»
Frankreich »
»
»
Frankreich »
»
»
Frankreich »
»

Erste Bilanz des „Olympia-Burgfriedens“ in Frankreich fällt nicht golden aus: Nach massiven sozialen „Säuberungen“ auch Demoverbot für papierlose Streikende bei Chronopost

Frankreich: Soziale Säuberung vor den Olympischen Spielen (La Revers de la médaille)Frankreich: „Olympia-Burgfrieden“ geht zu Ende – Rechtzeitig vorher nutzt eine Behörde den bequemen Vorwand, um eine Demo zum Sans papiers-Streik zu verbieten – Unterdessen gewinnt das internationale olympische Refugee Team seine erste(n) Medaille(n). Die Olympischen Spiele gingen zu Ende, mit einem Verkaufsrekord von an die zehn Millionen Eintritte, 95 % der Tickets fanden Käufer/innen – zuletzt lag der Rekord bei achteinhalb Millionen verkauften Eintritten in Atlanta 1996. Debatten über die Kommerzialisierung des Sports hin oder her: Zahllose Menschen hatten ihre Freude daran und dabei. Aber selbstverständlich nutzen auch politische Akteure und andere die günstige Gelegenheit dazu, ihr Süppchen zu kochen. Nicht zuletzt der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, welcher nach der massiven innenpolitischen Polarisierung der letzten Monate in der Olympiazeit eine Atempause fand – allerdings ist ohnehin jährlich die Periode zwischen dem 15. Juli, dem Tag nach dem französischen Nationalfeiertag, und der letzten Augustwoche in Frankreich eine Zeit, in welcher das politische Leben weitgehend pausiert. Nun dürfte die Realität Macron alsbald wieder einholen…“ Artikel von Bernard Schmid vom 13.8.2024:

Frankreich: „Olympia-Burgfrieden“ geht zu Ende –
Rechtzeitig vorher nutzt eine Behörde den bequemen Vorwand, um eine Demo zum Sans papiers-Streik zu verbieten – Unterdessen gewinnt das internationale olympische Refugee Team seine erste(n) Medaille(n)

Die Olympischen Spiele gingen zu Ende, mit einem Verkaufsrekord von an die zehn Millionen Eintritte, 95 % der Tickets fanden Käufer/innen – zuletzt lag der Rekord bei achteinhalb Millionen verkauften Eintritten in Atlanta 1996.

Debatten über die Kommerzialisierung des Sports hin oder her: Zahllose Menschen hatten ihre Freude daran und dabei. Aber selbstverständlich nutzen auch politische Akteure und andere die günstige Gelegenheit dazu, ihr Süppchen zu kochen. Nicht zuletzt der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, welcher nach der massiven innenpolitischen Polarisierung der letzten Monate in der Olympiazeit eine Atempause fand – allerdings ist ohnehin jährlich die Periode zwischen dem 15. Juli, dem Tag nach dem französischen Nationalfeiertag, und der letzten Augustwoche in Frankreich eine Zeit, in welcher das politische Leben weitgehend pausiert. Nun dürfte die Realität Macron alsbald wieder einholen. Entsprechend wandte er sich am gestrigen Montag, den 12.08.24 in seiner auch vom Fernsehen übertragenen Ansprache im Garten des Elysée-Palasts an Sportler/innen und Sicherheitskräfte der Olympischen Spiele sowie das Organisationskomitee gegen die Vorstellung, nun stehe ein Rückkehr zum gesellschaftlichen Normalzustand bevor: „Was wir in den vergangenen vierzehn Tagen erlebten, das ist der Normalzustand des Lebens, das wahre Gesicht Frankreichs.“ Er meinte damit nicht nur, dass die Menschen feierten, sondern auch die Abwesenheit prägender politischer Debatten, jedenfalls in Leitmedien und offizieller Sphäre.

Aber noch auf andere, hinterhältigere und üblere Weise nutzten französische Behörden – in dem Falle die Polizeipräfektur von Paris und ihr untergeordnete Dienststellen – die verordnete oder reale Olympiapause. Am vorigen Freitag, den 09. August hätte eine auch durch Gewerkschaften, insbesondere die linksgewerkschaftliche Union syndicale Solidaires (Zusammenschluss der SUD-Basisgewerkschaften) unterstützte Demonstration zur Unterstützung des Streiks bei Chronoposte im an Paris angrenzenden Bezirk Val-de-Marne stattfinden sollen. Dort streikende Beschäftigte dieser Filiale des Postkonzerns, die ohne Aufenthaltstitel (Sans papiers) arbeiteten, ohne dass ihr Arbeitgeber deswegen, wie das Gesetz es ihm ermöglicht, Anstrengungen zu ihrer „Legalisierung“ als Arbeitskräfte unternommen hätte, befinden sich bereits seit zwei Jahren im Arbeitskampf.

