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Interview mit Pascal Lejeune: „Die französische Gewerkschaftsbewegung und ihre Dynamik hing immer von agierenden Minderheiten ab“

Frankreich: Demo gegen Rentenreform am 11.2.2023 - Foto von Bernard SchmidDie imposante Massenbewegung gegen die Rentenreform von Emmanuel Macron („dem Präsidenten der Banker“), die in der ersten Hälfte dieses Jahres sechs Monate Frankreich auf positive Weise erschütterte und international große Aufmerksamkeit erregte, endete letztlich mit einer Niederlage. Doch umso wichtiger ist es, die Lehren aus diesem heftigen und spannenden Klassenkampf zu ziehen, denn dies wird nicht die letzte Gegenreform und keineswegs der letzte Angriff auf die Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen sein. Als Beitrag dazu präsentieren wir im Folgenden ein ausführliches Interview mit Pascal Lejeune, einem Gewerkschaftsaktivisten aus Paris mit langjähriger Erfahrung und einem Bezug zur syndikalistischen Traditionslinie der Arbeiterbewegung. Wir haben es bereits Mitte Juni 2023 geführt. Es blieb dann allerdings, zum Teil aus Arbeitsüberlastung und zum Teil bedingt durch die Beschäftigung mit den Banlieue-Aufständen nach der Erschießung der jungen Migranten Nahel bei einer Verkehrskontrolle durch einen Flic längere Zeit liegen. Wir Ihr sehen werdet, hat es allerdings nichts von seiner Aktualität und Substanz eingebüßt. Ganz im Gegenteil. An einigen wenigen Stellen haben wir es zum besseren Verständnis durch Einfügungen in doppelten Klammern und eine Anmerkung am Schluss ergänzt.“ Vorwort des Gewerkschaftsforums Hannover zu ihrem Interview mit Pascal Lejeune vom 6.9.2023 – wir danken!

„Die französische Gewerkschaftsbewegung und ihre Dynamik hing immer
von agierenden Minderheiten ab“

Ein Gespräch mit Pascal Lejeune über das Scheitern der Bewegung gegen Macrons Rentenreform, die Veränderung der bürgerlichen Demokratie, erfolgreiche Betriebskämpfe, die Krankheiten der großen Gewerkschaftsbünde und eine mögliche Präsidentin Marine Le Pen…

Interview: Gewerkschaftsforum Hannover

Am 6. Juni 2023 fand der 14. landesweite Aktionstag gegen Macrons Rentenreform statt. War das, angesichts der Tatsache, dass die rechtlichen und parlamentarischen Möglichkeiten, sie zu kippen, ausgereizt scheinen, jetzt der Schlussakt der Protestbewegung?

Es kam zur relativ geringsten Mobilisierung unter allen nationalen Aktionstagen. Es gibt immer noch das politische Projekt eines Referendums, nachdem ein erster Versuch von der Präsidialmonarchie abgelehnt und zusätzlich in juristischer Instanz wegen Formfehlern bestätigt wurde. Was leider viel schwerer wiegt, ist die Sommerpause. Traditionell steigt in Frankreich bei länger währenden Protest- und Sozialbewegungen der Unmut vom September ab an und steigert sich bis zum Juni, um dann im Sommer zu verschwinden. Das ist aber leider nichts Neues.

Die Dauer, die Dimension der Demonstrationen, die Einheit der 8 Gewerkschaftsbünde in der „Intersyndicale“ und die breite Unterstützung der Bevölkerung in den Umfragen waren beeindruckend. Warum gelang es dennoch nicht das Land lahmzulegen und die massive Verschlechterung des Rentensystems zu kippen?

