Imperativ stärker; und zwar geht es nunmehr darum, nicht unbedingt die Wähler/innen zufriedenzustellen, auf die es Emmanuel Macron für seine politische Restkarriere nicht mehr wirklich ankommt, wohl aber jene einflussreichen Lobbygruppen, die seinen Aufstieg an die Staatsspitze und u.a. seinen als „innovativ“ gepriesenen Wahlkampf 2016/17 finanzierten. Die stärksten Spendenaufkommen erzielte Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron damals neben Teilen der inländischen Bourgeoisie ferner unter jenen Auslandsfranzosen, die in London und Genf ansässig sind, also an zwei Zentren des europäischen und internationalen Kapitals. Welche sozialen Interessen der Wirtschaftsliberale bedient, ist durchsichtig und braucht zur Erörterung keinerlei Verschwörungstheorien – auch wenn es solche ebenfalls reichlich gibt, antisemitisch grundierte und andere. Materialistische Analysen genügen jedoch völlig zur Erklärung.

Emmanuel Macron hatte es seit seinem mehr oder minder kometenhaften politischen Aufstieg in den Jahren 2012 (Jahr seiner Ernennung zum Berater des nominell sozialdemokratischen Präsidenten François Hollande im Elyséepalast) respektive 2014 (Emmanuel Macron wird Finanzminister) bis 2016 (Rücktritt aus der Regierung und Gründung seiner eigenen Partei) geschafft, aus dem rechten sozialdemokratischen Parteiflügel sowie dem mehr wirtschaftsliberalen denn nationalistischen Teil der Konservativen einen neuen bürgerlichen „Mittelblock“ zusammenzuschmieden. Dieser überwand erstmals in der französischen Innenpolitik den bis dahin relativ stark prägenden „Links-Rechts-Gegensatz“, welcher bis dahin eine Annäherung zwischen einem „Mitte-Links-“ und „Mitte-Rechts-“Pol verhindert hatte, zugunsten einer Art großkoalitionären Logik.

Doch Macron kann, je nach Thema und Bündnislogik, auf zweierlei Fundamente mit jeweils unterschiedlicher Tragweite aufbauen: Auf Basis einer politischen Logik kann er rund die Hälfte der Bevölkerung hinter sich versammeln, wie zuletzt bei der Präsidentschaftswahl im April 2022 mit gut 58 % der Stimmen in der Stichwahl (gegen Marine Le Pen als Herausforderin), auf einer doppelten Grundlage, nach den Stichworten „Sammlung der Vernünftigen und Gemäßigten von Links und Rechts über überkommene Parteigrenzen hinweg“ sowie „Verteidigung der Republik gegen (Links und gg.) Rechtsextreme“. Doch auf der Basis seines sozioökonomischen Programm schaffte er es nur gut ein Viertel der Bevölkerung zu vertreten, also ihren besser- und bestsituierten sowie grundsätzlich mit den Verhältnissen zufriedenen Teil.

Auf dieser Ebene muss er damit rechnen, eine spürbare Mehrheit der Gesellschaft von, je nach Thematik, 60 bis 70 Prozent gegen sich zu wissen. Bei manchen Themen wohl auch mehr, denn dass bspw. das öffentliche Gesundheitssystem derart im Argen liegt wie zuletzt offenbart – für diese Zustände ist allerdings nicht Emmanuel Macron Allein- oder Hauptverantwortlicher, sondern alle seine Amtsvorgänger der letzten 25 Jahre, doch wurde die Katastrophe seit der besonderen Strapazierung des Gesundheitswesen durch die Corona-Welle erst besonders offenkundig -, empört bis tief in bürgerliche Kreise hinein. Dazu nur ein Stichwort: Im zurückliegenden Monat (Dezember 22) wurden laut gewerkschaftlichen Angaben mindestens zwanzig Tote in den Notaufnahmen von Krankenhäusern, derzeit besonders beansprucht durch die dreifache Epidemie Covid-19/Grippe/Bronchiolitis, durch zu späte Behandlungsaufnahme verzeichnet. (Vgl. https://www.lejdd.fr/Societe/urgences-au-moins-vingt-deces-en-decembre-a-cause-dune-trop-longue-attente-selon-un-syndicat-du-samu-4157349 externer Link) Zu solchen Themen dürften sich gar bis zu 90 % der Gesellschaft einig zeigen.

Aufgrund dieser Dichotomie, dieses Auseinanderklaffens zwischen politischer Basis (einerseits) und sozioökonomischer (andererseits), muss Macron bei ernsthaften sozialpolitischen Einschnitten und insbesondere bei einem Thema wie der anstehenden Renten„reform“ immer wieder lavieren und öfters Anlauf nehmen. Erscheinen doch die von seinen Wähler/inne/n zuvor auf ihn gesetzten Erwartungen an diesen Stellen im erkennbaren Widerspruch zu seinem Handeln und seinen konkreten Absichten. Denn auch nicht klassenkämpferisch gesonnene Französinnen und Franzosen sind durchaus der Auffassung, dass ein Mensch zwar im Laufe seines Lebens tüchtig arbeiten, aber eben auch zu einem nicht allzu vorgerückten Alter – und so lange die betreffende Person noch bei guter Gesundheit ist – in Rente gehen können soll. Beispielsweise erbrachte eine durch den bürgerlich-liberalen, jedenfalls bei sozial- und wirtschaftspolitischen Themen mit dem Macron-Lager konform gehenden Privatfernsehsender BFM TV in Auftrag gegebene Umfrage im Herbst 2022, nur 11 % der Befragen wünschten sich das durch das Regierungslager in Aussicht genommene Renten-Einstiegsalter von 65 oder darüber. (Vgl. https://www.lepoint.fr/societe/retraites-quel-est-l-age-ideal-de-depart-les-francais-ont-la-reponse-20-09-2022-2490714_23.php externer Link) Im Gesamtdurchschnitt der Befragten lief es auf ein Einstiegsalter in die Pensionsierungs(s-möglichkeit) von 61 hinaus, das wäre etwas tiefer als das seit der „Reform“ vom Jahresende 2010 unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys festgelegte Mindestalter von 62, zuvor lag es noch (seit den frühen 1980er Jahren) bei 60. (Vgl. zu den vorausgegangenen Änderungen und „Reformen“: https://www.publicsenat.fr/article/societe/retraites-petite-chronologie-des-reformes-231451 externer Link)

Nun ist also die Katze sozusagen aus dem Sack, jedenfalls weitgehend; zumal Emmanuel Macron in seiner oben zitierten TV-Ansprache am Sylvesterabend dieses 31.12.2022 zwei mal erkennbar äußerte, es ginge darum, „mehr/länger zu arbeiten“, im Sinne der Lebensarbeitszeit.

Noch ein Begründungswechsel…?

Übrigens wechselt dabei die Begründung erneut, denn in der soeben zitierte Ansprache berief sich Macron auf die Notwendigkeit, ihm zufolge die Finanzierung des (umlagefinanzierten) Rentensystems „zu sichern“ – ohne die die auf den Unternehmen lastenden Sozialabgaben zu erhöhen – und diese dadurch, seiner Darstellung zufolge, zu retten.

Tatsächlich hatte dieselbe Begründung bereits früher beim Thema gedient. Zwischenzeitlich war Emmanuel Macron allerdings von ihr abgerückt und hatte sich auf eine andere Legitimation für das „Reform“vorhaben berufen. Denn in einem Interview, das Emmanuel Macron am 22. September 22 im Flugzeug zwischen Paris und New York auf dem Rückweg von der UN-Vollversammlung gab (vgl. https://www.bfmtv.com/replay-emissions/90-minutes-aurelie-casse/macron-sur-bfmtv-l-interview-exclusive-22-09_VN-202209220772.html externer Link), kündigte er an, die Ausgaben für das Rentensystem müssten sinken, da man Geld benötige, um die transition énergétique, also den Umbau der Energieversorgung, zu finanzieren. Dies klingt zunächst durchaus freundlich und nach Entwicklung erneuerbarer Energiequellen. Diese sind allerdings kaum gemeint, auch wenn Macron kurz zuvor auch ein neues Offshore-Windkraftanlagenfeld auf dem Atlantik in der Nähe von Nantes einweihte. Überwiegend geht es allerdings um einen drastischen Ausbau der Atomenergie bis in die 2040er Jahre, und dieser benötigt gigantische Mittel. Gewerkschaftsvorständler wie Philippe Martinez von der CGT erklärten daraufhin übrigens erzürnt, hier werde geplant, beitragsfinanzierte – und nicht etwa aus staatlichen, also Steuermitteln alimentierte – Sozialkassen finanziell auszutrocknen, um mehr Geld in den allgemeinen Staatshaushalt zu holen. (Was wiederum auf dem Umweg über eine Senkung der Unternehmensbeiträge zu den Sozialkassen, dadurch erweitere finanzielle Spielräume der Firmen, und eventuell dann auf die zuvor finanziell entlasteten Betriebe zu erhebende Steuern möglich wäre…) (Vgl. dazu einen Beitrag des Verf. vom Oktober 2022: https://www.heise.de/tp/features/Frankreich-Run-auf-Tankstellen-7304422.html externer Link)

Nun ging’s also zurück zur ursprünglichen Begründung: Die Rentenkassen sollten vordergründig weniger Geld für Lohnabhängige im Ruhestand – respektive später – ausspucken, um dieselben zu retten.

Ansonsten beruft sich Macron in derselben Ansprache ja auch darauf, er habe sich gegenüber ebendiesem Publikum („vor Ihnen“) zuvor zur Durchführung ebendieser Reform „verpflichtet“. Diese Behauptung spielt darauf an, er sei im Frühjahr 2022 angeblich dafür (wieder)gewählt worden, um just diese Maßnahme durchzuführen, sei diese doch in seinem Wahlprogramm angekündigt worden; diejenigen, die ihre Stimme für ihn abgaben, hätten sich also angeblich genau dafür ausgesprochen, was Macron nunmehr eine Verpflichtung darstelle.

Doch diese Darstellung hinkt an mehreren Stellen:

  • Zunächst führte Macron bis weit in die ersten Jahresmonate 2022 hinein überhaupt keinen inhaltlichen Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl vom 10. und 24. April 22, sondern wich jeglicher Auseinandersetzung über Vorstellungen und Programm lange Zeit hindurch aus unter der Begründung, er habe als Amtsinhaber und vor allem im internationalen Bereich vorerst Wichtigeres zu tun (Anm.: seit einer Präsidentenreise nach Moskau und Kiew vom 07. und 08. Februar 22 bemühte er sich als Vermittler im sich damals bereits anbahnenden Russland-Ukraine-Krieg, mit dem bekannten Erfolg bei dessen Verhinderung);
  • Ansonsten verkündete Emmanuel Macron seinerseits vor allem, er wolle bei der Rentenpolitik für eine Anhebung der Niedrigrenten und die Festsetzung einer Mindestrente bei 85 % des gesetzlichen Mindestlohns (SMIC) sorgen. Diese Minimalrente hätte demnach damals näher bei 1.100 euro netto gelegen, und würde inzwischen aufgrund inflationsbedingter Anpassung des Mindestlohns näher bei 1.200 euro monatlich liegen. Ausdrücklich erklärte Macron damals dazu, dieses existenzsichernde Minimum für Verrentete solle für künftige Neurentner/innen, aber auch „für diejenigen, die bereits in Rente sind“, Nur will das Regierungslager davon allem Anschein nach derzeit nichts mehr wissen, denn nunmehr ist offenkundig nur noch die Rede von einer Einführung einer solchen Mindestrente für später in Rente gehende Jahrgänge… (Vgl. dazu: https://www.lemonde.fr/politique/article/2022/12/16/retraites-des-ambitions-revues-a-la-baisse-sur-le-minimum-de-pension_6154723_823448.html externer Link)

Zu näheren Inhalten

Ansonsten bleibt Vieles auch derzeit noch im Unklaren, bis hin zur genauen Zahl, die vor dem Mindest-Renteneintrittsalter stehen wird. „64“ oder „65“ stehen dabei derzeit zur Diskussion. Vorsicht, dabei geht es nicht um eine volle, d.h. abschlagsfreie Rente, sondern nur um das Recht an und für sich, in Rente zu gehen. Um eine solche ohne Abschläge zu beziehen, ist es derzeit erforderlich, entweder mindestens 43 Jahre Beiträge (ab Jahrgang 1973) in die Rentenkasse einbezahlt zu haben – solches seit der letzten „Reform“ unter Präsident François Hollande oder Loi Touraine von 2014, denn bei der vorletzten „Reform“ unter Rechtspräsident Sarkozy oder Loi Woerth von 2010 waren es noch 41,5 Beitragsjahre – oder aber mindestens 67 Jahre alt zu sein. Ob diese Alters- respektive Beitragsgrenzen beibehalten oder jedoch ebenfalls zur Disposition gestellt werden, ist derzeit noch offen. – Auch in Deutschland besteht ja die (derzeit in der öffentlichen Diskussion umstrittene) Möglichkeit, ab 63 in eine Rente mit Abschlägen zu gehen (vgl. https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Rente/Allgemeine-Informationen/Rentenarten-und-Leistungen/Altersrente-fuer-langjaehrig-Versicherte/altersrente-fuer-langjaehrig-versicherte_node.html externer Link).

