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Frankreich: Zweiter massenhaft befolgter gewerkschaftlicher „Aktionstag“ gegen die Rentenreform am heutigen 31. Januar 23

31. Januar 2023: Streik- und Kampftag in Frankreich gegen die Renten"reform"Eine globale Auswertung des zweiten gewerkschaftlichen „Aktionstags“ mit Streiks und Demonstrationen am heutigen 31. Januar 23 ist bei Abschluss dieses Artikels noch nicht möglich. Die Pariser Demonstration, deren Beginn auf 14 Uhr angesetzt war, hatte zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses noch nicht begonnen. Aus Toulouse wurden zur Mittagszeit bereits 80.000 Demonstrierende vermeldet. In südfranzösischen Städten wie Avignon und Digne fiel die Mobilisierung bei den Protestzügen laut ersten Presseberichten „stärker“ aus am vorigen Aktionstag vom 19. Januar mit frankreichweit zwischen 1,16 und zwei Millionen Demonstrierenden, ebenso in Nordostfrankreich in der Nähe zur belgischen Grenze… Von den Raffinerie-Standorten wurde eine Streikbeteiligung in Höhe „zwischen 75 und 100 Prozent“ vermeldet. 200 Oberschulen waren frankreichweit blockiert, das sind zwischen fünf und sechs Prozent der Schulgebäude – mit Schwerpunkt wohl in Paris -, beim vorigen „Aktionstag“ waren es 150. Fortsetzung zum aktuellen Demo-Geschehen folgt im nächsten Newsletter!…“ Artikel von Bernard Schmid vom 31.1.2023 – wir danken!

Frankreich: Zweiter massenhaft befolgter gewerkschaftlicher „Aktionstag“
gegen die Rentenreform am heutigen 31. Januar 23

Eine globale Auswertung des zweiten gewerkschaftlichen „Aktionstags“ mit Streiks und Demonstrationen am heutigen 31. Januar 23 ist bei Abschluss dieses Artikels noch nicht möglich. Die Pariser Demonstration, deren Beginn auf 14 Uhr angesetzt war, hatte zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses noch nicht begonnen. Aus Toulouse wurden zur Mittagszeit bereits 80.000 Demonstrierende vermeldet. In südfranzösischen Städten wie Avignon und Digne fiel die Mobilisierung bei den Protestzügen laut ersten Presseberichten „stärker“ aus am vorigen Aktionstag vom 19. Januar mit frankreichweit zwischen 1,16 und zwei Millionen Demonstrierenden (vgl. https://www.laprovence.com/article/region/1617588156300516/direct-laprovence-reforme-des-retraites-parcours-modifie-a-marseille-et-avignon-perturbations-dans-de-nombreux-secteurs-nos-infos-sur-la-mobilisation-en-provence externer Link), ebenso in Nordostfrankreich in der Nähe zur belgischen Grenze (vgl. https://www.lavoixdunord.fr/1285500/article/2023-01-31/direct-reforme-des-retraites-les-syndicats-esperent-une-mobilisation-encore-plus externer Link)… Von den Raffinerie-Standorten wurde eine Streikbeteiligung in Höhe „zwischen 75 und 100 Prozent“ vermeldet. 200 Oberschulen waren frankreichweit blockiert, das sind zwischen fünf und sechs Prozent der Schulgebäude – mit Schwerpunkt wohl in Paris -, beim vorigen „Aktionstag“ waren es 150. Fortsetzung zum aktuellen Demo-Geschehen folgt im nächsten Newsletter!

Beginn der parlamentarischen Beratungen zur „Reform“

Enrichissez-vous! („Bereichert Euch!‘): Dieser Ausspruch wird historisch François Guizot, dem französischen Multifunktionsminister und Regierungschef bis kurz vor der Revolution von 1848, zugeschrieben. Er gilt als ausgemachter Interessenverwalter der Bourgeoisie, in seiner Amtszeit als Premierminister verteidigte er unter anderem das damalige Zensuswahlrecht. Guizot benutzte auch als einer der Ersten den Begriff „Klassenkampf“… nur führte er ihr von oben.