Da muss ich etwas klarstellen: Es geht hier nicht um Verschlechterung, sondern um die Aushöhlung eines Prinzips. Die Leute sollen nicht wirklich länger arbeiten. Du konntest mit 62 Jahren gehen, wenn du 42 Beitragsjahre in deiner Karriere komplettiert hast. Jetzt mit 64 bei 43 Beitragsjahren. Dann hast du Anspruch auf den vollen Satz – gemäß Deiner eingezahlten Beiträge. Die meisten Menschen arbeiteten und arbeiten jetzt schon länger, und zwar zunehmend aufgrund unvollständiger Beitragsjahre. Das Höchstalter (die Obergrenze) wurde von 65 auf 67 Jahre heraufgesetzt. Die Leute sollen gar nicht so lange arbeiten. Denk an den Bausektor oder die Automobilindustrie. Da sind die Leute ab 55 eine Last für die Unternehmen. Senioren sind die teuersten und dauernd krank. Die Industrie ist allgemein nicht begeistert von Macrons Vorhaben. Die Reform wurde auch überhaupt nicht von Unternehmerseite vorgeschlagen oder gar begrüßt. Die Lohnnebenkosten sind hier Thema, nicht die Rettung des Rentensystems. Die Leute sollen mit Frührenten-Regelungen gehen und sich mit kleineren Bezügen begnügen. Und sie sollen sich mit geringen Löhnen und schlechten Bedingungen zufriedengeben oder weiter malochen.

Die großen Gewerkschaftsbünde sind weder in der Lage noch willens einen Generalstreik vom Zaun zu brechen. Die einzelnen Aktionstage mit Massendemonstrationen sind von unzähligen Blockaden, von lokalen Initiativen und Aktionen übers ganze Land verteilt sozusagen gestreckt worden. So etwas konnte und kann immer eine soziale und ökonomische Bewegung begleiten, es kann sie aber keinesfalls ersetzen. Neben den punktuellen politischen Streiks kam es parallel zu dauerhaften Streikbewegungen, überwiegend im öffentlichen Dienst, seltener in der Privatwirtschaft.

In den Bereichen, wo die Lohnfrage mit der Frage der Sozialbeiträge verbunden wurde, haben die Belegschaften meistens gewonnen, ja sogar für die Umsetzung der Rentenreform Sonderregelungen und Aufschub aushandeln können. Das ist etwa im öffentlichen Nahverkehr und bei der Bahn der Fall. Auch bei den Fluggesellschaften und der Müllabfuhr der großen Städte gab es Erfolge. Im Privatsektor kann das Textilunternehmen Verbaudet als Beispiel für einen kompletten Sieg stehen. Dort wurden Lohnerhöhungen mit Festgeld durchgesetzt, wobei es auch vor dem Hintergrund der Rentenbeiträge darum ging, das Prämiensystem dieses Unternehmens zu brechen. Außerdem wurde die Festeinstellung von Jobberinnen sowie die Rücknahme aller betriebsinternen Maßnahmen gegen Gewerkschafter und der Zivilklagen der Unternehmer gegen Streikposten erreicht. (Anm. 1)

Aber bei den 14 nationalen Aktionstagen, sind die Menschen – sicher in imposanter Weise und bis in die letzten Winkel Frankreichs – überwiegend als Individuen dem Aufruf der Intersyndicale gefolgt, weil sie die Parolen der Gewerkschaften gut fanden, und vom ungelernten Arbeiter bis zum Manager verbindet sie der Unwille zwei Jahre länger zu arbeiten. Die Bewegung gegen die 64 Jahre war ja eine politische Auseinandersetzung zwischen der Regierung und den Gewerkschaften, die um ihre Anerkennung als Verhandlungspartner ringen und lange Zeit von der gegenwärtigen Regierung links liegen gelassen wurden.