Unklar ist derzeit auch noch, ob es lediglich eine Altersmaßnahme (durch Erhöhung des Mindesteintrittsalters zur Rente) oder aber auch eine Veränderung der Bemessungsgrundlage der Rentenzahlungen geben soll. Im Zuge des 2019 verkündeten, Anfang 2020 vorläufig gescheiterten „Reform“programms sollte Letztere dergestalt abgeändert werden, dass die künftig auszuzahlende Rente auf die Löhne oder Gehälter respektive Arbeitslosengeldzahlungen während des gesamten Erwerbslebens einer Person angerechnet werden sollte. Bis dahin hatte historisch zunächst gegolten, dass die Rente (in Gestalt eines Prozentsatzes des jeweiligen Brutto-Durchschnittsgehalts, bei abschlagsfreier Rente i.d.R. 50 %; vgl. https://www.lassuranceretraite.fr/portail-info/hors-menu/annexe/salaries/montant-retraite/calcul-detail.html externer Link) auf die besten zehn Verdienstjahre im Laufe der Erwerbsbiographie – das sind oft, jedoch nicht immer die letzten Jahre, so dass ein brutales Absinken des am Schluss erreichten Lebensstandards verhindert wurde – angerechnet wird. Aber seit der im Hochsommer 1993 unter dem damaligen konservativen Premierminister Edouard Balladur mitten in der Urlaubsperiode sang- und klanglos durchgedrückten „Reform“ war diese Zehn-Jahres-Regel durch eine Berechnung auf der Grundlage der besten 25 (statt der besten zehn) Jahre ersetzt worden. Dies bewirkte selbstredend eine Absenkung der Bemessungsgrundlage. Würde es zu einer Ausdehnung der Berechnungsgrundlage auf das gesamte Erwerbsleben statt „nur“ dieser fünfundzwanzig Jahre kommen, hätte dies eine weitere Absenkung des Rentendurchschnitts zur Auswirkung. 2019/20 war genau dies geplant. Ob diese Idee erneut ein Thema sein wird oder nicht, steht zum jetzigen Zeitpunkt (d.h. zum Jahreswechsel 2022/23) noch nicht fest.

Den Rest der Regierungspläne wird nun also Premierministerin Elisabeth Borne am Dienstag, den 10. Januar 23 verkünden. Ursprünglich hätte diese Ankündigung übrigens am Donnerstag, den 15. Dezember 22 erfolgen sollen. Doch selbst relativ konservative Gewerkschaften wie die CFE-CGC (die gewerkschaftliche Vertretung der höheren und leitenden Angestellten) protestieren in den Tagen davor energisch dagegen, dass Borne sich damals dazu anschickte, fertige Pläne auf den Tisch zu packen und zu verkünden, die zu dem Zeitpunkt jedenfalls formal noch den Gegenstand von „Konzertierungsgesprächen“ mit den so genannten Sozialpartner bildeten. Um sich an dem Punkt keine allzu manifeste Legitimationsschwäche und dadurch eine offene Flanke zu liefern, zog die Regierung damals also sehr kurzfristig ihre für den 15.12.22 geplante offizielle Ankündigung zurück.

Dabei profitierte sie vordergründig auch davon, dass die französische Nationalmannschaft (der Herren) damals in’s Halbfinale und schließlich am 18. Dezember ins Finale der Fußball-WM in Qatar einzog; Emmanuel Macron flog daraufhin gleich zwei mal in derselben Woche in den Golfstaat. Die Ablenkung vom vorübergehend ungemütlich respektive inopportun gewordenen Renten-Thema war perfekt. Das Finalspiel verzeichnete in Frankreich einen historischen Zuschauer/innen-Rekord, mit 29,4 Millionen Eingeschalteten. (Vgl. https://www.midilibre.fr/2022/12/19/coupe-du-monde-2022-la-finale-suivie-par-24-millions-de-telespectateurs-sur-tf1-record-historique-daudience-10877978.php externer Link)

Nun gibt es jedoch allem Anschein nach kein Zurück mehr, denn würde Emmanuel Macron nach seinen relativ klaren Worten (jedenfalls zum Grundsatz einer bevorstehenden „Reform“, noch nicht zu ihren Inhalten) vom Abend des Sylvestertags nun noch zurückrudern, müsste er mit einem politischen Autoritätsverlust rechnen.

Umstritten blieb bis zuletzt im Regierungslager, ob zur Durchführung der „Reform“ auf ein normales Gesetz – das eine Abstimmung über ihre Inhalte im Parlament voraussetzt; diesbezüglich scheint Emmanuel Macron auf die Herausbildung einer Art Achse mit der konservativen Oppositionspartei Les Républicains (LR) mit derzeit rund sechzig Sitzen zu bauen (vgl. https://www.lemonde.fr/politique/article/2022/12/21/reforme-des-retraites-matignon-veut-croire-a-une-entente-avec-les-republicains_6155329_823448.html externer Link) – oder aber auf einen scheinbar nur „technischen“ Text in Gestalt eines Haushaltsgesetzes dienen soll. Bei Letzterem ginge es um die Verabschiedung eines Nachtragshaushalts für die Sozialkassen, nachdem das jährliche „Haushaltsgesetz zur Finanzierung der Sozialversicherungssysteme“ (PLFSS) für 2023 bereits im Laufe des Herbsts 2022 verabschiedet und am 23. Dezember des Jahres im Amtsblatt verkündet worden ist (https://www.securite-sociale.fr/la-secu-en-detail/loi-de-financement/annee-en-cours externer Link)

Taktischer Vorzug des Rückgriffs auf ein (Nachtrags-)Haushaltsgesetz wäre es, dass sich dadurch die Parlamentsdebatte zur Reform aushebeln ließe. Die französische Verfassung enthält bekanntlich einen Passus in Gestalt des inzwischen berühmten Artikels 49 Absatz 3, welcher es erlaubt, dass die Regierung ein Gesetzesvorhaben mit dem Stellen der Vertrauensfrage verknüpft: Dieses Gesetzesvorhaben gilt dadurch automatisch als angenommen, sofern die Regierung nicht im Zuge der (zeitlich stark verkürzten) Debatte über ein Misstrauensvotum einer Parlamentsmehrheit stürzt. Um ein Haushaltsgesetz würde es sich wiederum deswegen handeln, weil die französische Verfassung in ihrer derzeit geltenden Textfassung die Verwendung dieses Instruments – Artikel 49 Absatz 3 – nur für einen Gesetzestext pro Sitzungsperiode erlaubt, mit Ausnahme von Haushaltsgesetzen, die von dieser Begrenzung grundsätzlich nicht betroffen sind. Grund dafür ist, dass Haushaltstexte viele unterschiedliche Politikfelder und -themen abdecken, da sie die Finanzierungsentscheidungen des jeweiligen Regierungslagers auf quasi allen Gebieten bündeln. Am 15. Dezember 22 setzte die, erst seit Juni 22 amtierende Premierministerin Elisabeth Borne den Artikel 49 Absatz 3 in diesem Zusammenhang bereits zum zehnten Mal hintereinander ein. (Vgl. https://www.francetvinfo.fr/politique/gouvernement-d-elisabeth-borne/elisabeth-borne-recourt-pour-la-dixieme-fois-a-l-article-49-3-afin-de-faire-adopter-le-projet-de-loi-de-finances-la-nupes-depose-une-motion-de-censure_5546049.html externer Link)

Aus diesem Grunde auch denkt die amtierende Regierung daran, die „Reform“ eben über einen Nachtragshaushalt (für die Sozialkassen) umzusetzen, nämlich um dieses verfassungsrechtliche Instrument einsetzen zu können, ohne es stumpf werden zu lassen respektive für den Rest des Jahres damit aus der Hand zu geben – bekanntlich verfügt das Regierungslager seit der Wahl der Nationalversammlung im Juni 2022 nur noch über eine relative Mehrheit und keine absolute Sitzmehrheit mehr. Allerdings wiese die Sache auch einen Haken, einen gravierenden Nachteil auf. Nicht nur würde die politische Legitimation besonders gering ausfallen, besonders schlecht dastehen, wenn die Regierung solcherart gewissermaßen zu einem Verfahrenstrick greift und eine tiefgehende „Reform“ als rein technische Bestimmung in einem Haushaltstext ausflaggt. Auch die Gewerkschaften, von denen – zu Legitimationszwecken – zumindest ein Teil am besten mitgehen sollte, würden eventuell gar nicht mitziehen.

Auch die konservative Oppositionspartei LR droht, in einem solchen Falle (dem eines gänzlichen Abwürgens einer Parlamentsdebatte zum Thema) zu bocken; und sei es nur, weil sie erheblichen Wert auf die Bedeutung ihrer Parlamentsfraktion als ihre letzten Machtbasis nach mehreren von ihr verlorenen Präsidentschaftswahlen in den Jahren 2012, 2017 und 2022 legt. Als seit Dezember 22 frisch amtierender, neuer Parteichef von LR übt Eric Ciotti, obwohl selbst ein erwiesener Wirtschaftsliberaler mit ansonsten semi-rechtsextremem Profil (vgl. dazu unseren Teil III zum Thema Einwanderungspolitik/gesetz), sich in den letzten Tagen sogar einer gewissen sozialen Demagogie und versucht den Anschein zu erwecken, er treibe das Regierungslager etwa beim Thema „Anhebung der Niedrigrenten“ vor sich her. (Vgl. https://www.lemonde.fr/politique/article/2022/12/21/retraites-le-parti-les-republicains-ne-soutiendra-pas-la-reforme-a-n-importe-quel-prix-previent-son-patron-eric-ciotti_6155287_823448.html externer Link) Auch wenn es ihm dabei vorrangig darum geht, den politischen Preis für eine Zustimmung der LR-Parlamentsfraktion zum Regierungsvorhaben hochzutreiben und dadurch seiner Partei eine günstige strategische Position zu verschaffen, muss die Regierung doch diesen Störfaktor einkalkulieren. Schaltet sie jedoch die Aussprache im Parlament durch einen frühzeitigen Rückgriff auf den Verfassungs-Artikel 49 Absatz 3 aus, dann droht diese konservative Oppositionspartei, störrisch zu werden.

Nunmehr zeichnet sich im Regierungslager als neue Kompromisslinie ab, dass dieses auf eine doppelte Vorgehensweise setzen könnte, also zwei Texte miteinander kombinieren wird:

  • einen Nachtragshaushalt (für die Sozialkassen), per „Artikel 49 Absatz 3“ zügig verabschiedet, um die zentralen Inhalte der Reform und insbesondere die Festlegung des neuen Renten-Mindesteintrittsalters von 65 Jahren durchzudrücken;
  • und danach ein „normales“ Gesetz, mit Aussprache und Abstimmung im Parlament, um nähere Einzelheiten wie etwa Finanzierungsfragen zu klären.

So sah jedenfalls kurz vor Beginn der Parlamentspause zwischen Weihnachten (22) und Neujahr (2023) der Stand der Dinge aus…Vgl. dazu: https://www.lemonde.fr/politique/article/2022/12/21/retraites-le-plan-en-deux-temps-de-macron_6155264_823448.html externer Link

Zu einem „Kompromiss“ mit einem Teil der Gewerkschaften, gedacht ist dabei selbstredend in erster Linie an den rechtssozialdemokratisch und pro-neoliberal geführten Dachverband CFDT (zuzüglich des vordergründig „unpolitisch“ auftretenden, oft CFDT-nahe Positionen beziehenden Gewerkschaftszusammenschlusses UNSA), wird es dagegen möglicherweise nicht kommen. Aufgrund ihres Vorgehens bei den letzten Ankündigungen zur Arbeitslosenversicherung kurz vor der Weihnachtspause 2022 dürfte sich die Regierung wahrscheinlich die Zustimmung der CFDT abschminken können; sollte deren Spitze doch noch auf Regierungslinie einschwenken (wie sie es bei früheren Renten„reformen“ 1995 unter Premierminister Alain Juppé und 2003 unter Premier Jean-Pierre Raffarin tat!), hätte dies wohl einen hohen politischen Preis für dieselbe.

„Reform“ der Arbeitslosenversicherung

Bei dem zuletzt aufgeführten Punkt – Ankündigungen zur Arbeitslosenkasse bzw. ihrer „Reform“ vom Dezember 2022 – geht es darum, dass die Regierung die Gewerkschaften einschließlich der nicht wirklich sonderlich klassenkämpferisch gesonnenen CFDT kurz vor Weihnachten des Jahres überrumpelte.

Bei der erwähnten „Reform“ geht es nur um deren letzte Stufe. Eine erste Reformstufe bei der Arbeitslosenversicherung war bereits 2019 durch die damalige Macron-Regierungsmannschaft umgesetzt worden. In ihrem Gefolge wurde u.a. das bis dahin bestehende Recht auf (zeitlich sehr begrenzten) Bezug von Arbeitslosengeld bei kurz befristeten Arbeitsverträgen ausgehebelt, indem erst eine Beschäftigungsperiode von mindestens sechs Monaten – statt zuvor einem Monat – das Anrecht auf einen vorübergehenden Bezug von Arbeitslosengeld verschafft. Zuvor war dies ab einer Mindestbeschäftigung von einem Monat möglich, wobei die Bezugsdauer ungefähr proportional zur vorausgehenden Beschäftigungsdauer ausfiel. Ferner wurden Kontrollen und daraus resultierende Sperrmöglichkeit von arbeitslos Gemeldeten ausgeweitet und verschärft. In den Jahren von 2017 bis 2022, die der ersten Amtszeit Emmanuel Macrons entsprechen, sank i.Ü. die Anzahl der bezugsberechtigten arbeitslosen Personen prozentual von zuvor 41 % auf einen Anteil auf 36 %. Vgl. https://assawra.blogspot.com/2022/12/surprise-du-jour_31.html externer Link

Seit einem im November 2022 durch das Parlament angenommenen, und daraufhin am 21. Dezember 22 durch Staatspräsident Macron unterzeichneten sowie am folgenden Tag im Amtsblatt veröffentlichten Gesetz ist nun eine neue Stufe der „Reform“ vorgesehen. Diese soll ab dem 1. Februar 2023 den so genannt Arbeitsmarkt erneut „reformieren“ in erster Linie dazu führen, aus einem vorherigen Arbeitsverhältnis ausgeschiedene Lohnabhängige schneller und mit weniger Bedingungen in neue Arbeitsverhältnisse zu „vermitteln“. Das Gesetz erlaubt es der Regierung, nähere Einzelheiten per Dekret (Exekutivverordnung) festzulegen.

