»
Frankreich »
»
»
Frankreich »
»
»
Frankreich »
»

Frankreich: Die intersyndicale beschließt keinen neuen Aktionstag, aber Fortsetzung des Konflikts mit der Regierung – eine militante Opposition will weiter kämpfen

Frankreich: Aufruf Nous ne tournerons pas la page („Wir werden nicht das Blatt wenden…“)Das war’s wohl, was die aufeinanderfolgenden „Aktionstage“ französischer Gewerkschaften gegen die im März/April d.J. durchgedrückte Renten„reform“ betrifft. (…) Am Donnerstag, den 15. Juni 23 am Abend trafen die in der intersyndicale, d.h. dem alle wichtigen (ansonsten wettstreitenden) Richtungsgewerkschaftsverbände in Frankreich umfassenden Aktionsbündnis, zusammengeschlossenen Gewerkschaftsdachverbände (…) Dabei beschlossen die beteiligten Gewerkschaftsverbände, untereinander einig bleiben zu wollen, legten jedoch keinen Aufruf für einen neuen Protesttermin fest. Jedenfalls wird es vor der Sommerpause keinen neuen „Aktionstag“ geben. (…) Nicht zuletzt organisiert sich ein harter Kristallisationskern derzeit rund um den von Gewerkschafter/inne/n initiierten, über das Internet, bei Facebook und anlässlich von diversen Veranstaltungen verbreiteten Aufruf Nous ne tournerons pas la page („Wir werden nicht das Blatt wenden…“), der eine Fortsetzung der Bekämpfung der Renten„reform“ mit allen jeweils zu Verfügung stehenden Mitteln und eine Aufrechterhaltung des Drucks fordert…“ Artikel von Bernard Schmid vom 18.6.2023 – wir danken!

Frankreich: Die intersyndicale beschließt keinen neuen Aktionstag,
aber Fortsetzung des Konflikts mit der Regierung – eine militante Opposition will weiter kämpfen

Das war’s wohl, was die aufeinanderfolgenden „Aktionstage“ französischer Gewerkschaften gegen die im März/April d.J. durchgedrückte Renten„reform“ betrifft. Ihr erster (der Aktionstage) hatte am 19. Januar d.J. stattgefunden, mit massiven Demonstrationen frankreichweit, ihr letzter am 06. Juni d.J. mit einer erheblich bröckelnden, doch noch nichts in Lächerliche abgesunkenen Mobilisierung. (Wir berichteten)

Am Donnerstag, den 15. Juni 23 am Abend trafen die in der intersyndicale, d.h. dem alle wichtigen (ansonsten wettstreitenden) Richtungsgewerkschaftsverbände in Frankreich umfassenden Aktionsbündnis, zusammengeschlossenen Gewerkschaftsdachverbände und -bünde am Sitz der CFE-CGC, also des Gewerkschaftsverbands der höheren Angestellten, zusammen.

Dabei beschlossen die beteiligten Gewerkschaftsverbände, untereinander einig bleiben zu wollen, legten jedoch keinen Aufruf für einen neuen Protesttermin fest. Jedenfalls wird es vor der Sommerpause keinen neuen „Aktionstag“ geben.

Ihre gemeinsame Erklärung bekundet, die Auseinandersetzung um die Renten„reform“, für die das Macron-Lager politisch verantwortlich zeichnet, werde Spuren hinterlassen. Die Zurückdrängung der Parlamentsrechte durch die Exekutive im Zusammenhang mit ihrer Durchsetzung, die noch in den letzten Tagen zu einer kritischen Reaktion des Europarats führte [Fußnote], werfe „Fragen für die Zukunft“ auf, auch danach, wie Menschen künftig zu protestieren gedächten. Man werde „nicht das Blatt wenden“. Die intersyndicale kündigte ihre Präsenz, und den Aufbau eines Kräfteverhältnisses, für die im Herbst 2023 sich abzeichnende Verhandlung über die paritätisch durch Arbeit„geber“ und Gewerkschaften verwalteten Zusatzrentenkassen (AGIRC-ARCCO) im Herbst dieses Jahres an; aber auch für die drohende „Reform“ der Arbeitslosenversicherung. Diese soll insbesondere einen Arbeitszwang für Sozialhilfeempfänger/innen, die künftig unter dieselben Jobsuche-Nachweispflichten wie Arbeitslosengeldbezieher/innen fallen werden (geht es nach der Regierung), mit sich bringen.

Ähnlich äußerte sich im Vorfeld in einem Interview auch die neue CGT-Vorsitzende Sophie Binet.

Aus diesem Anlass sei vermerkt: Seit Anfang dieses Jahres, und selbstredend auch im Zusammenhang mit dem mehrmonatigen Konflikt um die Renten„reform“, verzeichneten die französischen Gewerkschaftsverbände nicht unbeträchtliche Mitgliederzuwächse. Vgl. dazu den unten stehenden Link zu einem Auswertungs-Artikel vom „Institut“ des Bildungsgewerkschaftsverbands FSU, dokumentiert bei der linken Internet-Zeitung Rapports de force. Letzterer beziffert den Mitgliederzuwachs bei französischen Gewerkschaften seit Jahresbeginn insgesamt auf rund 100.000.