Die Unternehmer haben den Sozialpakt ja nicht aufgekündigt. Wie gesagt, die Unternehmerverbände interessiert diese Reform gar nicht, genauso wenig wie die Frage, wie der Staat an das Geld für seinen Haushalt kommt. Dafür hat der Unternehmerband der Metallindustrie in einem offenen Brief an Macron appelliert, seine Gangart zu mäßigen. Macrons Antwort darauf lautete, dass in Frankreich die Industrie ((dem Finanzsektor)) untergeordnet ist. Die Gewerkschaftsbünde standen also nie im Kern im Konflikt mit den Unternehmen, eher verband die Zentralen untereinander ein gemeinsames Interesse, als Repräsentanten des sozialen Protestes dazustehen und zurück an den Tisch zu kommen, etwa bei der demnächst anstehenden Reform des Pôle Emploi ((d.h. des frz. Arbeitsamtes)).

So kam es zu einem fünfmonatigen dynamischen Spektakel mit 14 Aktionstagen, das nun leergelaufen ist, weil ein Generalstreik nicht stattfand. Das war auch nie erklärtes Ziel. Auf nationaler Ebene ist von den Dachverbänden niemals die Frage der Lohnerhöhungen vor dem Hintergrund der Inflation aufgeworfen worden und auf besagter Ebene wurde auch nie versucht, sie an die Frage der Sozialbeiträge zu koppeln, so wie es vereinzelt, branchenspezifisch und betrieblich geschehen ist.

Wo kämen wir denn auch hin, wenn sich plötzlich überall vor Ort jeder in den Betrieben stark macht und lokal Streikbewegungen ausbrechen? Zum einen bestünde die Gefahr, dass es völlig aus dem Ruder läuft, und die Gewerkschaftsvorstände glauben nicht, dass sie das bei ihrem heutigen Zustand meistern könnten. Mehr als um Kontrollverlust oder der Angst davor, geht es zum anderen um das Konkurrenzspiel unter den Gewerkschaften, das wieder ausbrechen würde, wenn die jeweils andere Gewerkschaft vor ihnen ein Tarifabkommen unterschreibt. Dann flöge die Intersyndicale auseinander und wäre die Position gegenüber der Regierung wieder geschwächt.

Außerdem war die Regierung schon so geschickt, dass sie vorab den privaten Transportsektor bei der Reform ausgeklammert hat. Dort soll – klassisch in Frankreich – alles später umgesetzt werden. Diese Handhabe ist vielleicht von der Arbeitsrechtsreform der Jahre 2016 / 17 unter dem damaligen ‚sozialistischen‘ Präsidenten Francois Hollande und seiner ebenfalls ‚sozialistischen‘ Arbeitsministerin Myriam El Khomri abgeguckt worden, wo die Trucker ernsthaft mit Generalstreik und Blockade des Landes drohten und daher von der Reform ausgenommen wurden.“

Die „Frankfurter Rundschau“ schrieb am 14.6.2023 Präsident Emmanuel Macron sei ein „angeschlagener Sieger“, der „die Rentenschlacht in Frankreich gewinnt und doch als Verlierer dasteht“. Gehen er und seine Regierung tatsächlich geschwächt aus dieser Auseinandersetzung hervor?

Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 7 %. In Frankreich wird im europäischen Vergleich viel investiert. Frankreich hat funktionierende Bahnsysteme und Datenautobahnen. Eigentlich müsste er populär sein. Wahrscheinlich wird er in den nächsten Jahren versuchen, Mehrheiten für weitere Reformen und Gesetzesinitiativen im Parlament zu suchen. Er will ja nun auch wieder mit den Gewerkschaften reden, nur eben über die Renten nicht. Er verkauft sich zwar als Gaullist, aber das ist nur Etikettenschwindel, denn er wird keine seiner Entscheidungen auf eine Volksabstimmung stützen oder ihr gar überlassen. Die republikanische Rechte war ja eigentlich mit der allgemeinen Linie einverstanden. Doch da sind wahltaktische Erwägungen, politische Posen und Formalschlachten im Parlament mit im Spiel. Mich interessiert das allerdings wenig und ich glaube, der monatelange Zirkus dort liegt auch vielen Franzosen fern.“

Wie wird sich dieses Ergebnis auf die französischen Gewerkschaften, ihre Kampfkraft, ihre Kampfbereitschaft und ihre Einheit auswirken?