Enrichissez!, also: „Reichert an!“, lautet derzeit das Stichwort des amtierenden Staatspräsidenten Emmanuel Macron. An- oder bereichern will Emmanuel Macron allerdings nicht die Renten oder die Rentner/innen. Auch er gilt, unter ziemlich veränderten historischen Umständen, als Garant der Interessen der obersten Einkommensklassen und der Kapitaleigentümer. „Anreichern“ sollen oder können, seinen Worten vom Sonntag, den 22. Januar zufolge nun Abgeordnete den heftig umstrittenen Gesetzentwurf zur Rentenreform, unter Berücksichtigung von Vorschlägen aus der Gesellschaft, sofern diese nicht die Grundzüge der geplanten sozial regressiven Reform in Frage stellen. Nicht in Frage kommen wird – dies stellte seine Premierministerin Elisabeth Borne eine Woche später, am 29. Januar d.J. unmissverständlich klar (vgl. https://www.latribune.fr/economie/france/retraites-le-report-de-l-age-de-depart-a-64-ans-n-est-plus-negociable-avertit-elisabeth-borne-949723.html externer Link) – eine Diskussion über die beiden Kernpunkte der „Reform“: die Anhebung des Rentenmindestalters von 62 auf künftig 64 (dieses ist nicht mit dem Alter für eine abschlagsfreie Rente zu verwechseln, eine solche, d.h. ohne Strafabzüge gibt es erst ab 67!) sowie die Erhöhung der Zahl erforderlicher Beitragsjahre von derzeit 42 auf 43 bis im Jahr 2027; statt, wie unter Präsident François Hollande 2014 beschlossen, „erst“ bis 2035.

Der Entwurf zur Reform wurde, nachdem die Inhalte am 10. Januar d.J. durch Premierminister Elisabeth Borne der Öffentlichkeit präsentiert worden waren – Labournet berichtete ausführlich – am Montag, den 23. Januar vom Kabinett beschlossen. Am gestrigen Montag, den 30. Januar 23 begann sich das französische Parlament, zunächst in Gestalt des Sozialausschusses der Nationalversammlung, mit dem Text zu befassen. Dabei platzte der Raum aus allen Nähten, weil die parlamentarische Linksopposition in Gestalt der NUPES ausgesprochen zahlreich erschien. Doch in einen größeren als den reservierten Saal umzuziehen, lehnten die Macron-Anhänger/innen, welche seit der Parlamentswahl vom Juni 2022 nur noch eine relative und nicht länger eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung besitzen, strikt ab.

Und ferner ist die Debatte im Ausschuss auf drei Tage beschränkt, jene im Plenum der Nationalversammlung auf zwanzig Tage. Anträge aus den Reihen der Opposition, auch an Wochenende zu debattieren, lehnte die (relative) Mehrheit wiederum ab. Anlässlich der gestrigen Ausschussdebatte kam es zu einigen verbalen Scharmützeln. Unter anderem nahm es sich ein Abgeordneter der französischen KP (des PCF), Sébastien Jumel – dessen Partei ist zusammen u.a. mit der linkspopulistischen Wahlplattform LFI eines der Mitglieder der übergreifenden Fraktionsgemeinschaft der NUPES – heraus, das Regierungslager zu provozieren, indem er ankündigte, dass man einigen ihrer Vertreter/inne/n den Saft in ihren Wahlkreisbüros abdrehen können.

Gezielte kurzfristige Stromabschaltungen hatte die CGT im Energiesektor bereits vor dem letzten gewerkschaftlichen Aktionstag vom 19. Januar d.J. angekündigt, jedoch nur in wenigen (zunächst zwei, später drei bekannt gewordenen) Fällen auch durchgeführt; vielmehr hatte sie allgemein eher eine generelle partielle Absenkung der Stromproduktion sowie das Umstellen bestimmter Anschlüsse auf den günstigeren Nachttarif bevorzugt. CGT-Chef Philippe Martinez sprach sich seinerseits im TV-Interview am heutigen Morgen des 31. Januar für solche „Robin Hood-“Aktionen aus. Nachdem die Bäckereien in den letzten Wochen und Monaten über unbezahlbar werdenden Energiepreisen für ihre Läden und vor allem ihre Backöfen klagten (und am 23. Januar in Paris auch deswegen demonstrierten), schlug die CGT in der vorigen Woche mehrfach vor, eine Aktionsform könne darin bestehen, Bäcker/innen günstiger zu versorgen.

In Reaktion auf die verbale Stichelei des gewerkschaftsnahen KP-Abgeordneten fand das Regierungslager übrigens einen, tendenziell anrüchigen, Verbündeten. Denn der rechtsextreme Rassemblement National (RN) – obwohl jener sich zugleich verbal als scheinbar besonders entschlossene Opposition zur „Reform“ positioniert, was seiner Chefin in einem Teil der öffentlichen Meinung auch honoriert wird, denn lt. einer Umfrage halten 25 % sie für die „erste Opponentin“ dagegen; im Vergleich: 31 % für Philippe Martinez von der CGT (vgl. http://www.communcommune.com/2023/01/l-opposition-a-la-reforme-des-retraites-s-intensifie-dans-l-opinion.html externer Link)- eilte ihm in dieser Frage zu Hilfe.