Demnach verzeichnete etwa die CGT von Januar d.J. bis zu ihrem Kongress (in der letzten Märzwoche 2023) eine Mitgliederzunahme um + 30.000, davon Beitritte durch Klicken im Internet eingeschlossen; in dem Artikel wird präzisiert, 90 % dieser Internetbeitritte seien bis zum 01.05.23 dieses Jahres durch das Eintreffen von Beitragszahlungen bestätigt worden. Bei der CFDT seien von Anfang Januar bis Anfang Juni d.J. insgesamt 43.116 Neumitglieder verzeichnet worden, dies seien „30 % bis 40 % mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres“.

Allerdings weist der Beitrag auch darauf hin, insgesamt steige der gewerkschaftliche Organisationsgrad durch diesen Gesamtzuwachs nur um fünf Prozentpunkte. Dennoch sei es wichtig zu vermerken, dass viele bisher eher ungewohnte Profile unter den Neubeitritten seien: auch Leiharbeiter/innen, prekär Beschäftigte, Lohnabhängige in kleinen bis sehr kleinen Unternehmen (ohne gesetzliche Möglichkeit dazu, für gewerkschaftliche Aufgaben von der Arbeit Freigestellte zu bestimmen, da zu klein, d.h. in Einheiten unter fünfzig Beschäftigten), „sehr viele junge und weibliche Beschäftigte“. Dies sei – daraufhin wurde bei Labournet auch an anderer Stelle jüngst verwiesen – für die Auseinandersetzungen in naher Zukunft um Löhne und Inflations-Preissteigerungs-Ausgleich von Bedeutung.

Wichtig ist, dass es in Frankreich, also einem Land, wo es historisch keine Streikkassen gibt – was u.a. auch im Zusammenhang damit steht, dass das Streikrecht unabhängig von gewerkschaftlichen Strukturen, auch ohne Rückendeckung durch jedweden Apparat, ausgeübt werden kann und soll – und die Gewerkschaften als solche keine Streikgelder bezahlen, in diesem Jahr die Summen freiwillig per Solidaritätszahlungen und Spendensammlungen ausgeschütteter Streikgelder in den Himmel schoss. Noch im Februar d.J. gingen die Summen, die in mehreren untereinander verstreuten Streikkassen einlagen, i.d.R. nicht über wenige Zehntausend Euro hinaus, was ein-paar-Euro-fuffzig pro Streikteilnehmer/innen auszuzahlen erlaubt hätte. Doch ab Mitte März, d.h. ab dem Zeitpunkt der Durchsetzung der Renten„reform“ am Parlament vorbei und unter Ausschaltung des Abgeordneten-Votums (wir berichteten ausführlich), explodierten die Einzahlungen förmlich. Eine einzige Streikkasse wuchs bereits in der dritten Märzwoche auf über drei Millionen. Letztendlich dürfte im Laufe der Wochen der Auseinandersetzungen um die Rentenreform im Frühjahr 2023 eine (mittlere bis höhere?) zweistellige Anzahl an Euro in insgesamt vielleicht einhundert Solidaritätskassen erreicht worden sei. Dies war in dieser Form buchstäblich noch nie dagewesen. (Auch wenn, umgekehrt, die Zahl real durchgeführter Streiktage im diesjährigen Frühjahr eher relativ tief lag, gemessen an Konflikten wie etwa dem um die Renten„reform“ im November und Dezember 1995…)

Nicht zuletzt organisiert sich ein harter Kristallisationskern derzeit rund um den von Gewerkschafter/inne/n initiierten, über das Internet, bei Facebook und anlässlich von diversen Veranstaltungen verbreiteten Aufruf Nous ne tournerons pas la page („Wir werden nicht das Blatt wenden…“), der eine Fortsetzung der Bekämpfung der Renten„reform“ mit allen jeweils zu Verfügung stehenden Mitteln und eine Aufrechterhaltung des Drucks fordert. Ab dem heutigen Sonntag und noch mindestens bis zum 16. Juli d.J. werden die Iniator/inn/en allsonntäglich im Pariser Park Jardin des plantes zur Mittagszeit Picknicks mit Inhalten zur Fortbildung zum Renten„thema“, über historische Inhalte („1936 – 1945 – 1968, verpasste Chancen?“) und zu politischen Themen der Arbeiterbewegung („Die Rolle der Gewerkschaften bei den Umbrüchen in Tunesien und Ägypten 2011“) abhalten.

Artikel von Bernard Schmid (Jardin des Plantes, Paris) vom 18.6.2023 – wir danken!

(Artikel ursprünglich vom 16.06.23, überarbeitet und aktualisiert am 18.06.23)

Fußnote: Es handelt sich um eine kritische Stellungnahme der „Venedig-Kommission“ (commission de Venise), also des Ausschusses (des Europarats) für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, zum Einsatz des Artikels 49 Abs. 3 der französischen Verfassung zwecks Abwürgens der Parlamentsdebatte mittels Vertrauensfrage und Verabschiedung des Reform„gesetzes“ ohne Abstimmung. Eine Reaktion aus Frankreich dazu kam von dem gleichzeitig regierungskritisch und patriotisch auftretenden, politisch eher verwirrten und Verwirrung stiftenden Wochenmagazin Marianne. Dieses titelte dazu: „Die Venedig-Kommission möge sich um ihren Arsch kümmern!“.  Vgl.:

Quellen zum Artikel:

Siehe im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=212591
nach oben