Bereits im Vorfeld hatte das Regierungslager unter Arbeits- und Sozialminister Olivier Dussopt angekündigt, sie plane eine „großwetterlagenabhängige“ Funktionsweise der Arbeitslosenversicherung. Bislang beträgt die Höchst-Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für vormals Erwerbstätige, die dafür mindestens zwei Jahre Beiträge eingezahlt haben mussten (also sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren), 24 Monate. Diese Maximaldauer wird nur erreicht, wenn die Betreffenden nicht zuvor aufgrund fehlender Rückmeldung oder aber, laut Auffassung von Sachbearbeiter/inne/n, mangelnder oder mangelhaft nachvollzieh- und überprüfbarer Jobsuche gesperrt wurden. Aufgrund sinkender Erwerbslosenzahlen einerseits, relativ offenen Stellen in Bereichen wie u.a. der Gastronomie, aber auch des Transportsektors und Fernverkehrs (LKW-Transports) sowie zunehmend in Gesundheitsberufen – aufgrund sich herumsprechender katastrophaler Zustände im öffentlichen Gesundheitswesen, vgl. oben – will die Regierung nun an dieser Höchstdauer herumschrauben.

Zunächst verkündete sie im Laufe des Herbsts 2022, sie plane eine Modifizierung dergestalt, dass die Höchstbezugsdauer weiterhin 24 Monate betragen soll – jedoch um ein Viertel auf 18 Monate abgesenkt wird, sofern die Arbeitslosenquote im Gesamtdurchschnitt (der Berufsfelder) auf sieben Prozent oder darunter sinkt. So viel war vorab schon bekannt.

Am Freitag, den 23. Dezember 2022 – also am Tag nach der Veröffentlichung des neuen Reform-Gesetzes im Amtsblatt/Amtsanzeiger JORF (Journal officiel de la République française), jedoch auch just am Vorabend der diesjährigen Weihnachtspause – sandte die Regierung den Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbänden den Entwurf ihres neuen Dekrets zu. Ein solches, also einen nähere Ausführungsbestimmungen zu dem allgemeiner gefassten Gesetz enthaltenden Text, muss die Regierung nun bis zum 1. Februar 23 verabschieden.

Als sich die so genannten Sozialpartner bereits mit einem Bein in der Weihnachtspause befanden, erhielten sie nun also den Entwurf. Dieser sieht – Überraschung!- nicht nur die bereits erwähnte Kürzung der Höchstbezugsdauer von Arbeitslosengeld um 25 Prozent (d.h. von 24 auf 18 Monate) bei Unterschreiten einer Arbeitslosenquote von 7 Prozent vor. Sondern auch, was ihnen gegenüber niemals zuvor erwähnt worden war, eine weitere Absenkung dieser Höchstdauer um nun nicht 25 %, sondern gleich 40 Prozent, sofern die durchschnittliche Arbeitslosenquote einen Wert von 6 Prozent unterschreitet.

Dem Vernehmen nach war auch der, nicht eben als kompromissloser Kämpfer für soziale Belange prominent gewordene CFDT-Generalsekretär Laurent Berger richtig, richtig sauer. So kann man nun einmal mit Gewerkschaftsfunktionären nicht umspringen…

Infolgedessen sinken nun aber auch die Chancen für das Regierungslager, sich den Zuspruch der CFDT-Verbandsspitze zu ihren Renten-Reformplänen zu sichern, ziemlich erheblich. Unterdessen lieferten sich Emmanuel Macron und seine Umgebung sich kurz, zuvor mittels in den Medien durchgestochener Aussagen, einen kleinen Angebots- oder auch Erpressungs-Wettbewerb: Der Staatspräsident wolle ja die Zahl „65“ (als Mindest-Eintrittsalter) verkünden; doch im Falle „substanziellen Entgegenkommens mindestens einer wichtigen Gewerkschaft“, also kurz: wichtiger Zugeständnisse durch die CFDT, könne er ja dann doch über die „64“ mit sich reden lassen. Nun ja. Fortsetzung folgt bestimmt…

Noch einige Hinweise auf jüngste Publilationen zur Affäre um die Arbeitslosenkassen-Reform:

Siehe dazu aktuell im LabourNet Germany auch:

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Teil II: Frankreich: Ökologische Widerstände

Klimaaktivismus und Umweltmilitanz – Auch in Frankreich debattiert man über angeblichen „Ökoterrorismus“, werden junge (und manchmal weniger junge) Leute aktiv

Alle reden vom Klima, wir nicht: Aus Anlass des jüngst (im November 22) ablaufenden, mit wenig günstigen Ergebnissen endenden Klimagipfels in COP27 in Kairo gaben Millionen von Menschen weltweit ihrer Besorgnis für einmal mehr folgenlose Worte sowie weitaus unzureichende Maßnahmen gegen den menschengemachten Klimawandelt Ausdruck. Unterdessen erfuhr mal im Zuge der Debatten rund um die COP27 beiläufig, dass Indien derzeit eine klimawandelbedingte Katastrophe… pro Tag erleidet. (Vgl. https://www.lemonde.fr/climat/article/2022/11/09/en-inde-une-catastrophe-climatique-par-jour_6149090_1652612.html externer Link) Das Nachbarland Pakistan mit über 200 Millionen wurde in diesem Jahr infolge katastrophenartiger Monsunfälle zu einem Drittel des Staatsgebiets überschwemmt.

Auch nach dem Gipfel, in der Vorweihnachtszeit blieben in Frankreich einige Leute nicht passiv. So war in einer Fabrik des bekannten französischen Zementfabrikanten Lafarge – dieses Unternehmen wurde im Oktober 2022 aufgrund seiner Geschäfte mit dem sog. Islamischen Staat (IS) in Syrien, nachweislich durchgeführt in den Jahren 2013 und 14, zu lockeren 778 Millionen Dollar Strafzahlung verurteilt, vgl. https://www.france24.com/fr/moyen-orient/20221018-lafarge-lourdement-condamn%C3%A9-aux-%C3%A9tats-unis-pour-son-soutien-%C3%A0-des-organisations-terroristes-en-syrie externer Link – in Südfrankreich im zurückliegenden Dezember, nun ja, ziemlich was los. An dem Standort in Bouc-Bel-Air in der Nähe von Marseille wurden noch in jüngerer Vergangenheit Autoreifen, höchst klima- und umweltfreundlich, zur Wärmegewinnung für die Zementherstellung verbrannt.

Konkret drangen rund 100 ökologisch orientierte Aktivist/inn/en, in Overalls verkleidet, in das Zementwerk ein, trennten Kabel durch und beschädigten Werkfahrzeuge. Die Örtlichkeiten blieben danach geschlossen. Wirklich schlimm und wir können dies natürlich nur total-fatal verurteilen, denn das ist ja verboten.

Das Unternehmen Lafarge, Eigentümer des Werks, protestierte im Nachhinein in den Medien mit dem Argument, der betroffene Standort sei besonders umweltfreundlich gewesen, da man dort in eine Modernisierung der Produktionstechniken investiert habe. Gar zu lang kann dies jedoch nicht her gewesen sei, denn am 31. März 2021 erhielt die Direktion eine Abmahnung seitens der Präfektur (juristischen Vertretung des Zentralstaats im Département von Marseille), die sie dringend zur Reduzierung ihrer schädlichen Emissionen aufforderte. (Vgl. https://marsactu.fr/a-bouc-bel-air-la-cimenterie-lafarge-forcee-de-reduire-ses-sulfureux-rejets/ externer Link) Es ist durchaus seltsam, aber der böse Zufall will es allem Anschein nach, dass grundsätzlich immer dann, wenn ein Industriestandort wegen Umwelt- oder Klimaschädigung – verbal oder nonverbal attackiert wird, es sich just um einen besonders umweltfreundlichen und besonders modernisierten handelt. Verhext aber auch.

Vgl. dazu:

Konservative Ordnungspolitiker zeigen sich unterdessen nicht so sehr über die Umwelt- und Klimakrise besorgt, sondern in erster Linie über den in ihren Augen überbordenden Tatendrang derer, die solche Vorgänge weder für natürlich noch für hinnehmbar halten. Nicht nur in Deutschland, wo ein Berufspolitiker sich dazu hieß, unter Hinweis auf bewaffnet agierende Kleinstgruppen der 1970er Jahre von einer „Klima-RAF“ zu schwafeln. (Vgl. https://www.stern.de/politik/deutschland/dobrindt-verteidigt–klima-raf–warnung-gegen-kritik-32893528.html externer Link)

Aber auch in Frankreich haben hanebüchene Terrorismusvergleiche, wie auch der haarsträubende Umgang mit Gesetzen in Gestalt des Heranziehens repressiver Bestimmungen gegen Umwelt-Aktivismus einige Tradition. Unvergessen das Agieren des französischen Staats bei einer der vorigen Klimakonferenzen, am Rande der COP21, die im November und Dezember 2015 in der Nähe von Paris stattfand. Wenige Wochen zuvor hatten die tatsächlich mörderischen und verheerenden Terroranschläge von Jihadisten im Konzertsaal Bataclan und an anderen Orten in Paris – 130 Tote – stattgefunden. Den infolgedessen verhängten Ausnahmezustand nahm die damalige, nominell sozialdemokratische, französische Regierung zum Anlass, um ein Demonstrationsverbot gegen klimabesorgte Menschen zu verhängen, 24 Klimaschützerinnen und -schützer unter Anwendung von Bestimmungen der Anti-Terror-Gesetzgebung unter Hausarrest zu stellen und Hunderte Menschen auf der place de la République mitten in Paris einzukesseln. 365 von ihnen wurden vorläufig festgenommen; der Verfasser dieser Zeilen entging dem damals knapp. (Vgl. https://jungle.world/artikel/2015/50/klima-retten-aber-anders externer Link)

Auch in den letzten Wochen und Monaten warfen französische Staatsrepräsentanten mit Terror- und Jihadismus-Vergleichen in solchen Zusammenhängen unbedacht um sich. Ein Präfekt (juristischer Vertreter des Zentralstaats im Département und/oder der Region) im westfranzösischen Poitiers benutzte etwa jüngst das zumindest theoretisch „gegen den Jihadismus begünstigende Ideologien“ gerichtete Gesetz vom 24. August 2021, um im September dieses Jahres eine Finanzierung der ausschließlich gewaltlos agierenden Klimaschützer/innen/bewegung Alternatiba durch das grün geführte Rathaus von Poitiers zu verbieten. (Vgl. https://reporterre.net/Un-prefet-macroniste-s-attaque-a-Alternatiba externer Link) Präfekten üben eine Rechtsaufsicht über die Kommunalpolitik aus.

Handhabe bot ihm dazu konkret das seit 2020 diskutierte, im August 2021 definitiv in Kraft getretene so genannte „Anti-Separatismus-Gesetz“ (zuletzt umbenannt in „Gesetz zur Stärkung der Werte der Republik“), das sich vorgeblich gegen radikalen Islamismus mittels Angriffs auf „Parallelgesellschaften“ richtet. (Vgl. https://france3-regions.francetvinfo.fr/nouvelle-aquitaine/vienne/poitiers/subventions-d-alternatiba-ce-n-est-pas-surprenant-que-ce-soit-une-association-ecologiste-qui-soit-ciblee-2618860.html externer Link) Und zwar, weil dieses vorschreibt, NGOs und Vereine hätten auf dem Boden der „Werte der Republik“ zu stehen. Aufrufe zu zivilem Ungehorsam, wie sie durch einen Referenten bei einer durch Alternatiba mitorganisierten Veranstaltung – die mit Unterstützung der Kommunalregierung von Potiers stattfand – getätigt worden sein sollen, sind in seinen Augen damit unvereinbar. Unterschiedlichste Nichtregierungsorganisationen hatten im Vorjahr vor einer stärkeren staatlichen Allgemeinkontrolle über NGOs nach Verabschiedung dieses Gesetzes gewarnt. Hier kommt nun die Quittung dafür, dass ihre Warnung in den Winden geschrieben wurden.

Noch direkter sprach Innenminister Gérald Darmanin im November dieses Jahres unmittelbar von „Öko-Terrorismus“. So lautete in Frankreich in den letzten Oktober- und ersten Novembertagen das Reizwort der Woche. (Vgl. https://www.lemonde.fr/societe/article/2022/11/03/gerald-darmanin-retropedale-sur-l-ecoterrorisme_6148313_3224.html externer Link) Es bezog sich auf Vorfälle bei einer Demonstration am dritten Oktoberwochenende in Sainte-Soline, zu welcher 6 bis 8.000 Menschen kamen. Dort wurden laut Angaben der Regierung um die sechzig Gendameriebeamte verletzt, umgekehrt sprachen Protestbeteiligte umgekehrt von sechzig verletzten Demonstrationsteilnehmern.