So wandte sich der RN-Parlamentarier Thomas Ménagé in scharfen Worten gegen die „Provokationen“ des Linksbündnisses NUPES, dessen „Chaotisierungs“taktik, ihre „parlamentarische Verschleppung“ – dass die NUPES 7.500 Änderungsanträge einbringe, sei skandalös und unnütz – und die „Sabotage“sprüche.

In seinen Worten über die „Chaotisierung“ griff der rechtsextreme Abgeordnete einen Begriff auf, den Innenminister Gérald Darmanin am vorigen Samstag, den 28. Januar benutzt hatte. Er sprach in die Mikrophone, die NUPES betreibe eine Strategie der bordélisation (man könnte es noch etwas derber als „Chaotisierung“ übersetzen, von bordel = Saustall, Durcheinander) und vertrete einen „Linksradikalismus der Faulheit, des Gutmenschentums“, das die Tugend der Arbeitsamkeit zurückweise. Durch dieses schroff polarisierende Auftreten – dessen taktischer Sinn sich vorläufig nicht völlig ergibt -, offenkundig mit Billigung seiner Vorgesetzten (Macron und Darmanin), schlug Darmanin nun andere Töne an als die bisherigen, vordergründig auf Dialog und Verständigung drängenden aus dem Regierungslager. (Vgl. https://www.bfmtv.com/politique/gerald-darmanin-la-nupes-ne-cherche-qu-a-bordeliser-le-pays_VN-202301280361.html externer Link; https://www.laprovence.com/actu/en-direct/20791693916296/bordelisation-du-pays-par-la-nupes-a-marseille-gerald-darmanin-persiste-et-signe externer Link und https://www.youtube.com/watch?v=VN1K0lpI38c externer Link )

Am heutigen Dienstag, den 31. Januar setzt Darmanin insgesamt über 11.000 Bedienstete von Polizei und Gendarmerie ein, darunter 4.000 allein in Paris. Sein Innenministerium erklärte dazu, eine „Radikalisierung“ der Bewegung zu fürchten und mit der Präsenz von „mehreren Hundert Gewaltbereiten“ in Paris zu rechnen. Im Unterschied zur Ära des vormaligen Pariser Polizeipräfekten Didier Lallement (2019 bis 2022) wird allerdings allgemein bemerkt, dass seit dem Antritt seines Amtsnachfolger Laurent Nuñez – zuvor Staatssekretär im Innenministerium, und damit aus dem Herzen des Apparats kommend – die Polizei in der Hauptstadt eine strategisch geschmeidigere, weniger bewusst provokante Strategie durchführe. Zur Amtszeit des Vorgängers Lallement ging die Polizei systematisch auf Kontakt, nutzte die Präsenz der (ihrerseits taktisch nicht immer sonderlich intelligenten) Glasbruchfraktion, um ganze Demonstrationen stundenlang zu blockieren oder größere Teile von ihnen völlig einzukesseln. Auf den Höhepunkten, wie am 1. Mai 2018, stand sogar CGT-Chef Philippe Martinez unvermittelt im Tränengasnebel. Unter dem Amtsnachfolger Lallements hingegen setzt die Polizei eher auf das Isolieren kleinerer Teile, aber ohne Konfrontation mit der Mehrheit der Demonstrierenden, wertet gewerkschaftliche Ordnerdienst auf und kooperiert mit ihnen. Und kommt es zu Reibereien mit kleineren Fraktionen, leitet sie die übrige Demonstration auf von den Veranstalter/inne/n gewählten und akzeptieren Ausweichrouten um.

Dies Alles verhinderte jedoch nicht, dass – obwohl die Medien, durch das Ausbleiben von Konfrontationen auf breiterer Front erleichtert, beim vorigen Aktionstag am 19. Januar auf allgemeine Entwarnung schalteten und vom Ausbleiben von Gewalt berichteten – es zu zwar räumlich begrenzten, aber punktuell massiven polizeilichen Übergriffen kam. Ein Mann, 26jähriger Ingenieur aus dem französischen „Überseegebiet“ Guadeloupe, verlor daraufhin einen Hoden, nachdem er bereits am Boden liegend mit einem Schlagstock traktiert worden war. Dies wurde erst Tage nach der Demonstration publik. (Vgl. bspw. https://www.liberation.fr/societe/police-justice/un-homme-emascule-par-un-policier-lors-de-la-manifestation-du-19-janvier-porte-plainte-20230122_GFX5J4EA3VE6TJSNLKITOHE3GU/ externer Link) Die Politik ging daraufhin allerdings auf Distanz zu dem als isoliert dargestellten polizeilichen Angriff, Regierungssprecher Olivier Véran erklärte seine „Empathie“ für das Opfer. Ob es zu Sanktionen gegen den Urheber der Attacke kommen wird, muss sich noch erweisen.

Artikel von Bernard Schmid vom 31.1.2023 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=208412
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