Die Gewerkschaften verzeichnen erstmals seit Jahrzehnten wieder Zuwächse. Dieser Zulauf kam innerhalb der Bewegung gegen die gegenwärtige Rentenreform auf, Generationen übergreifend. Das liegt auch an der sicht- und spürbaren Geschlossenheit aller Gewerkschaften – also der Intersyndicale. Generell hatten und haben die französischen Gewerkschaften ja einen geringen Organisationsgrad und ein schlechtes Image bei den Kolleginnen & Kollegen. Die werden als Kungelvereine betrachtet, die den jeweils anderen Verein im Betrieb argwöhnisch beäugen, und darauf bedacht sind, mit dem Patron das beste Privileg für ihr Grüppchen zuerst auszuhandeln. Dieses Bild ist in positiver Weise hier einmal in den Hintergrund getreten. Die Gewerkschaften haben also Aufwind mit neuen Leuten inklusive junger Leute. Mal sehen, was wir zusammen langfristig daraus machen.“

Inmitten der Mobilisierung fand der recht turbulente Kongress der CGT statt, die bislang der Eckpfeiler des militanten Flügels der französischen Gewerkschaftsbewegung war. Bleibt das so bzw. was tut sich innerhalb der ehemals KP-nahen Organisation?

Die jetzige Generalsekretärin Sophie Binet meint – entgegen anderen Auffassungen an der Basis –, dass für einen Generalstreik höhere Mitgliedszahlen nötig seien. Sie hat meines Wissens keine konkrete Zahl oder einen etwaigen Prozentsatz im Organisationsgrad genannt. Aber bei dem oben genannten Konflikt bei Verbaudet, hat die CGT mit einer Minderheit von 10% im Betrieb nach zweieinhalb Monaten hart geführtem Streik gewonnen. Die französische Gewerkschaftsbewegung und ihre Dynamik hing immer von agierenden Minderheiten ab. Und gegenüber einem jupiterhaften Regierungsstil à la Macron, der dem Parlament das Votum verweigert und über eine solche Reform kein Referendum zulassen will – einer Reform, die nach fünfmonatiger gescheiterter Gehirnwäsche immer noch von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung (ja sogar von der ganz überwiegenden Mehrheit der aktiven Bevölkerung) abgelehnt wird, darf die Demokratiefrage gestellt werden. Was kümmert uns noch die Mehrheit oder die Minderheit? Wichtig ist nur die Macht der Durchsetzbarkeit. So verstehe ich die Lektion.

Derweil schult die CGT ihre Kader nicht mehr, wie übrigens auch die stark geschrumpfte Kommunistische Partei (PCF) nicht. Das macht sich bemerkbar, z. B. wenn die Basis in Arbeitskonflikten kopflos losstürmt, die Ortsvereine oder Mitglieder im Gefolge für Solidarität und Prozesskosten aufkommen müssen, und etwa Betriebsdelegierten gekündigt wird, wobei selbst die CGT-Schöffen sie und ihre Aktionen vor den Arbeitsgerichten oder den Arbeitsinspektionen nicht mehr verteidigen können oder wollen.

Auf der anderen Seite schließt die Metall-Föderation eine langjährig besonders aktive Betriebsgruppe der CGT bei Peugeot aus. Die ist inzwischen zu SUD gewechselt, wo sie weiter besteht. Und der für die Industrie zuständige Branchengewerkschaft versucht vor den Betriebswahlen vergeblich eine wirtschaftsfriedliche CGT-Sektion zu etablieren, mit dem Resultat, dass die CGT bei Peugeot unter die 10% Hürde gefallen und somit bei diesem Automobil-Hersteller nicht mehr repräsentativ ist Sie kann also keine Tarifverhandlungen mehr führen und keine betrieblichen Abkommen mehr abschließen. Stalinisten sind sie gewiss nicht mehr, aber von Säuberungen verstehen sie immer noch etwas.“