Dabei handelt es sich um traditionelle Auseinandersetzungen am Rande einer Umweltdemonstration gegen ein schädliches Großprojekt, wie es sie in der Bundesrepublik weiland in Wackersdorf gegen eine damals geplante – 1989 dann von staatlicher Seite aufgegebene Plutoniumfabrik gegeben hat. Damals wie heute geht es den Gegnerinnen und Gegnern darum, das Großprojekt an seiner Baustelle mindestens symbolisch zu treffen. Ritze, Ratze, voller Rücke, in den Bauzaun: eine Lücke…

Heute geht es dabei konkret um ein Bauvorhaben in Gestalt von Wasserrückhaltebecken, die aus den Grundwasserreserven gespeist werden sollen; insgesamt sechzehn größerer Reservoirs sind im westfranzösischen Département Deux-Sèvres derzeit geplant. Deren Inhalt soll der Intensivlandwirtschaft zur Verfügung stehen, insbesondere dem Maisanbau, welcher aufgrund seines besonders hohen Wasserverbrauchs in Zeiten des Klimawandelns und damit zusammenhängender Dürreperioden zunehmend umstritten ist. Aktuell hält die im Dezember 2021 in Frankreich ausgebrochene Trockenperiode immer noch an (vgl. https://www.20minutes.fr/planete/4006385-20221102-secheresse-deficit-eau-accentue-debut-automne-france externer Link), und 85 Prozent des französischen Staatsgebiets unterliegen nach wie vor Restriktionen beim Wasserverbrauch, gegenüber über 90 Prozent im Spätsommer, wenngleich die Einschränkungen zum Teil erleichtert wurden.

Viele Agrarexpertinnen und -exporten favorisieren mittlerweile oft eine Umstellung der Landwirtschaft etwa auf den Anbau genügsamer Getreidearten wie Sorgho, einer in Afrika viel genutzten Hirsesorte, um sich den Erfordernissen des Klimawandels anzupassen. Mais gilt jedoch als Gewinn ohne hohen Investitionsaufwand versprechend und wird in der Intensivtierhaltung wiederum zu Futterzwecken verwendet.

Nur fünf bis sechs Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe in dem westfranzösischen Département (vgl. https://www.lemonde.fr/planete/article/2022/11/02/les-opposants-a-la-reserve-d-eau-de-sainte-soline-lancent-un-ultimatum-au-gouvernement_6148259_3244.html externer Link), konkret rund 100 von insgesamt 1.800, würden Nutzen aus den Rückhaltebecken ziehen, die wiederum die Grundwasservorräte weiter aufzuzehren drohen. Überdies wird das bei Tourist/inn/en beliebte und für die Artenvielfalt wertvolle Feuchtgebiet der marais poitevins dadurch gefährdet. Da die Baumaßnahmen zugleich zu 70 % durch die öffentliche Hand finanziert werden (vgl. https://www.francetvinfo.fr/economie/emploi/metiers/agriculture/sainte-soline-pourquoi-lesmega-bassinescreent-elles-la-polemique_5450929.html externer Link), jedoch privatwirtschaftlichen Zwecken dienen und einem bestimmten, umstrittenen Typ von Landwirtschaft zugute kommen, herrscht auch in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem vom Beckenbau betroffenen Standort Unmut darüber.

Ein Landwirt, der selbst Getreide anbaut und einen wenig wasserintensiven Betrieb führt, stellte den Protestierenden deswegen sein Gelände zur Verfügung. Bis zum 19. Mai kommenden Jahres, wie er gegenüber den Medien immer wieder betont, da ab dem 20. Mai 23 dann für eine dreimonatige Brutzeit örtliche Vogelschutzmaßnahmen in Kraft treten und das Gebiet dann vor menschlichem Zutritt geschützt wird. So lange werden jedoch Protestcamps auf seinem Acker bestehen bleiben können, die vor dem Zugriff der Sicherheitskräfte geschützt sind, da der Landwirt als Eigentümer das Hausrecht innehat.

Der Bauzaun liegt von dort, wo die Masse der Protestierenden am vorletzten Wochenende campierte und sich zur Auftaktkundgebung sammelte, rund anderthalb Kilometer entfernt. Den Demonstrationszug hatte die Präfektin – die Vertreterin des Zentralstaats in der Kreishauptstadt – vorab verboten, wobei die Verbotsverfügung bekannt wurde, als viele Teilnehmer/innen sich bereits auf der Anreise befanden. Vor diesem Hintergrund versuchten starke Kräfte von Polizei und Gendarmerie, dazu waren 1.500 bis 1.600 Beamte zusammengezogen worden, den Übertritt vom privaten Grundstück zum Baugelände zu verhindern und den Bauzaun abzuschirmen. Dieser wurde unter Einsatz von Knüppeln und Tränengas geschützt. In Reaktion darauf kam es zu Würfen von Gegenständen.

Darmanin prägte vor diesem Hintergrund seinen Ausdruck vom angeblichen „ökologischen Terrorismus“, in Anlehnung an eine Debatte in den USA in den 1980er und 1990er Jahren. Dort ging es allerdings damals um Gruppen, die etwa bei „Tierbefreiungsaktion“ auch tatsächlich Waffengewalt einsetzten. In Frankreich wiesen im aktuellen Kontext, in dem es um so genannte Demonstrationsstraftaten, aber in keinem Falle um potenziell tödliche Gewalt oder auch nur um Straftaten gegen unbeteiligte Dritte ging, viele Medienvertreter und Oppositionsvertreter deswegen das Gerede vom „Terror“ zurück und wiesen darauf hin, dass dies reale Terrorismusopfer wie die vom Bataclan in Paris verhöhne. Selbst Regierungssprecher Olivier Véran wollte sich vor laufenden Kameras, nach der wöchentlichen Kabinettssitzung vom vorigen Mittwoch den Begriff zunächst nicht zu eigen machen. Erst nachdem er sich durch mehrfache Nachfragen genervt zeigte, reagierte er unwirsch mit den Worten: „Wenn Sie wollen, meinetwegen, dann benutze ich ihn.“

Im Vorfeld des Klimagipfels COP27 nahmen auch in Frankreich Aktionen von Umwelt- und Klimaaktivistinnen zu. So wurde mehrfach die Pariser Ringautobahn blockiert, und die Figur des britischen König Charles III im Pariser Wachsfigurenkabinett Musée Grévin bekam einen Tortenwurf ab. (Vgl. https://www.bfmtv.com/people/tetes-couronnees/des-militants-ecologistes-entartent-la-statue-du-roi-charles-chez-madame-tussauds_AD-202210240378.html externer Link) Auch Terror…?

Was die Behörden dagegen in Saint-Soline vor allem befürchten, wäre die dauerhafte Installierung eines Protestcamps von Platzbesitzern im Stile der ZAD („Zu verteidigende Zone“), die fünf Jahre lang die Widerstände gegen das Vorhaben eines gigantischen Flughafenausbaus in Notre-Dame-des-Landes in der Nähe von Nantes begleitet – das Vorhaben wurde verhindert, die Regierung gab es Anfang 2018 auf. (Vgl. https://jungle.world/artikel/2018/04/gelaende-fuer-kollektive-experimente externer Link) Den letzten Toten bei einer Demonstration gab es in Frankreich, mit Rémi Fraisse im Oktober 2014 (vgl. https://rdl.de/beitrag/die-angst-muss-die-seite-wechseln-reaktionen-auf-den-tod-des-demonstranten-r-mi-fraisse externer Link), ebenfalls aus Anlass eines ökologischen Protests gegen eine kritikwürdige Wasserpolitik, dessen Hintergründe mit dem jetzigen zu vergleichen sind.

Rückblick auf einen Glutsommer

Frankreich hat, dem Klimawandel sei es verdankt, einen extremen Dürresommer hinter sich. Und noch immer ist diese Dürreperiode bei Abschluss dieses Artikels, kurz vor Weihnachten 2022, nicht zu Ende. Denn von 95 französischen Départements auf dem europäischen Festland (hinzu kommen ein halbes Dutzend Insel- und Übersee-Bezirke), herrschten zu Anfang Dezember d.J. immer noch in 17 Einschränkungen beim Wasserverbrauch. In einigen von ihnen ist Wasser-Alarm noch bis im März 2023 verhängt. (Vgl. https://www.radiofrance.fr/franceinter/carte-quels-sont-les-16-departements-toujours-touches-par-des-alertes-secheresse-en-decembre-7465190 externer Link)

Ende August d.J. waren 29 Prozent der Zuflüsse der Loire ausgetrocknet, und weitere zwölf Prozent führten nur noch unterirdisch Wasser; der Strom hatte auf seinen 1.000 Kilometern Länge einen historischen Tiefststand erreicht. Das gesamte Becken der Loire war betroffen und damit auch die Standorte mehrerer Atomkraftwerke in Belleville, Dampierre-en-Burly, Saint-Laurent-des-Eaux und Chinon. Diese konnten weniger Kühlwasser entnehmen und hätten normalerweise aufgrund erhöhter Flusstemperaturen keine Abwässer mehr in die Loire oder ihre Zuflüsse einleiten dürfen. Doch der Betreiber EDF erhielt in diesem Sommer Ausnahmegenehmigungen dafür, auch wenn dies an mehreren Stellen zu einem massenhaften Fischsterben beitrug..

Menschen in fortgeschrittenem Lebensalter, die sich nostalgisch-verklärend an ihre Kindheit oder Jugend erinnern, sowie Klimawandelskeptiker und -leugner beruhigren derweil in zahlreichen Beiträgen bei Facebook und in den sozialen Medien: Es sei doch alles halb so wild, schließlich sei das mit der Dürre doch im Rekordsommer 1976 noch viel schlimmer gewesen, und damals habe doch noch niemand vom menschengemachten Klimawandel gesprochen. Oder jedenfalls fast niemand, denn in den Führungsetagen des französischen Erdölriesen ELF – später in TOTAL umbenannt, heute heißt der Konzern TotalEnergies – kursierten seit 1972 Papiere mit Untersuchungsergebnissen, die ihn eindeutig voraussagten, wie Le Monde im Oktober 2021 detailliert enthüllte. (Vgl. https://www.lemonde.fr/planete/article/2021/10/20/comment-total-et-elf-ont-contribue-a-nourrir-le-doute-sur-la-realite-du-changement-climatique_6099044_3244.html externer Link) Was dieses Unternehmen nicht daran hinderte, um absolut jeden menschlichen Preis die Jagd auf fossile Brennstoffe auf allen Kontinenten voranzutreiben. Noch heute ist ein neues, heftig umstrittenes und voraussichtlich ökologisch verheerendes Pipelineprojekt des französischen Konzerns durch Uganda und Tansania sowie Mozambik in Planung.

Das bekümmert die Schwätzer und -innen im Internet wenig, die da abwiegeln mit dem Argument, 1976 sei es doch bereits genau so gewesen, und damals, damals hätten es alle für natürlich gehalten. „45 Grad“ habe man damals in Frankreich gemessen, wollen sich da manche vorgeblich erinnern. Vorgeblich. Die von der Leugner-Szene eifrig in Umlauf gehaltene, vermeintlichen Lebenserinnerungen trügen allerdings vollständig. Alle ihnen zugrunde liegenden Zahlen sind falsch, wie die Regionalzeitung Ouest France bereits am 18. Juli 22 – die diesjährige Sommerglut hatte ihren Zenit bei weitem nicht überschritten – ausführlich belegte. (Vgl. https://www.ouest-france.fr/leditiondusoir/2022-07-19/la-canicule-actuelle-n-a-rien-a-voir-avec-celle-de-1976-voici-pourquoi-7ca0094d-0cc8-4289-a627-7013539f2b94 externer Link) Damals, vor 46 Jahren, lagen zwar weite Teile Nord- und Mittelfrankreichs in für die Landwirtschaft katastrophaler Weise trocken, doch in Südfrankreich regnete es ausreichend, so dass seinerzeit nicht das gesamte Staatsgebiet betroffen war, anders als heute. Die Dürre begann damals im Mai jenes Jahres; jetzt jedoch ist in vielen Regionen bereits seit Dezember 2021 von ununterbrochener Wasserknappheit die Rede.

