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Das perfide System der Einstufungen. Interview mit der ecuadorianischen Gewerkschaft FrenApp, die Beschäftigte digitaler Plattformen organisiert
„FrenApp (Frente de los trabajadores de plataformas digitales del Ecuador) ist eine neuartige, noch relativ kleine Branchengewerkschaft in Ecuador, in der Beschäftigte des boomenden digitalen Sektors organisiert sind, vor allem Kolleg*innen, die für Lieferdienste wie Rappi und Deliveroo oder im Fahrdienst wie für Uber unterwegs sind. Aufgrund fehlender Regelungen fallen diese Kolleg*innen nicht unter die gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen und müssen ihre Arbeitskraft als Scheinselbstständige unter prekären Bedingungen veräußern. Ähnlich wie in Europa sind viele der Kolleg*innen bei den Lieferdiensten Migrant*innen, im Falle Ecuadors vor allem aus Kolumbien und Venezuela. Das gilt auch für Carolina Hevia de Brandts, Verantwortliche für Rechtsfragen von FrenApp, die zunächst von Venezuela nach Kolumbien ging, dort dann wegen ihrer gewerkschaftlichen Arbeit bedroht wurde und fliehen musste. Frank Braßel hat mit ihr das nachfolgende Telefoninterview geführt…“ Interview von Frank Braßel aus der ila 465 – wir danken!
Das perfide System der Einstufungen
Interview mit Carolina Hevia de Brandts von der ecuadorianischen Gewerkschaft FrenApp,
die Beschäftigte digitaler Plattformen organisiert
FrenApp (Frente de los trabajadores de plataformas digitales del Ecuador) ist eine neuartige, noch relativ kleine Branchengewerkschaft in Ecuador, in der Beschäftigte des boomenden digitalen Sektors organisiert sind, vor allem Kolleg*innen, die für Lieferdienste wie Rappi und Deliveroo oder im Fahrdienst wie für Uber unterwegs sind. Aufgrund fehlender Regelungen fallen diese Kolleg*innen nicht unter die gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen und müssen ihre Arbeitskraft als Scheinselbstständige unter prekären Bedingungen veräußern. Ähnlich wie in Europa sind viele der Kolleg*innen bei den Lieferdiensten Migrant*innen, im Falle Ecuadors vor allem aus Kolumbien und Venezuela. Das gilt auch für Carolina Hevia de Brandts, Verantwortliche für Rechtsfragen von FrenApp, die zunächst von Venezuela nach Kolumbien ging, dort dann wegen ihrer gewerkschaftlichen Arbeit bedroht wurde und fliehen musste. Frank Braßel hat mit ihr das nachfolgende Telefoninterview geführt.
Wann und wie ist FrenApp entstanden?
Unsere Gewerkschaft entstand wegen der prekären Arbeitsbedingungen. Die Kollegin Yuly Ramírez führte 2018 eine erste arbeitsrechtliche Klage im digitalen Sektor und mobilisierte andere Leute. Ich war in dieser Zeit in Kolumbien gewerkschaftlich aktiv, wurde bedroht und kam nach Ecuador, wo ich Yuly kennenlernte. Mit diversen Kolleginnen und Kollegen haben wir am 7. Oktober 2021 die Branchengewerkschaft FrenApp gegründet. Wir haben eine App, auf der Menschen sich uns anschließen können, über die wir Infos streuen, Versammlungen einberufen etc. Zunächst waren wir nur in Quito vertreten, aber inzwischen haben wir Mitglieder in Ambato, Guayaquil, Cuenca und anderen Städten.
Wie viele Mitglieder habt ihr?
Aktuell gibt es 712 Mitglieder, aber die Fluktuation ist stark, die meisten sind Migrant*innen. Angesichts der sehr schwierigen Situation in Ecuador, der prekären Arbeitsbedingungen und extrem schlechten Bezahlung von 30 Cent bis zu einem Dollar pro Bestellung sind viele in ein drittes Land gezogen. Die jüngste Studie der ILO (https://www.ilo.org/lima/publicaciones/WCMS_864345/lang–es/index.htm ) stellt fest, dass im Jahr 2022 mehr als die Hälfte der bei digitalen Plattformen Beschäftigten sieben Tage die Woche arbeiteten und trotzdem nicht einmal den Betrag eines Mindestlohnes von 425 US-Dollar verdient haben. Das sind auch unsere Erfahrungen. Die meisten arbeiten zwischen acht und 14 Stunden am Tag, es gibt ein hohes Maß der Selbstausbeutung. Das ist sehr schlecht für die Gesundheit. Zudem arbeiten die meisten sieben Tage die Woche, denn wenn du einen Tag nicht arbeitest, sanktioniert dich das Programm.