Die Demonstration hätte am Freitag Nachmittag stattfinden sollen, jedoch wurde am selben Tag per e-Mail um 10.43 Uhr kurzfristig ihr Verbot mitgeteilt. Offizieller Grund dafür: Aufgrund der Olympischen Spiele seien alle Polizeikräfte gebunden, sowie aufgrund der damit potenziell verbundenen Attentatsrisiken. Zur Durchsetzung des Verbots wurden jedoch vor dem Bahnhof des RER (Réseau express régional, ungefähre Entsprechung zu einem deutschen S-Bahn-Netz oder einem Vorortzug), in der Nähe der bestreikten Niederlassung von Chronoposte und des dort angesiedelten Streikpostens dermaßen starke Polizeikräfte zusammengezogen, dass sie über das hinausgingen, was zur Sicherung der Demo und Verkehrsregelung erforderlich gewesen wäre.

Darauf wies die Union syndicale Solidaires in einer eigenen Pressemitteilung ausdrücklich hin. Insofern muss der Vorgang klar als Präzedenzfall mit Signalwirkung unter einem durchsichtigen Vorwand betrachtet werden. Ansonsten hat es jedoch in den ersten Monaten dieses Jahres bereits ähnlich gelagerte Verbotsfälle in Paris, unter Berufung auf Sportereignisse wie den Pariser Marathon u.ä. (bspw. aus Anlass einer Gegenkundgebung gegen eine Saalkundgebung des Rechtsextremen Eric Zemmour), gegeben. Dabei wurde das Verbot jedoch nicht rigoros umgesetzt, sondern im Falle des Anti-Zemmour-Protests trotz Untersagung eine Kundgebung etwas weiter entfernt vom Versammlungssaal faktisch toleriert. Vgl. dazu folgende Dokumente:


Andere Auswirkungen auf Migrant/inn/en

Auch sonst traf die Olympiaperiode (unter anderem) prekär lebende Migrantinnen und Migranten, vor allem solche ohne legalen Aufenthaltsstatuts, jedoch auch solche mit legalen Aufenthaltsdokumenten jedoch ohne fest gesicherte soziale Existenz und ohne Wohnsitz.

Dabei hat die Medaille (um im olympischen Bild zu bleiben) allerdings mehrere Seiten.

Zum Einen fanden massive soziale „Säuberungen“, etwa durch Einsammeln und Obdachlosen von unter freiem Himmel übernachtenden Menschen – unter ihnen auch Migranten -, die dann nach Orléans oder in die Bretagne gekarrt wurden, bereits Wochen und Monate vor der Sommerolympiade statt. (Vgl. dazu die Ausführungen in einem Artikel vom Autor dieser Zeilen vom 04.04.24: https://jungle.world/artikel/2024/14/frankreich-bandengewalt-mit-hammer-und-pistole externer Link)

Zum Anderen traten aber kurz vor der Eröffnung der Olympischen Spiele, etwa während der Woche des 22. Juli (an deren Freitag die Eröffnungszeremonie stattfand) mit einer Platzbesetzung von rund 200 Menschen vor dem Bezirksrathaus im 18. Pariser Arrondissement (https://www.francetvinfo.fr/les-jeux-olympiques/paris-2024/reportage-on-en-avait-marre-d-etre-invisibles-a-deux-jours-des-jo-de-paris-2024-des-dizaines-de-familles-a-la-rue-campent-devant-la-mairie-du-18e-arrondissement_6683943.html externer Link), an mehreren Stellen bislang Wohnungslose oder prekär hausende Menschen hervor. Diese gingen just zu dem Zeitpunkt an die Öffentlichkeit, weil sie sich durch den Scheinwerfereffekt rund um Paris vor den und während der Olympischen Spiele bessere und schnellere Möglichkeiten erhofften, eine Unterbringung zu erkämpfen, weil die Behörden nur keine Probleme mit wahrnehmbaren Besetzungsaktionen haben wollten. Gleichzeitig hatten bspw. kollektive Kampiermöglichkeiten im öffentlichen Raum, wie am Ufer von Kanälen wie im Pariser Nordosten und in Saint-Denis, zuvor im Zuge der sozialen Säuberungs- und Imagepolier-Maßnahmen im Vorfeld abgenommen.