(Einschub: Zehn Millionen Häuser sind unterdessen – lt. einer Reportage beim Sender BFMTV vom 1.11.22 – von Rissen bedroht, weil sie auf Tonböden errichtet wurden, deren normale Durchschnittsfeuchtigkeit verschwunden ist, die sich dadurch auf ungewohnte Weise ausdehnen und zusammenziehen, wodurch Gebäude beschädigt werden. Die Versicherungsunternehmen werden bereits mit einer wachsenden Anzahl von Schadensmeldungen konfrontiert, die sie bislang abblocken…)

Vor allem aber hatten die bei der Dürre 1976 gemessenen Temperaturen real wenig mit den heutigen gemein. Eine einzige Hitzephase wurde damals verzeichnet, vom 23. Juni bis zum 06. Juli 1976. Die Temperaturen – erinnert die Tageszeitung 20 minutes am 22. August dieses Jahres – lagen damals zwischen 26 und 30 Grad und kletterten punktuell auf Spitzenwerte bis zu 32 Grad. (Vgl. https://www.20minutes.fr/planete/3338323-20220822-oui-canicules-secheresse-2022-plus-intenses-1976 externer Link)

Heutzutage wäre das ausgesprochen banal. In diesem Jahr, das sich in Frankreich durch fünf Hitzeperioden auszeichnete, wurden erstmals am 17. und 18. Juni 22, also noch vor dem kalendarischen Sommerbeginn!, Temperaturrekorde in mehreren Städten oberhalb der 40 Grad vermeldet. Den Spitzenwert erreichte dabei die Wetterstation im südwestfranzösischen Belin-Béliet mit 43,2° C an einem Juninachmittag. (Vgl. https://www.lebelinetois.fr/2022/06/18/belin-b%C3%A9liet-une-temp%C3%A9rature-de-43-2-c-le-record-de-temp%C3%A9rature-absolu-en-gironde/ externer Link) Dieselbe Stadt blieb noch mehrere Wochen lang immer wieder ein Glutherd, denn in Belin-Béliet wurde in der zweiten Augustwoche einer der katastrophalen Waldbrände dieses Sommers verzeichnet. Wenigstens auf diesem Gebiet blieben die traurigen Rekorde bislang noch hinter jenen von 1976 zurück: Damals brannten über das Jahr hinweg insgesamt 88.000 Hektar Wald in Frankreich ab. In diesem Jahr wurden am 12. August die 60.000 Hektar überschritten; Ende August d.J. wurde die Marke von 62.000 Hektar erreicht. (Vgl. https://fr.statista.com/statistiques/1321001/hectares-forets-brules-france/ externer Link) Kleinere Brände (relativ kleinere) fanden auch danach noch statt, und dies bis tief in den Oktober hinein. (Vgl. https://france3-regions.francetvinfo.fr/nouvelle-aquitaine/landes/landes-entre-5-et-10-ha-de-foret-brules-a-commensacq-2636464.html externer Link)

Die Brände, die am 20. Juli dieses Jahres eine sichtbare Rauchwolke von den damaligen größten Feuerherden in La Teste-de-Buch und Landiras in der Nähe von Bordeaux bis in den Pariser Abendhimmel trugen, brachen im Laufe dieses Sommers immer wieder aus. Im Raum Bordeaux werden unterdessen Konsequenzen für die Weinernte befürchtet. Auf der einen Seite sind die Anbauer zufrieden, da die Traubenernte in Südwestfrankreich nach der langen und intensiven Sonneneinstrahlung erheblich vorgezogen wird und bereits Ende August beginnt. Doch andererseits befürchten viele Beobachter/innen, dass die Raucheinwirkung einen unangenehmen Geschmack im Produkt hinterlässt, wie es im vorigen Jahr mancherorts beobachtet wurde. Die konkreten Auswirkungen hängen vom Standort und besonders von der dort vorherrschenden Windrichtung ab.

Andernorts sind die Weinbergbesitzer nicht so sehr über frühe Erntetermine erfreut, sondern eher darüber besorgt, dass heftige Gewitter und Hageleinschläge die Weinberge gefährden oder, wie im südostfranzösischen Département Var, bereits beschädigt haben. Heftige Wetterphänomene dieser Art sind ebenfalls ein Bestandteil der Auswirkungen des menschenverursachten Klimawandels und werden durch die Überhitzung des Mittelmeers verstärkt: An manchen südostfranzösischen und korsischen Stränden war die Brühe im August bis zu 30° Grad warm. Dadurch werden die Gewitter intensiver. Auf Korsika starben in der dritten Augustwoche d.J. drei Menschen bei einem plötzlich aufziehenden, durch die Wettervorhersage nicht angekündigten Unwetter, bei dem Sturmgeschwindigkeiten bis zu 225 km/h auftraten. In Süd- und Südostfrankreich, wo sich alljährlich Wassermassen aus dem aufgeheizten Mittelmeer im Laufe des Herbsts abregnen, wird nun für das letzte Jahresdrittel vor allem an Gebirgszügen mit schlimmen Hochwasserschäden gerechnet.

„Der diesjährige Sommer muss unser Pearl Harbor werden“, forderte der grüne Spitzenpolitiker und vormalige Präsidentschaftskandidat des Frühjahrs 2022, Jannick Yadot, vor diesem multiplen Hintergrund in einem relativ vielbeachteten Interview, das am 21. August 22 in der Sonntagszeitung JDD erschienen ist. (Vgl. https://www.lejdd.fr/Politique/yannick-jadot-au-jdd-je-souhaite-quil-y-ait-une-liste-ecologiste-aux-europeennes-4129244 externer Link) Er meinte damit ein schockierendes oder aufrüttelndes Ereignis, das zu wichtigen Maßnahmen oder Verhaltensänderungen führt wie 1941 der japanische Angriff auf Hawaii zum Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg.

Yadot und sein Parteifreund Julien Bayou forderten konkret etwa ein Verbot von oder mindestens Kontrollen und Einschränkungen bei Privatjetflügen. Voraus ging seit Juli dieses Jahres eine Polemik um Flüge von französischen Milliardären und Großunternehmern, nachdem durch Netzaktivist/inn/en, die ihre Flugdaten verfolgten, Einzelinformationen über Jetreisen von Vincent Bolloré und Bernard Arnault veröffentlicht worden waren. Ersterer leitet einen multidimensionalen Konzern, der vor allem im Medien-, Transport- und neokolonialen Afrikageschäft aktiv ist, Letzterer den Luxuswarenfabrikaten LVMH. Zu Arnault wurden eigene Twitter- und Instagram-Konten unter den Namen I fly Bernard und L’avion de Bernard (Bernards Flugzeug) eingerichtet, Letzteres zählte im Spätsommer dieses Jahres allein 56.000 Abonnent/inn/en. Bolloré flog etwa an einem Tag von Paris nach Palermo, zurück und zwei mal zwischen Paris und Südfrankreich hin und her, vielleicht, um dort in einem Büro das Licht auszuschalten. Auf Kurzstrecken, die problemlos auch im Hochgeschwindigkeitszug zurückgelegt werden konnten, wurde geflogen wie zwischen Paris und London für Arnault oder von Paris nach Aix-en-Provence für den Chef von TotalEnergies, Patrick Pouyanné. Ein Jetflug dauert auf den Strecken jeweils gut eine Stunde, doch man auch muss erst zu einem Flughafen oder Landeplatz außerhalb der Stadt kommen – von Zentrum zu Zentrum würde man im Zug circa drei Stunden benötigen. Eine Reise im Jet zwischen Paris und Aix entspricht vom CO2-Ausstoß her 1,8 Millionen Kilometern Zugfahrt.

Wasser predigen und Whisky saufen

Pouyanné hatte aus demselben Anlass, bei seinem Auftritt auf einem Wirtschaftsforum in Aix-en-Provence am 09. Juli d.J., das breite Publikum zum Energiesparen zwecks Zukunftssicherung aufgefordert. So sollten die Menschen aus ökologischen oder Klimaschutzgründen ihren Heißwasserboiler zu Hause auf maximal 50 Grad einstellen, „statt auf 60 oder 70 Grad“. Manche Bakterien dürften ihm höchst dankbar (nein, nicht „hochgradig“) dafür sein; Legionärsbakterien etwa gedeihen bei Temperaturen ab 55 Grad Celsius abwärts wunderbar.

Bei den übrigen Flügen Pouyannés und seiner Milliardärskollegen ist nicht gesichert, ob sie Firmenzwecken oder privaten Belangen dienten, wahrscheinlich einer Mischung aus beiden.

Das Regierungslager stellte sich jedoch scharf gegen die Vorstöße, deswegen an Regulierungen oder Einschränkungen im Privatjetverkehr zu denken. Derzeit sind zehn Prozent der Flugzeugbewegungen in Frankreich Privatflüge. Der Sektor befindet sich in starkem Wachstum, da infolge der aufeinander folgenden Wellen der Covidpandemie jene, die es sich leisten können, oft von Linien- auf Privatflüge auswichen. Ihr führender Anbieter in Frankreich, VallJet, Eigentümer von dreißig Flugzeugen, verzeichnete ein Wachstum von 80 Prozent im Sommer 2022 gegenüber demselben Zeitraum im Jahr 2021 und von 190 Prozent gegenüber 2020. Die Branche des privaten Flugverkehrs wehrt sich gegen Einschränkungen mit der Behauptung, sie unterhalte angeblich 100.000 Arbeitsplätze – die Angabe dürfte extrem überzogen sein – und sorge nur für zwei Prozent der CO2-Emissionen des Transportwesens im Land. Nun dürfte sich absolut jeder Wirtschaftssektor mit genau denselben Argumenten gegen jegliche „Belastung“, die ausgerechnet ihn treffen könnte, wenden.

Der junge Transport-Staatssekretär Clément Beaune zeigte sich in einer ersten Reaktion zunächst gegenüber einer „Regulierung“ des Sektors aufgeschlossen. Daraufhin stauchte ihn jedoch sein oberster Vorgesetzter, Staatspräsident Emmanuel Macron, bei einem direkten Treffen zusammen: Die Maßnahme sei, seinen Worten zufolge, „demagogisch“ – wie in seinen Augen überhaupt jede Initiative, die ausgerechnet die Reichen oder Mächtigen treffen könnte. Auch Regierungssprecher Olivier Véran sprach sich gegen eine solche Idee aus. Man müsse auch an die Arbeitsplätze denken und, wolle man über so etwas nachdenken, auch zuerst an eine Konzertierung mit anderen EU-Staaten. Wirtschaftsliberale Kommentatoren in den Medien wie der Hochschullehrer Oliver Babeau bei BFM TV warnten vor einer Neiddebatte. (Möglicherweise wäre es ohnehin effizienter, eine kleine Guillotinendebatte zu führen.)

Stadtpanzer ohne Luft

Eher praktische Ansätze, statt zu debattieren, verfolgten unterdessen unbekannte Aktivisten in mehreren Städten im Laufe des Sommers und Herbst dieses Jahres. Es begann im Juli dieses Jahres mit handwerklichen Aktionen an übermotorisieren Fahrzeugen der Kategorie SUV, auch als „Stadtpanzer“ bezeichnet. Aufgrund ihrer Ausmaße und daraus folgenden Spritverbrauchs sind sie, trotz oft vergleichsweise moderner Motoren, als besonders klimaschädlich einzustufen. Am 28. Juli bekannte sich ein Twitterkonto, das im Namen eines Kollektivs unter dem Namen Dégonfleurs de SUV (dégonfler bedeutet so viel wie „Luft ablassen“), zu nächtlichen Aktivitäten, die zu Reifenplatten bei „35 Panzern in einer Stadt Westfrankreichs“ geführt hätten. Am 05. August d.J. verbreitete die französische Nachrichtenagentur AFP eine eigene Meldung, die berichtete, das „mysteriöse Kollektiv“ suche nun auch in Paris nach nächtlichen Opfern in Gestalt von – laut einer Formulierung des Kollektivs, nicht der Agentur – „verschmutzenden, unnötigen und schädlichen Karren“ der SUV-Klasse. Am Vortag hatte die Tageszeitung Le Parisien ein Video eines Mannes publiziert, der laut eigenen Angaben allein handelt, doch die kollektiven Aktivitäten unterstützt und die großbürgerlichen siebten und achten Pariser Bezirke durchstreift.

Während in nahezu dem gesamten europäischen Staatsgebiet Frankreichs erhebliche Einschränkungen von Wassernutzung zum privaten Gebrauch – vom Trinkwasser, das etwa im Kommunen des Départements Drôme tagelang nicht mehr aus dem Wasserhahn kam, bis zu Restriktionen bei der Landwirtschaft – eingeführt wurden, fühlten sich nicht alle daran gebunden. Oftmals die mehr oder minder Privilegierten am wenigsten. So wurden die Grünflächen von Golfanlagen frankreichweit weiterhin bewässert, auch hier mit dem Argument, sonst seien Arbeitsplätze bei den Betreibern bedroht. Nicht alle Einwohner/innen schienen jedoch damit unbedingt einverstanden zu sein. In der Nacht vom 10. zum 11. August zementierten in Toulouse unter dem Kollektivnamen „Kirikou“ agierende Unbekannte auf zwei Golfplätzen die Löcher zu. Auf einige hinterließen sie Schilder, auf denen etwa zu lesen stand, 600 Golfplätze in Frankreich verbräuchten so viel Wasser wie 280.000 Privatpersonen.

Im lothringischen Gérardmer, das als Erholungsort an einem malerischen See in den Vogesen bekannt wurde – die Stadt war 1944 durch die deutschen Besatzer fast vollständig zerstört worden, und noch bis 2014 regierte ein Linksbündnis unter Einschluss der KP und von Trotzkisten im Rathaus -, ging die sozialdemokratisch geführte Stadtverwaltung im Hochsommer dieses Jahres dazu über, Wasser aus dem See abzupumpen, um die Haushalte der Anwohner weiterhin mit Trink-, Koch- und Duschwasser versorgen zu können. Insgesamt vier mal war in den letzten Jahrzehnten eine solche Entscheidung getroffen worden. Der Seespiegel sank dadurch ab. Völlig leerpumpen konnte man ihn jedoch nicht, da dies Schwermetalle ans Tageslicht befördern würde. Dies hinderte einige begüterte Bewohner nicht daran, weiterhin ihre Whirlpools volllaufen zu lassen; ist es auch verboten, so bekommt es die Polizei ja nicht mit, tut man es um Mitternacht.

Acht Whirlpools wurden jedoch in der Nacht zum 29. Juli 22 angebohrt. Der Sachschaden wurde auf insgesamt 80.000 Euro beziffert. In einem Falle wurde ein Schild mit der Aufschrift hinterlassen: „Wasser ist zum Trinken da! – Ihr macht die Vogesen kaputt.“ Die Beteiligten benutzten Gummihandschuhe wegen der Fingerabdrücke; ein ortsansässiger erfahrener Linker erklärte jedoch gegenüber dem Verf. dieser Zeilen, auf einem zur Aktion publizierten Video seien die Gesichter identifizierbar, wenn man denn wolle. Aus politischen Opportunitätsgründen scheint eine Strafverfolgung jedoch, zumindest bislang, nicht unbedingt angestrebt zu werden.