Im Verlauf der Rentenproteste schlossen sich immer mehr Schüler und Studenten der Bewegung an. Wie kam das und was bedeutet das für die Zukunft? In Deutschland sind Jugendliche bestenfalls über Antifa-Themen und die Klimafrage mobilisierbar…

Das ist höchst interessant. Die Kasseroladen (Lärmkonzerte mit Kochtöpfen) hängen hiermit zusammen. Die halte ich aber eher für ein Randphänomen. Es geht um den Verfassungs-Artikel 49.3, der es einer Regierung erlaubt, ein Gesetz ohne Abstimmung und Debatte durchzusetzen. Hier hat sich die Frage gestellt, wie funktioniert das System? In was für einer Republik und in was für einer Demokratie leben wir? Und daran hat sich besonders die Jugend mobilisiert. Daher auch dieses Motto: „Ihr hört uns nicht zu – also wir hören Euch auch nicht zu!“ und die Aktionen, Regierungsvertreter bei öffentlichen Auftritten am Reden zu hindern.

Es ist recht komisch, auf Demonstrationen so viele unter Dreißigjährige, zum Teil unter Zwanzigjährige skandieren zu hören: „Die Rente mit 60 – wir haben gekämpft, um sie zu bekommen, wir werden kämpfen, um sie zu sichern.“ Ich wäre in dem Alter wahrscheinlich eher nicht – und wenn dann mit weniger Enthusiasmus – einem Aufruf zur Sicherung des Rentensystems gefolgt. Aber das Prinzip unserer Rentensysteme ist doch, dass eine Generation für die andere einsteht. Insofern ist das Inter-Generationen-Phänomen sehr wichtig.

Es gibt unter den Studierenden und Auszubildenden höherer Fachabschlüsse mehr Leute aus der Klasse als zuvor. Ich rede hier nicht von denen mit vermögenden Eltern, sondern von den anderen, die ihre Eltern haben malochen sehen und gut verstehen, was zwei Jahre mehr heißt, und was es für sie selbst heißen wird, mit unvollständigen Karrieren, mit fehlenden Beitrittsjahren in die Rente zu müssen. Das wird auch noch für die anstehende Reform der Berufsschulen interessant.

Das Austreten aus der Pandemie spielte auch eine Rolle. Die Rentenreform haut mit Gewalt nicht nur in eine Phase der Teuerung, sondern auch in eine Periode, in der viele sich die Frage nach Wesen und Inhalt der Arbeit, nach ihrem gesellschaftlichen Wert, nach den Prioritäten im Leben gestellt haben und weiterhin stellen (Stichwort Paul Lafargue: „Recht auf Faulheit“). Nicht nur haben viele Leute ihre alten Branchen verlassen (ganz stark war das etwa in der Gastronomie oder im Kulturbereich der Fall), um sicherere, geregeltere Arbeit zu suchen. Es gibt auch einen Trend in der Jugend, wieder aus den Städten wegzuziehen – mit persönlichen Projekten, die nicht kapitalistisch geprägt sind.“

Welche Oppositionspartei profitiert politisch von diesem Kampf, dem autokratischen Vorgehen Macrons und der Niederlage der Bewegung? Der rechtsradikale Rassemblement National von Le Pen oder eher Melenchons La France Insoumise (LFI) und das grün-linke NUPES-Bündnis?

Die politischen Formationen der Linken sind in einem desolaten Zustand, und ich verfolge aus Gewerkschaftsperspektive eher soziale und wirtschaftliche Ansätze, weniger die parlamentarischen.