Unterbringungen wurden auf diese Weise übrigens oft erreicht, allerdings oft nur auf begrenzte Zeit, zwischen einer Woche und einem Monat. Zuletzt wurde ein Camp von rund 200 Personen am 07. August d.J. auf der Pariser place de la Bastille behördlich/polizeilich geräumt. (Vgl. https://france3-regions.francetvinfo.fr/paris-ile-de-france/paris/ce-n-est-pas-la-fete-pour-tout-le-monde-faute-de-logement-quelque-200-personnes-campent-place-de-la-bastille-a-paris-3014957.html externer Link und https://video.lefigaro.fr/figaro/video/quelque-200-sans-abri-evacues-de-la-place-de-la-bastille-a-paris/ externer Link)

Während des Ablaufs der Olympischen Spiele scheint es nicht zu massiver, jedenfalls nicht über sonst anzutreffende Dimensionen hinausgehender Repression etwa gegen Sans papiers, gegen Migranten gekommen zu sein. Dies hätte der Autor sonst, sowohl politisch über die Sans papiers-Kollektive als auch in seinen anwaltlichen Funktionen, zwingend mitbekommen. In einigen Bereichen im unmittelbaren Einzugsfeld der olympischen Stätten waren entsprechende Personen zuvor weitgehend (von selbst) verschwunden und hatten sich anderswo hin zurückgezogen, schlicht aufgrund der hohen Polizeidichte im öffentlichen Raum. Eigens dazu erschiene Medienberichte, die aber auch über Mailinglisten der Solidaritätsbewegung verbreitet und also dort auch rezipiert wurden, sprechen von Ausweichstrategien durch vorübergehendes Abwandern nach Barcelona, Madrid, Brüssel oder Berlin – vor allem bei jüngeren Migranten. (https://www.lemonde.fr/societe/article/2024/08/11/jo-2024-le-paris-des-invisibles-si-pres-et-si-loin-de-la-fete_6276009_3224.html externer Link) Bei jenen, die dennoch in Paris blieben oder nicht die Wahl hatten (etwa mangels Kontakten oder weil sie sich nicht in eine andere fremde Stadt trauten), war jedoch zu verzeichnen, dass sie sich vorübergehend nicht mehr etwa an die kostenlosen Nahrungsausgabestellen trauten.

Bei vorübergehend festgenommenen Personen während der Olympiade scheint es eher so gewesen zu sein, dass diese überwiegend wieder freikamen, sofern sie „nur“ ohne Aufenthaltstitel waren (also eben sans papiers), da die zahlenmäßig stark präsente Polizei völlig andere Prioritäten hatte – von der Verhinderung oder Verfolgung von Taschen- und Trickdiebstahl bei Tourist/inn/en bis hin zur Abwendung von Attentatsrisiken.

216 bislang prekär wohnende oder wohnungslose Menschen erhielten zugleich in Paris eine dauerhafte Unterbringung, was sicherlich einen Tropfen auf den heißen Stein darstellt, und was durch Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner im TV übertragenen Ansprache vom Montagmittag, 12. August – auf welche wir in den folgenden Tagen noch zurückkommen durften – eigens lobend oder selbstlobend erwähnt wurde. Heftige Kritik daran kam von Solidaritätsinitiativen und Nichtregierungsorganisationen. Diese wiederum wiesen darauf hin, 12.500 Personen seien zwischen April 2023 und Mai 2024 aus Paris vertrieben respektive bei ihrer Notunterbringung in andere Regionen „umverteilt“ worden. /(Vgl. https://www.liberation.fr/sports/jeux-olympiques/jo-de-paris-2024-emmanuel-macron-se-felicite-du-relogement-de-200-grands-marginaux-les-associations-ulcerees-20240812_CKZTLXD5UBAAVNU7KTJJMGPI6I/ externer Link) Kritik könnte man übrigens auch an Macrons Wortwahl üben, er sprach im Zusammenhang mit den gut 200 vorgenommenen, verfestigten Unterbringungen von grands marginaux, also ungefähr „Schwer Ausgegrenzten“. Nun hat der Begriff marginaux (wörtlich: „Randständige“) im Französischen einen Doppelklang, er klingt bei manchen Sprecher/inne/n eher wie „Ausgegrenzte“ – gibt also der Mehrheitsgesellschaft die Schuld an der Marginalisierung -, bei anderen Sprecher/inne/n eher wie „Asoziale“ im Deutschen. Ein besserer Begriff, da weniger ambivalent, wäre hier „prekär Lebende“ oder „Prekarisierte“.

Erfolge des Refugee Teams

Nicht unerwähnt bleiben darf unterdessen, dass das seit 2015 im Zusammenhang mit Olympischen Spielen existierende internationale Refugee Team in Paris 2024 erstmals Medaillen holen konnte. Dabei erzielte die in Großbritannien lebende, ehemals sich dort „illegal“ aufhaltende und inzwischen mit dem Flüchtlingsstatus ausgestattete gebürtige Kamerunerin Cindy Ngamba eine Bronzemedaille im Boxen. Aufgrund ihrer Homosexualität könnte sie nicht in Kamerun, wo schwule und lesbische Handlungen strafbar und weitgehend gesellschaftlich geächtet sind, nicht leben.