Völlig freiwillig, so hat es allen Anschein, werden die Begünstigten und Gutsituierten weder wegen Klimawandel noch wegen Gasmangels – dieser betrifft Frankreich aufgrund der Zusammensetzung der Energiequellen nicht so hart wie Deutschland und Italien – zurückstecken. Premierministerin Elisabeth Borne verkündete im Spätsommer einige Energiesparmaßnahmen bei der Sommerakademie des Arbeitgeberverbands MEDEF. Dazu zählte, Geschäfte nach ein Uhr nachts nicht länger zu beleuchten oder nicht gleichzeitig die Klimaanlage am laufen und die Türen geöffnet zu halten. Diese Regeln standen im einen Falle bereits seit 2013 in einer Verordnung, im anderen Falle in den Empfehlungen des Klimarats von vor drei Jahren. Ernsthaft gekümmert hatte es bis dato niemanden, jedenfalls bis Ende Juli d.J. der Pariser Stadtrat die Unvereinbarkeit von offenen Türen und Stromverbrauch für die Klimaanlage beschloss. Auf freiwillige Selbstverpflichtungen dürfte man auch weiterhin kaum zählen dürfen…

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Teil III: Neues „Ausländergesetz“ steckt in der Pipeline

Seit dem Hochsommer 2022 angekündigter Entwurf für NOCH ein Gesetz zum Dauerbrenner-Thema Immigration (und zu migrantischer Arbeit) wurde konkretisiert und liegt in einer überarbeiteten Erstfassung vor. Parlamentsdebatte folgt im Januar 23. Erste Protestmobilisierungen fanden statt

Proteste gegen neues „Ausländergesetz“ in Frankreich im Dezember 2022 (Foto Bernard Schmid)Am Montag dieser Woche, den 19. Dezember 22 hinterlegte die französische Regierung beim Conseil d’Etat (wörtlich: „Staatsrat“, d.i. das oberste Verwaltungsgericht in Frankreich, also die höchste richterliche Instanz im öffentlichen Recht) einen Entwurf für ein neues Ausländergesetz; es wird sich auch nur um das 29. Gesetz in diesem Bereich seit dem Jahr 1980 (vgl. https://www.20minutes.fr/politique/4010950-20221121-avant-loi-immigration-ong-craignent-concertation-facade-executif externer Link) handeln. Hat jede aufeinanderfolgende Regierung auch wenig Einfluss auf das Geschehen im sozioökonomischen und wirtschaftlichen Bereich, vermag sie doch, ihre Handlungsfähigkeit stets auf Neue im von Polemiken über- und durchzogenen Themenfeld „Immigration“ unter Beweis zu stellen…

Seit dem Spätsommer 2022 hatte das Regierungslager angekündigt, hier in den kommenden Monaten einige Regeln zu ändern. Ursprünglich sollte dies bereits im Spätherbst d.J. erfolgen, doch dann bremste Premierministerin Elisabeth Borne ihren forsch voranpreschenden Innenminister aus und ordnete an, zunächst eine Aussprache im Parlament ohne Abstimmung am 06. und 13. Dezember 22 und parallel dazu Gespräche mit Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften zum Thema anzuberaumen. Die parlamentarische Arbeit in Kommissionen, später im Plenum) soll nun ab Januar 23 beginnen. (Vgl. dazu, auf dem neusten Stand: https://www.lemonde.fr/politique/article/2022/12/21/renforcement-de-la-double-peine-titre-de-sejour-pour-les-professions-medicales-le-gouvernement-a-finalise-son-projet-de-loi-sur-l-immigration_6155229_823448.html externer Link. Und zu den juristischen Texten, dem des Entwurfs im Originalton: https://www.gisti.org/IMG/pdf/pjl2023_2022-12-16_pre-projet.pdf externer Link pdf und rund um den Entwurf: https://www.gisti.org/spip.php?article6862 externer Link)

Dagegen regen sich auch gewisse gesellschaftliche Widerstände. Am Wochenende des 17. und 18. Dezember 22 fanden dazu in mehreren französischen Städten Demonstrationen statt, mit 3.000 bis 4.000 Teilnehmenden in Paris am Sonntag Vormittag und meist rund 200 Teilnehmer/inne/n in mittleren Städten wie Perpignan (ausführlicher Augenzeugenbericht liegt dem Verf. vor), rund 250 in Toulouse… Den Anlass dazu gaben, neben der aktuellen Diskussion, auch der weltweite Tag für Migrantenrechte am 18. Dezember. Vgl. dazu auch beistehende Photos des Verf. dieser Zeilen aus Paris, wo auch in größerer Zahl Gewerkschaftsfahnen der CGT und der Union syndicale Solidaires zu sehen waren. Die gewerkschaftliche Beteiligung beruhte dabei zum Großteil auf (illegalisierten oder nicht) migrantischen Arbeitern.

Zum weiteren Vorgehen und zwecks Abstimmung der Protestkräfte sind bereits Versammlungen am 09. Januar 23 am Sitz der (linksgewerkschaftlichen Vereinigung) Union syndicale Soliaires in Paris sowie am 20. Januar 23 im Pariser Gewerkschaftshaus, bourse du travail, geplant. Vgl. dazu auch: https://blogs.mediapart.fr/marche-des-solidarites/blog/211222/loi-darmanin-comment-gagner externer Link

A. Die Vorgeschichte:

Proteste gegen neues „Ausländergesetz“ in Frankreich im Dezember 2022 (Foto Bernard Schmid)Innenminister Darmanin stellte dieses Vorhaben einer neuen gesetzgeberischen Initiative eilends in den Raum, nachdem am 20. Juli 22 im durch Armut und Einwanderung geprägten Lyoner Stadtteil La Guillotière Umstehende und Schaulustige drei Polizisten attackiert hatten, um einen festgenommenen mutmaßlichen Taschendieb freizubekommen. (vgl. https://www.dailymotion.com/video/x8clp6k externer Link) Es handelte sich allem Anschein nach um einen mehr oder minder spontanen Solidarisierungseffekt in dem durch Medien vielfach als heruntergekommen dargestellten Viertel. Daraufhin wurden mehrere Personen festgenommen, von denen sich in der Mehrheit herausstellte, dass sie mit dem Vorfall nichts zu tun hatten, bis auf den letzten Aufgegriffenen, jedoch illegale Einwanderer waren.

Kurz darauf kam die, quasi den ganzen August 2022 hindurch die französischen Medien in Atem haltende (und nebenbei auch die Linke spaltende) Debatte um den nordfranzösischen marokkanisch-stämmigen Imam Hassan Iquioussen hinzu. Dieser steht den Muslimbrüdern nahe, ihm werden juden- und homosexuellenfeindliche Äußerungen vorgeworfen, die aber zum Teil bereits fünfzehn bis zwanzig Jahre alt sind und nicht strafrechtlich sanktioniert wurden.

Der Imam wurde 1964 in der Nähe der französisch-belgischen Grenze als Sohn eines marokkanischen Bergarbeiters geboren und entschied sich bei der Volljährigkeit gegen die französische Staatsbürgerschaft – die er durch das ius soli (oder Bodenrecht im Staatsbürgerschaftsrecht) hätte erwerben können – und für die Marokkos, anscheinend unter Druck seines Vaters. Darmanin nahm nun das Auslaufen seiner Aufenthaltsgenehmigung in diesem Jahr zum Anlass, die Probleme mit seinen früheren Positionen als einen Aspekt des „Ausländerproblems“ öffentlichkeitswirksam zu verhandeln.

Proteste gegen neues „Ausländergesetz“ in Frankreich im Dezember 2022 (Foto Bernard Schmid)Dem Imam wurde eine Verlängerung seines Aufenthaltsrechts abgelehnt und eine Ausreiseverfügung (OQTF) zugestellt. Er tauchte ab… und einige Zeit später in Belgien auf. Dort wurde er um die Mitte November 22 in Abschiebegewahrsam genommen. Derzeit wird noch diskutiert, ob Belgien ihn eher nach Frankreich oder eher (direkt) nach Marokko abschieben wird. (Vgl. https://www.20minutes.fr/societe/4014014-20221208-affaire-hassan-iquioussen-imam-pourrait-etre-eloigne-directement-vers-maroc externer Link)

Im Oktober dieses Jahres kam dann noch der spektakuläre Mord an der 14jährigen Lola Daviet hinzu. Ihre Leiche wurde in einem Koffer im 19. Pariser Bezirk aufgefunden. Als Täterin stellte sich nach kürzester Zeit die mutmaßlich psychisch gestörte 24-jährige algerische Staatsangehörige Dahbia Benkired heraus. Diese hatte 2018 ein Studentenvisum besessen, dieses jedoch nach einem Jahr auslaufen lassen, ohne eine Verlängerung zu beantragen.

Zwei Wochen lang beherrschten die Kommentare aus der Rechten und der extremen Rechten die Medien, denen zufolge es gar nicht zu dem Mord hätte kommen können, hätte man Benkired damals nur abgeschoben. Die Regierung sei deswegen an dem Mord „mitschuldig“, schallte es vom konservativen Parlamentarier Bruno Rétallieau bis zu dem Rechtsextremen Zemmour, der Demonstrationen dazu abhielt (der Verf. dieser Zeilen wohnte selbst einer solchen Kundgebung an der Pariser Métro-Station Denfert-Rochereau am 20. Oktober d.J. bei, vgl. zu ihr auch: https://www.lemonde.fr/societe/article/2022/10/20/institut-pour-la-justice-derriere-la-manifestation-en-hommage-a-lola-une-association-aux-combats-communs-a-l-extreme-droite_6146689_3224.html externer Link); als ob sich das Verbrechen von „Dahbia B.“ mehrere Jahre vor seiner Begehung aus ihren ausländischen Genen hätte prognostizieren lassen.

Die letzten beiden spektakulären spektakulären Morde, die die französische Öffentlichkeit Frankreich beschäftigten – an der 20jährigen Justine Vayrac Ende Oktober d.J. und am 18. November 22 dann an der 14jährigen Vanesa x., beide in Südwestfrankreich –, wurden dann allerdings von Tätern urfranzösischer Abstammung begangen: einem Bauernburschen, Lucas Larivée, sowie einem Leiharbeiter, Romain Chevrel.

Vor dem Hintergrund dieser Affären und Skandale setzte die Regierung, und setzte in erster Linie ihr Innenminister Darmanin, auf ein Gesetz, das „Sicherheitsängste aufgreifen“ und erklärtermaßen in einen Kampf gegen „Ausländerkriminalität“ übersetzen soll.

Proteste gegen neues „Ausländergesetz“ in Frankreich im Dezember 2022 (Foto Bernard Schmid)Das ist unter Umständen nun wirklich brandgefährlich, da das Regierungslager seit Juni 22 nur noch über eine relative und keine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung mehr verfügt. Da das Linksbündnis NUPES bei dem Gesetzesvorhaben nicht mitziehen dürfte, kann eine Mehrheit rechnerisch nur durch Zustimmung mindestens der konservativen Les Républicains (LR) – die sich bei den Fragen „Ausländer“ und „Innere Sicherheit“ längst in einem Übersteigerungswettbewerb mit den Rechtsextremen aufreiben -, wenn nicht gleich des rechtsextremen Rassemblement national zustande kommen. Die Stimmen von LR würden rechnerisch genügen, doch stimmt der RN geschlossen gegen den Text, dann dürfte die konservative Partei je zur Hälfte auf Seiten der Macron-Regierung und des RN zu stehen kommen.

Und seitdem am 11. Dezember 22 der Rechtsausleger der konservativen Partei, Eric Ciotti, zum neuen Chef von Les Républicains (LR) gekürt worden ist, verschärfte sich deren Rechtsdrall noch erheblich. Ciotti hatte am 05. September 21 ohne konkreten Anlass erklärt, falls es denn im darauffolgenden Frühjahr (im April 22) zu einer Stichwahl zwischen dem Liberalen Macron und dem Rechtsextremen Eric Zemmour käme, würde er für Zemmour stimmen… (Vgl. https://www.europe1.fr/politique/presidentielle-2022-eric-ciotti-voterait-zemmour-contre-macron-au-second-tour-4065102 externer Link)

Deswegen dürfte nach den Gesetzen der Logik, wenn eine Einbindung der Konservativen, dann auch eine solche der Rechtsextremen zu einer Mehrheitsfindung erforderlich sein.

Darmanin versucht zugleich, ihnen mit Ankündigungen von Verschärfungen entgegen zu kommen, und aber – in einem unwahrscheinlichen Bogenschlag – gleichzeitig noch Bestimmungen zur „Legalisierung“ bisher illegalisierter, doch in Mangelberufen tätiger Arbeitskräfte durchzubekommen. Gegen Letztere läuft der RN jedoch bereits als „Versuch der Massenlegalisierung“ in der Öffentlichkeit Sturm, so dass ein irgendwie gearteter „gesitteter“ Konsens nicht zustande kommen dürfte.

Auf der repressiven Seite wurde bekannt, dass die Regierung unter anderem plant, bei der Ablehnung von Aufenthaltsgenehmigungen noch viel systematischer als bereits bislang Ausreiseverfügungen (OQTF) zu verhängen – ein Äquivalent zum deutschen „Duldungs“-Statuts gibt es in Frankreich quasi nicht, stattdessen werden sehr viel mehr Ausreiseverpflichtungen zugestellt, von denen jedoch nur 15 Prozent real durch Abschiebungen umgesetzt werden, was die Rechtsopposition wiederum als Widerspruch ausweidet.