Das heißt, ich wähle aus, wo und ob es darum geht, über die Zukunft nachzudenken. Ich wähle den Klassenkampf, nicht die parlamentarischen Wechselspiele. Die Rentenreform ist durch, was bleibt?  Die Leute haben schon die Erhöhung von 60 auf 62 nicht verdaut, jetzt kommt von 62 auf 64. Was bleibt, ist die Wut und wie sie weiter ihren Ausdruck findet. In Krisenzeiten ist die große Frage: ‚Wer bezahlt die Krise? Gegenwärtig zahlt die Arbeiterklasse, wer denn sonst?‘“

Doch nochmal nachgehakt: In den Umfragen liegt die Rechtspopulistin Marine Le Pen vom Rassemblement National (bis Juni 2018 hieß die Partei Front National) vorn. Was käme mit einer solchen Staatschefin und ihrer Exekutive aus die Lohnabhängigen zu?

Wenn FN / RN politisch Kapital schlagen kann aus einem Scheitern der Reste der Arbeiterbewegung an der Rentenfrage und der daraus eventuell resultierenden Frustration im Volk, dann kann man nur spekulieren, was passiert. Der  / RN hat sich – wie immer schlau – gegen Macrons Rentenreform ausgesprochen, und ist dabei der ganzen Bewegung gegen sie fern geblieben. Sie wollen nicht als Nestbeschmutzer dastehen, sondern am Rand abwarten und hinterher absahnen.

Es fragt sich dann vor allem, wie sich die Finanzwelt und die Unternehmerschaft zu der von Le Pen angekündigten Rücknahme der Reform positionieren. Wahlversprechen betreffen nur Leute, die an sie glauben, und der FN / RN hat sich in der Vergangenheit stets pragmatisch gezeigt, also ursprünglich radikale Positionen komplett zurückgenommen oder verwässert.

Zum Beispiel ist absehbar, dass die Reform dahingehend erweitert wird, die Sozialbeiträge der Lohnabhängigen zu senken – welch ein ‚schönes Geschenk‘ an die Arbeiterschaft! Das wäre eine vorgegebene Linderung bei tatsächlicher Verschärfung: die weitere Aushöhlung des Sozialversicherungssystems. Es ist denkbar, dass das bis in die Arbeiterklasse hinein nicht erkannt wird – von ihrem bewussten Teil hingegen schon.

Schlimmer noch wäre, dass die Rentenreform von jenen Leuten wirklich zurückgenommen wird und es für das darauffolgende Jahrzehnt unmöglich wird, irgendetwas gegen die Rechte zu sagen. Man kann den Albtraum sogar noch weitertreiben: Kaum auszudenken, wenn sie das französische Präsidialsystem ganz legal mit Wahlen erobert haben und dann den gegenwärtigen Regierungsstil mit Sonder-Paragraphen weiter pflegen. Macron wäre dann rückblickend ihr Steigbügelhalter gewesen.

Übrigens ist die Gelbwesten-Bewegung ja im sogenannten halburbanen Bereich entstanden, dieser Bereich, der nicht mehr richtig Land aber noch nicht ganz Stadt ist. Dort sind auch die Wahlerfolge des FN / RN am größten. Diese Gebiete interessieren die Rechten sehr, da wo auch die gewerkschaftliche Verankerung sehr gering ist. In die Gelbwesten-Bewegung waren sie massiv hingedrängt. Die gegenwärtige gewerkschaftlich getragene Bewegung interessiert sie hingegen überhaupt nicht. Hier gibt es keine Eintrittsbewegung oder Unterwanderungsversuche.“

Anmerkung

1) In dem Textilunternehmen Verbaudet streikten unseren Informationen nach 72 der 255 Beschäftigten mehrere Wochen lang. Am 2. Juni 2023 erreichten sie unter anderem Lohnerhöhungen zwischen 90 und 140 Euro monatlich. Für 80% der Belegschaft bedeutete das eine Entgelterhöhung von 7%.

Siehe zum Hintergrund im LabourNet u.a.:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=214979
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