Vgl. zu ihr (und ihrer bewegenden Gesamtgeschichte):

Neben ihr traten für das, vom Olympischen Komitee gebildete „Flüchtlings-Team“ (dessen staatenlose oder als Flüchtlinge anerkannte Mitglieder aufgrund ihres Status nicht für die jeweiligen Herkunftsländer antreten können oder dürfen) auch mehrere afghanische Frauen an. Zwei von ihnen konnte der Verf. dieser Zeilen selbst beim Radrennen der Frauen, das am 04. August in Paris drei mal das Montmartre-Viertel umfuhr und von viel Öffentlichkeit begleitet war, beobachten.

Mehrere afghanische Teilnehmerinnen nutzten ihre Olympia-Beteiligung dazu, über Interviews oder auf anderen Wege Botschaften zu verbreiten. (Vgl.: https://www.leparisien.fr/jo-paris-2024/athletisme/jo-paris-2024-athletisme-la-courageuse-prise-de-position-de-lafghane-kimia-yousofi-contre-les-talibans-03-08-2024-XV4DSNMJGRA6FNVLRQ2BKPXUP4.php externer Link und https://www.vogue.fr/article/athlete-afghane-kimia-yousofi-milite-oppression-femmes-jeux-olympiques-2024 externer Link – Beispiel aus der Leichtahtletik mit der Läuferin Kimia Yousofi) In ihrem seit dem 15. August 2021 erneut (nach ihrer ersten Herrschaft von Oktober 1996 bis Oktober 2001) durch die Taliban regierten Herkunftsland Afghanistan wäre es undenkbar, dass Frauen in einer gemischten Öffentlichkeit Sport betreiben, geschweige denn dafür gefördert würden.

Der afghanischen Olympia-Teilnehmerin Manizha Talash, die zuvor eine Medaille im Breakdance gewonnen hatte und die ebenfalls zum Refugee Team zählte, wurde diese die Auszeichnung jedoch wieder entzogen, weil sie unmittelbar nach ihrer Vorführung eine politische Botschaft auf ihrer Weste enthüllt hatte (https://www.lequipe.fr/Jo-2024-paris/Breaking/Actualites/L-afghane-manizha-talash-disqualifiee-pour-avoir-affiche-un-message-politique-lors-des-jo-de-paris-2024/1490350 externer Link und https://www.marianne.net/societe/free-afghan-women-apres-avoir-devoile-un-message-politique-la-breakeuse-manizha-talash-disqualifiee-des-jo externer Link)

Nun entspricht es zwar tatsächlich den Teilnahmeregeln, dass keine unmittelbar politischen – geschweige denn bspw. nationalistische, was hier mitnichten der Fall war – Botschaften verbreitet werden dürfen, sondern um des olympischen Friedens willen „politische Neutralität“ zu wahren sei. Dies kann man im Prinzip wohl auch richtig finden, um zu verhindern, dass diese internationale Zusammenkunft zu Zusammenstößen führt. Nur müsste man in der Lage sein, jedenfalls in Extremfällen wie bei der Unterdrückung afghanischer Frauen, zu denen überdies (jedenfalls theoretisch) ein weitgehender internationaler Konsens herrscht, auch Ausnahmen begründeter Art zu machen.

Eine – richtige – Ausnahme hatte es etwa bei den Olympischen Spielen von 2000 in Sidney gegeben, wo die australische 400-Meter-Läuferin und -Siegerin Cathy Freeman neben der Fahne Australiens auch die der dort lebenden Aborigine-Nation, also der nach wie vor vielfach benachteiligten, diskriminierten und ausgegrenzten Ureinwohner/innen zeigte. Dies war theoretisch ebenfalls streng durch die Regeln der Olympischen Spiele verboten, denn diese lassen nur anerkannten Staatsflaggen von Teilnehmerländern (das schloss in diesem Jahr 2024 auch Palästina ein) zu. Niemand wagte es jedoch, Cathy Freeman dafür zu kritisieren oder gar zu sanktionieren. Freeman finanziert inzwischen Förderprogramme für Aborigine-Jugendliche in Bildung und Sport. Daran wurde auch rundum die Olympiade von 2024 in Paris vielfach erinnert. Vgl.

 

Artikel von Bernard Schmid vom 13.8.2024

Siehe im LabourNet Germany auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=222423
nach oben