Illegalisierte Ausländer sollen künftig nicht mehr nur aus Sozialwohnungen ausgeschlossen werden – was Darmanin nochmals extra verkündet, aber längst Tatsache ist – sondern auch aus Notunterkünften für Wohnungs- und Obdachlose. (Dies könnte jedoch eventuell am Verfassungsgericht scheitern, wenn es um Notunterbringung bei Kälte geht.) Am 17. November 22 veröffentlichte Darmanin bereits ein ministerielles Rundschreiben dazu, das entsprechende Anordnungen an die untergeordneten Verwaltungen enthält, allerdings keinen Gesetzesstatus hat, also folglich Verwaltungsgerichte nicht bindet. (Vgl. https://www.radiofrance.fr/franceinter/immigration-gerald-darmanin-veut-durcir-l-application-des-obligations-de-quitter-le-territoire-5847454 externer Link und https://www.placegrenet.fr/2022/12/10/expulsions-detrangers-en-situation-irreguliere-le-collectif-migrants-en-isere-juge-la-circulaire-de-gerald-darmanin-liberticide/586843 externer Link sowie https://www.lemonde.fr/politique/article/2022/11/17/expulsions-gerald-darmanin-demande-aux-prefets-d-appliquer-plus-fermement-les-oqtf_6150338_823448.html externer Link – und hier der Originaltext: https://www.gisti.org/IMG/pdf/circ_2022-11-17.pdf externer Link pdf)

Ferner will das Innenministerium unter Darmanin künftig zur Ausreise verpflichtete Ausländer/innen systematisch in die Datei zur Fahndung ausgeschriebener Personen, abgekürzt FPR, aufnehmen. Die Grenze zu Straftätern und Gefährdern würde dadurch erheblich vermischt.

Auf der Ebene der künftigen Bestimmung zu migrantischer Arbeit ist vor allem zu verzeichnen, dass allem Anschein nach ein im Gesetz verankerter (dies hieße dann auch: einklagbarer) Rechtsanspruch auf einen Aufenthaltstitel besteht, sofern eine bereits in Frankreich befindliche und wohnhafte, doch illegalisierte Person folgende Bedingungen erfüllt:

  • mindestens drei Jahre nachgewiesenen Aufenthalts (ein Nachweis kann durch diverse Dokumente, von ärztlicher Behandlung – es gibt in Frankreich in Gestalt der Aide médicale d’Etat/AME eine eigene, spezifische Krankenversicherung für Illegalisierte – über Monatsfahrkarten und Steuererklärungen bis zu Gerichtsdokumenten erfolgen);
  • mindestens acht Lohnzettel, die eine bislang ausgebübte Arbeitstätigkeit nachweisen;
  • und eine Tätigkeit in einem erklären Mangelberuf. Dazu sollen Arbeitgeberverbände und Regierung jährlich eine Liste anerkannter Mangelberufe festlegen.

Proteste gegen neues „Ausländergesetz“ in Frankreich im Dezember 2022 (Foto Bernard Schmid)Kommt dies so durch und würden diese Regeln eingeführt, dann würden sie nur partiell bereits bestehende Bestimmungen verändern. Denn „Legalisierungs“mechanismen für bereits in Frankreich lebende, doch nicht legal sich dort aufenthaltende Menschen gibt es längst, in den Jahren 1981 und 1997 gab es – jeweils unter Linksregierungen – je eine sechsstellige Zahl von Menschen betreffende Legalisierungsoperation. Auch unter der Rechtsregierung von Nicolas Sarkozy zwischen 2007 und 2012 wurde, unter anderem auf Druck der Arbeitgeber im Reinungs- sowie Hotel- und Gaststättengewerbe, punktuell immer wieder „legalisiert“. Seit November 2012 wurden unter dem damaligen rechtssozialdemokratischen Innenminister Manuel Valls (später Premierminister in den Jahren 2014-16) in einem ministeriellen Rundschreiben Kriterien für einen auf Dauer festgeschriebenen, nicht nur zum Zeitpunkt einer „Operation“ funktionierenden Legalisierungsmechanismus festgelegt. Und hier der Originaltext des „Valls-Rundschreibens“ (circulaire Valls): http://www.justice.gouv.fr/publication/mna/circ_conditions_demandes_admission_sejour_2012.pdf externer Link pdf

Dieses sieht bislang folgende Kriterien vor (nach denen jährlich lt. Le Monde vom 22.12.2022 rund 7.000 Menschen über ihren Arbeitsstatus „legalisiert“ werden; manche Arbeitgeber-Branchenverbände hätten gerne höhere Zahlen):

  • (1) mindestens dreijähriger nachgewiesener Aufenthalt und dabei mindestens 24 Monate zurückliegender Erwerbstätigkeit; dazu folgende Anm.: „illegal“ sich Aufenthaltende können zwar nicht legal arbeiten, tun dies jedoch i.d.R. unter dem Namen von jemand anders, der oder die einen Aufenthaltstitel hat; die „illegale“ Person benötigt dann noch einen Zeugennachweis, dass in Wirklichkeit sie die Arbeit verrichtete;
  • (2) oder mindestens fünfjähriger Aufenthalt und dabei mindestens 30 Monate vorausgehender Erwerbstätigkeit;
  • (3) oder fünfjähriger Aufenthalt und mindestens acht Arbeitsmonate, jedoch in den zurückliegenden zwei Jahren.

Dies klingt kompliziert und streng mathematisch errechnet, ist es jedoch nicht, sondern eine weitgehend willkürliche politische Festlegung: „zwei Monat von dreien“ mit Lohnzettel oder sonstigem Arbeitsnachweis im ersten Fall (24 von 36 Monaten, 24/36 = 2/3); „einer von zweien“ im zweiten Falle (denn 30 von 60 = ½); „einer von dreien“ im dritten Falle (denn 8 von 24 = 1/3). Und punkt.

Nach diesen Kriterien werden derzeit jährlich ein paar Tausend Menschen, die bereits arbeiten und berufstätig sind, „legalisiert“. In allen vorausgenannten drei Fällen benötigt die Person jeweils die Unterstützung eines Arbeitgebers, der die auch künftige Beschäftigung zusichert (desselben wie auf den früheren Lohnzettels oder auch eines anderen Arbeitgebers, das ist quasi egal). Zieht der Arbeitgeber nicht mit – auf ihm lastet allerdings eine Strafandrohung, setzt er eine ihm einmal bekannte „illegale Beschäftigung“ fort -, dann ist nichts zu holen. Als Zugeständnis an die Gewerkschaften, die diesbezüglich eine Abhängigkeit vom und Erpressbarkeit durch den jeweiligen aktuellen Arbeitgeber monierten, wurde noch eine weitere Option in den Text von 2012 aufgenommen:

(4) eine Kombination aus mindestens siebenjährigem nachgewiesenem Aufenthalt, und mindestens 12monatiger Beschäftigung in den letzten drei Jahren (= „ein Monat von dreien“ mit Arbeitsnachweis).

In diesem letzterem Falle ist eine Unterstützung durch einen aktuellen, vorhandenen Arbeitgeber nicht erforderlich: Die betreffenden Person ausländischer Nationalität kann eine sechsmonatige Aufenthaltserlaubnis durch den Nachweis früherer Tätigkeit erhalten. Und findet sie dann innerhalb dieser sechs Monate irgendeinen (neuen oder wiedergefundenen alten) Arbeitgeber, dessen Unterstützung für das Legalisierungsprozedere bei der Ausländerbehörde sie erhält, dann wird danach eine Ein-Jahres-Karte – ein Aufenthaltstitel als Arbeitskraft – ausgestellt, die alle zwölf Monate verlängerbar ist. Ansonsten erlischt der legale Aufenthaltsgrund nach den o.g. sechs Monaten.

Im Unterschied zum für künftig geplanten Gesetz sind die Inhalte eines ministeriellen Rundschreibens, das in der juristischen Hierarchie darunter (unter Gesetzen) steht, jedoch nicht direkt verwaltungsgerichtlich einklagbar. Ihre Anwendung war also weitgehend Verwaltungshandeln vorbereiten, das lediglich auf Begründungszwang und Willkürverbot hin durch die Verwaltungsgerichte überprüft wurde.

Was also die geplante gesetzliche Regelung unmittelbar ändern würde, wäre zunächst zweierlei:

  • Der Anspruch auf einen Aufenthaltstitel würde, liegen die genannten Umstände vor, unmittelbar einklagbar (da er gesetzlichen Status hat und nicht nur auf einer Verwaltungsanordnung mit überwiegend interner Wirkung beruht); dies würde jedenfalls an dem Punkt eine klare Verbesserung darstellen und der Verwaltung, also den Ausländerbehörden geringere Auslegungsspielräume überlassen;
  • Gleichzeitig wird diese Anerkennung im geplanten Gesetz nunmehr an die Ausübung eines als solchen eingestuften Mangelberufs geknüpft. Dies war bislang nicht explizit gegeben. Zugleich werden dabei die zeitlichen Anforderungen leicht heruntergesetzt. (Denn bislang waren drei Jahre Aufenthalt kombiniert mit 24 Monaten Arbeitsnachweis, oder alternativ fünf Jahre Aufenthalt kombiniert mit 08 Monaten Arbeitsnachweis in den letzten beiden Jahren erforderlich; künftig also eher: drei Jahre kombiniert mit 08 Monaten.)

Dabei bleiben jedoch Fragen offen:

  • Was passiert künftig mit denen, die zwar nachweislich seit einer gewissen Zahl von Jahren (etwa drei oder fünf) bereits in Frankreich lebten und auch arbeiteten, jedoch keinen als solchen anerkannten Mangelberuf ausüben? Bleibt es in ihren Fällen bei der Möglichkeit einer „Legalisierung“ nach den Bestimmungen des ministeriellen Rundschreibens von 2012, oder wird diese vom künftigen Gesetz verdrängt?
  • Und was geschieht, falls ein Beruf bei einer vorgesehenen jährlichen Überprüfung von der Liste der Mangelberufe heruntergenommen wird? Erlischt etwa dann die bisher mit ihr verbundene Aufenthaltserlaubnis?

Proteste gegen neues „Ausländergesetz“ in Frankreich im Dezember 2022 (Foto Bernard Schmid)(Beim bisherigen Rechtsstand, nach dem oben zitierten Rundschreiben v. 2012, erlischt das als Arbeitskraft einmal erworbene Aufenthaltsrecht nicht, es sei denn, der oder die Lohnabhängige kündigt das Arbeitsverhältnis selbst innerhalb der ersten beiden Jahre. Nach Überschreiten einer Zeitschwelle von 24 Monaten oder bei „unfreiwilligem“ Verlust des Arbeitsplatzes, etwa durch Arbeitgeberkündigung, bleibt das erworbene Aufenthaltsrecht aufrecht erhalten. Es bleibt bei einer Aufenthaltsgenehmigung als Arbeitskraft, so lange die Person bei irgend einem Arbeitgeber – auch nach einem Wechsel – weiterarbeitet oder aber noch Anrecht auf Arbeitslosengeld hat.)

Dies sind bislang noch offene Frage. Werden sie beantwortet, dann wird sich entscheiden, ob neben der objektiven rechtlichen Besserstellung von bis dato „illegalisierten“ Arbeitskräften in anerkannten Mangelberufen daneben etwa Verschlechterungen für andere (ebenfalls illegalisierte) Beschäftigtengruppen erfolgen oder ob dies nicht der Fall ist.

In der neuesten Version des Regierungsentwurfs – so, wie er am Montag, den 19. Dezember 22 beim oben erwähnten Conseil d’Etat eingereicht worden ist – wird überdies eine weitere neue Option eingeführt: Ausländische Arbeitskräfte speziell in Gesundheitsberufen sollen einen Anspruch auf eine mehrjährige Aufenthaltserlaubnis (bei bisheriger Gesetzeslage sind solche mit zwei-, drei- und vierjähriger Dauer möglich) erhalten. Dies soll eine bestehende Anwerbungslücke in Gesundheits- und Pflegeberufe schließen helfen.

B. Die Episode um die Landung der Ocean Viking

So vorteilhaft hatte sich die französische Regierung das vorgestellt: Sie würde in unterschiedliche, ja entgegengesetzte politische Richtungen hin gleichzeitig starke Signale aussenden und sich dadurch nach allen Seiten hin profilieren. Sie würde das unter Beteiligung von Neofaschisten gebildete Kabinett im Nachbarstaat Italien gleichzeitig vorführen, doch in gewisser Weise auch entlasten.

Die neue italienische Premierministerin Giorgia Meloni hat, ähnlich wie bereits die 2018/19 amtierende Vorgängerregierung mit Matheo Salvini als Innenminister, den bei der Seenotrettung im Mittelmeer für Geflüchtete aktiven NGO den Kampf angesagt und angekündigt, ihnen den Zugang zu italienischen Häfen weitgehend zu verschließen. Das wirtschaftsliberale Staatsoberhaupt Emmanuel Macron versucht sich gegenüber den Rechtsextremen im In- wie im europäischen Ausland als weltoffene Alternative darzustellen und übte verbale Kritik an diesem Verhalten. Gleichzeitig wollte er es mit Meloni von Anfang an auch nicht zum politischen Bruch kommen lassen, vielmehr war Macron noch am Abend ihrer Amtseinführung am 23. Oktober 22 der allererste ausländische Staatsgast, der in Rom mit ihr zusammentraf. Er hielt sich zu dem Zeitpunkt zu einer Ukrainekonferenz bei der katholischen Gemeinschaft von Sant’Egidio in der italienischen Hauptstadt auf. Nähere Inhalte der Unterredung Macrons und Melonis drangen kaum nach außen, beide kündigten jedoch eine Fortsetzung der zwischenstaatlichen Kooperation an.

Einige Tage später übte Macron dann verbale Kritik an Meloni und ihrer Regierung, als das Rettungsschiff Ocean Viking mit 234 geretteten Geflüchteten an Bord tagelang auf dem Mittelmeer herumirrte und ihm die Einfahrt in italienische Häfen verweigerte wurde. Macrons Innenminister Gérald Darmanin bezeichnete Italiens Haltung als „verantwortungslos“. Italien verwies hingegen darauf, während bis dahin andere EU-Staaten – vor allem Frankreich und Deutschland – Zusagen über die Übernahme von insgesamt 8.000 im Stiefelstaat angelandeten Migranten abgegeben hätten, seien von ihnen tatsächlich nur 117 aufgenommen worden.

Nachdem die durch korsische Autonomisten geführte Inselregierung in Ajaccio ihrerseits erklärt hatte, das Schiff dürfe auf Korsika einlaufen, gab die Pariser Zentralregierung ihre ursprünglich ablehnende Haltung gegenüber eine Landung der Ocean Viking in Frankreich auf. Am Freitag, den 11. November – in Frankreich ein gesetzlicher Feiertag, die Medienberichterstattung wurde entsprechend aufmerksam verfolgt – durfte das Rettungsschiff Land anlaufen. Aber nicht in Marseille, dessen sozialdemokratisch-grüne Stadtregierung ihr Einverständnis erklärt hatte, sondern im streng überwachten Militärhafen von Toulon. Die Anlandung erfolgte unter Abschottung von der Öffentlichkeit, auch wenn in einiger Entfernung Anhänger der rechtsextremen Partei von Eric Zemmour – Reconquête! – gegen „die Invasion“ demonstrierten. Zemmour war selbst angereist und wetterte, Frankreichs Politiker hätten „das französische Volk zu schützen, nicht irgendwelche Somalier oder Afghanen“. Auch die wahlpolitisch besser aufgestellte rechtsextreme Konkurrenzpartei Rassemblement national forderte via Pressemitteilungen, Twitter und Talkshows, Schiff und Insassen in libysche Häfen zurückzubringen.

Ab der Landung in Toulon bemühte sich die französische Regierung dieses Mal, Signale von Härte und Kontrolle auszustrahlen. Allen 234 Passagieren wurde die Einreise nach Frankreich formal untersagt. Stattdessen wurde eine „temporäre internationale Wartezone“ auf der zur Stadt Hyères gehörenden Halbinsel Gien eingerichtet, in einem zu der Jahreszeit leerstehenden Urlaubsressort. Einer juristischen Fiktion gehorchend, gilt diese – vorübergehend – als nicht zum französischen Staatsgebiet gehörig, sondern als extraterritoriale Zone. Dort können drei Wochen lang in einem Schnellverfahren Asylanträge darauf geprüft werden, ob sie „offensichtlich unbegründet“ seien oder aber zum formalen Eintritt auf französisches Staatsgebiet berechtigen, damit dort in einem späteren Normalverfahren die Asylberechtigung oder ihr Fehlen festgestellt werden kann. (Vgl. dazu (aus dem Jahr 2001, vom Verf.): https://jungle.world/artikel/2001/09/bleiberecht-im-lager externer Link!)

Laut NGO- und Presseberichten fehlte es dazu allerdings vor Ort am absoluten Minimum an Ausstattung. Die durch eine eigens vom französischen Asyl-Amt OFPRA entsandte Delegation führte die Gespräche in Zelten, in denen die notwendige Vertraulichkeit nicht möglich waren, da sie für Blicke offen und nicht schalldicht waren. Es fehlte an Übersetzerpersonal, so wurden mehr oder minder Französisch beherrschende Landsleute von Geflüchteten innerhalb des Lagers für das Dolmetschen herangezogen, aber auch eine Arabisch sprechende Putzfrau der Polizei. Toulon und seine Umgebung sind schlicht für solche Erfordernisse nicht vorbereitet und ausgerüstet, die Metropole Marseille dagegen schon.

Nach kurzer Zeit verlautbarte die französische Regierung öffentlich, bereits 44 Schiffspassagieren sei die Einreise nach Frankreich nach Schnellprüfung ihres Asylgrunds verweigert worden, diese würden umgehend zur Ausreise verpflichtet. Dadurch wollte sie demonstrieren, dass sie nach Humanität nun auch Härte demonstrieren könne, und die Kampagne der Rechtsextremen wegen „Komplizenschaft bei einer Invasion“ entkräften. Umgekehrt wurde 66 unter den Betreffenden beschieden, sie dürften ins Normalverfahren zur Prüfung ihrer Asylgründe und würden dazu formal in Frankreich aufgenommen.

Doch aufgrund ihrer zahlreichen handwerklichen Fehler scheiterten die Behörden alsbald auf ganzer Linie. Die Justiz hätte innerhalb von 48 Stunden überprüfen müssen, ob der Entzug des Rechts auf Fortbewegungsfreiheit und die Festsetzung in dem Wartelager rechtmäßig sei, da kein Freientzug außerhalb richterlicher Kontrolle möglich ist. An einem halben Tag sollte ein örtliches Gericht so über 123 Anträge der Verwaltung auf Fortdauer des Freiheitsentzugs entscheiden. Das Gericht erklärte sich dazu kurzerhand außerstande, zumal viele der Akten fehlerhaft waren und beispielsweise den Aufenthaltsort gar nicht erwähnten.

Nahezu alle der 189 erwachsenen Insassen der Ocean Viking, bis auf etwa zehn, sowie ein Baby wurden daraufhin am vorigen Freitag auf einen Schlag durch eine Justizentscheidung aus dem Wartelager entlassen. Sie können sich nun formal auf französischem Boden niederlassen und ihre Asylgründe in den kommenden Monaten prüfen lassen. 44 unbegleitete Minderjährige waren bereits zuvor von der Gruppe abgetrennt und in Jugendheimen ohne Freiheitsbeschränkungen untergebracht worden; Freiheitsentzug wäre in ihren Fällen nicht möglich gewesen. 26 von ihnen waren binnen kurzer Zeit „verschwunden“, überwiegend wohl Eritreer. Es wurde allerdings schnell bekannt, sie verfügten über Familienangehörigen in Schweden, Norwegen und Deutschland, zu denen sie mutmaßlich alle unterwegs seien.

Daraufhin brach die rechte Medien- und Meinungskampagne allerdings erst recht los. Die Regierung habe endgültig ihren völligen „Kontrollverlust“ eingeräumt, kritisierte nicht nur die neofaschistische Parteichefin Marine Le Pen vom RN. Der konservative Spitzenpolitiker Eric Ciotti (LR) – damals Anwärter auf die Parteiführung bei der innerparteilichen Abstimmung Anfang Dezember 22, und inzwischen tatsächlich zum Vorsitzenden dieser stärksten Oppositionspartei in Frankreich, ungefähr vergleichbar mit einer geschwächten CDU/CSU in Deutschland, gewählt – erklärte dazu am Abend des 21. November 22: „Frau Meloni war mutig, Herr Macron war feige und machtlos.“ (vgl. https://www.lefigaro.fr/politique/ocean-viking-madame-meloni-a-ete-courageuse-monsieur-macron-lache-et-impuissant-tance-eric-ciotti-20221121 externer Link)

Unterdessen wurde am Nachmittag des 22. November 22 bekannt, dass zwei erste vormalige Insassen der Ocean Viking am Morgen in das westafrikanische Mali abgeschoben worden waren.

In relativ breiten Kreisen wird die Episode im Ergebnis als ein Fiasko und von mehreren Seiten her als Anzeichen vermeintlich außer Kontrolle geratender Migrationsprozesse wahrgenommen. Anwälte/Anwältinnen- und Richtergewerkschaften wie das Syndicat de la magistrature (SM) sowie Linkspolitiker/innen weisen in den Medien daraufhin, die Justiz habe durch ihre Anordnungen auf Freilassung „nur ihre Arbeit in einem Rechtsstaat verrichtet“. Aus dem Regierungslager folgt der Hinweis, mutmaßlich müsse man die Fristen ausdehnen und Freiheitsbeschränkungen im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen erst später richterlicher Kontrolle unterwerfen.

C. Tote im Ärmelkanal

Auch auf bilateraler Ebene zwischen Paris und London heizt sich das Klima beim Thema „Migration“ auf. Es geht dabei insbesondere um die Überfahrten von Migranten mit so genannten small boats über den Ärmelkanal; mit ihnen sollen im vergangenen Jahr 40.000 Einwanderer ins Vereinigte Königreich übergesetzt sein. Am 21. November 22 trafen die britische rechtskonservative Innenministerin Suella Bravermann und ihr französischer Amtskollege Darmanin eine Vereinbarung, die die seit 2004 geltenden „Abkommen von Touquet“ zwischen den damaligen Innenministern Nicolas Sarkozy und Jack Straw zur Migrationskontrolle im Ärmelkanal nun ein weiteres Mal ergänzt. Die britische Regierung wird in diesem Rahmen 72 Millionen zusätzliche Euro an die französische Seite überweisen, diese wiederum die Präsenz der Sicherheitskräfte im Küstenbereich um vierzig Prozent steigern.

Just am selben Tag publizierte unterdessen die Pariser Abendzeitung Le Monde (vgl. https://www.lemonde.fr/les-decodeurs/article/2022/11/21/mort-de-27-migrants-dans-la-manche-les-enqueteurs-evoquent-la-non-assistance-a-personne-en-danger_6150926_4355770.html externer Link) Auszüge aus Funkprotokollen im Ärmelkanal aus der Nacht vom 23. zum 24. November 2021. Damals, d.h. vor ziemlich genau einem Jahr, fand dort der bisher schwerste Unfall eines der small boats, mit denen Migranten von der französischen an die britische Kanalküste überzusetzen versuchen – in diesem Jahr sollen allein 40.000 Personen auf diesem Weg angekommen sein – mit insgesamt 27 Toten statt.

Die aufgezeichneten Funksprüche sind die des „Regionalen Operationszentrums für Meeresüberwachung und Seenotrettung“ CROSS, dessen Personal den Status von Armeeangehörigen hat. Zwischen fünfzehn und zwanzig Handyanrufe von dem im Kentern befindlichen Boot aus erreichten das CROSS in jener Nacht zwischen 01.48 Uhr und 04.22 Uhr. Dessen Personal war jedoch – ausweislich der durch Le Monde abgedruckten Auszüge – ausschließlich darauf hinzuweisen, dass sie sich zwar noch in französischen, jedoch bald in britischen Gewässern befänden und die Rettung deswegen gefälligst eine britische Angelegenheit zu sein habe. Ob es von britischer Seite Rettungsversuche gegeben hat oder nicht, ist bislang nicht bekannt; doch scheint man dort wiederum darauf gesetzt zu haben, die Wellen würden das Boot vor Eintreffen eines Rettungsschiffs wieder in französische Gewässer getrieben haben.

In der Schlussphase der Kommunikation mit den Bootsinsassen wurden auch eine im „Off“ gesprochene Äußerungen der zuständigen Telephonistin Fanny R. aufgezeichnet. Diese zeigt dabei ausgesprochen wenig Empathie, sondern tätigt ironische Aussprüche wie diesen um 04.16 Uhr: „Ich werde ihnen den magischen Satz wiederholen: ‚Keine Positionsangaben, keine Rettung‘“ – die GPS-Daten des Boots waren gegen 02.05 Uhr durchgegeben worden -, oder diesen letzten Spruch: „Na, hörst Du nicht? Du wirst nicht gerettet. Ich habe die Füße im Wasser – pah. Ich habe Dich nicht dazu aufgefordert, da raus zu fahren.“

Allem Anschein nach war auch einem in der Nähe befindlichen Tanker, dem Schiff Concerto, beschieden, es solle weiterfahren, denn ein Rettungsschiff werde schon eintreffen. Die Leichen wurden am folgenden Tag gegen 13 Uhr durch ein Fischereiboot gefunden.

Seitdem kam es in jüngster Zeit erneut zu dramatischen Überfahrten über den Ärmelkanal, bei denen etwa Mitte Dezember d.J. vier Menschen ums Leben kamen (vgl. https://france3-regions.francetvinfo.fr/hauts-de-france/pas-calais/calais/migrants-incident-grave-dans-la-manche-d-importants-moyens-deployes-pour-une-operation-de-secours-2675028.html externer Link), aber auch viele gerettet werden konnten, etwa 240 innerhalb von 24 Stunden, Ende November d.J. (Vgl. https://www.lemonde.fr/international/article/2022/11/30/dans-la-manche-240-migrants-ont-ete-secourus-par-les-autorites-francaises-en-vingt-quatre-heures_6152292_3210.html externer Link)

Dabei wirft der französische Innenminister Darmanin dem Vereinigten Königreich vor, dessen (neoliberal dereguliertes) Arbeitsmarktsystem „begünstige“ illegale Einwanderung. (Vgl. https://www.lefigaro.fr/actualite-france/migrants-gerald-darmanin-appelle-les-britanniques-a-changer-20221114 externer Link) Dies mag nun analysieren, wie man möchte. Gesichert ist, dass in Frankreich derzeit rund eine halbe Million „illegalisierter“ ausländischer Arbeitskräfte arbeiten, ohne die das System in einigen Sektoren zusammenbrechen würde, die man aber nur unter bestimmten Voraussetzungen und nach mehrjähriger Aufenthaltssituation bedingt in die „Legalisierung“ aufnehmen möchte.

 

Die Fotos von Bernard Schmid zeigen die Proteste gegen neues „Ausländergesetz“ in Frankreich im Dezember 2022 – zu ihrer Erläuterung:

Siehe dazu im LabourNet das Dossier: Billigjob oder Abschiebung: Frankreich richtet seine Ausländergesetze restriktiver und immer mehr nach rechts aus

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=207361
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