Die Unternehmen verlangen also, dass ihr jeden Tag arbeitet?
Nein, das funktioniert anders. Wenn du einen Tag nicht arbeitest, verlierst du deinen Rang in der App, zumindest bei Rappi ist das so. Es ist aber wichtig, oben eingestuft zu werden, in der Kategorie Diamant, um die besten Aufträge zu erhalten. Bist du einen Tag nicht da, weil du krank bist oder familiäre Angelegenheiten erledigen musstest, wirst du automatisch eine Kategorie niedriger eingestuft. Bei deinem nächsten Arbeitstag wirst du also weniger Aufträge haben.
In Ecuador gilt ja normalerweise die 40-Stunden-Woche mit Arbeit an fünf Tagen. Die digitalen Plattformen erwarten, dass du mehr arbeitest?
Nein, nicht direkt, sie geben dir keine Arbeitszeit vor. Aber wenn du nicht in der oberen Kategorie bist, ist es schwieriger, die besten Zeiten und Zonen in der Stadt zu bekommen, um genug Geld zu verdienen. Doch selbst wenn du in einer bestimmten Zone, sagen wir im Süden der Stadt, anfängst, kann es sein, dass der Algorithmus dich bei der nächsten Bestellung in den Norden schickt. Das ist sehr willkürlich und schlecht für die Beschäftigten.
FrenApp organisiert nur die Essenslieferantinnen und -lieferanten oder auch andere digitale Sektoren?
Bei uns sind alle Menschen, die über digitale Plattformen arbeiten, also im Lieferdienst wie Rappi oder Deliveroo oder im Fahrdienst wie Uber. Für dieses Jahr planen wir ein Bildungsprogramm, um neuen Leuten zu erläutern, warum es sich lohnt, bei der Gewerkschaft mitzumachen, als auch um zu befähigen, andere Leute anzuleiten und zu motivieren.
Der Sektor ist weltweit ein klassisches Beispiel für migrantische Arbeit. Ist das auch in Ecuador so?
Ja, doch die Zahlen sind nicht so sicher. In der Studie der ILO aus dem vergangenen Jahr ist von 34 Prozent migrantischer Beschäftigung die Rede, eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem gleichen Jahr beziffert sie auf 66 Prozent. Es könnte sogar sein, dass es noch mehr sind. Einige Plätze werden inoffiziell weitervergeben, zum Beispiel an Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus. Wir planen mit einem Institut der Zentraluniversität in Quito eine Umfrage, wie das Universum der Beschäftigten im digitalen Sektor in diesem Jahr, also 2023, genau zusammengesetzt ist.
In jedem Fall ist es aber ein sehr männlicher Sektor?
Ja, mehr als 90 Prozent der Beschäftigten sind Männer.
Und wie wirst du als Frau und Gewerkschafterin akzeptiert?
Ich werde akzeptiert, doch man muss sich wehren gegen den starken Machismo. Es ist durchaus üblich, dass die Lieferanten unterwegs, wenn sie eine Frau mit großen Brüsten oder einem prallen Po sehen, von ihr Fotos machen und diese mit sexuellen Sprüchen über unsere WhatsApp-Gruppe schicken. So was passiert nicht nur Frauen auf der Straße, sondern auch uns Kolleginnen. Sie belegen uns mit hässlichen Namen.
Wie gehen die Frauen von FrenApp damit um?
Wir konfrontieren die Kollegen mit ihrem Machismo, machen ihnen klar, dass sie uns respektieren müssen. Wir haben das Recht auf unsere eigenen Ideen, und wir können ebenso gut arbeiten wie die Männer.
Was sind die größten Herausforderungen, mit denen ihr in der Gewerkschaftsarbeit konfrontiert seid?
Wenn wir mit den Kollegen und Kolleginnen vor Ort sprechen, ist es nicht immer einfach, sie von der Sinnhaftigkeit einer Mitgliedschaft zu überzeugen, weil einige diesem Mythos von dem unabhängigen Mitarbeiter anhängen, der arbeiten kann, wann und wie er will. Das ist in etwa die Position der Regierung, die deshalb die Arbeitsverhältnisse in unserem Sektor nicht regeln will. Den Unternehmen ist das natürlich recht. Wenn wir aber mit etwas Zeit sprechen, verstehen viele, dass sie unter sehr prekären Bedingungen arbeiten. Wir haben keinen Vertrag, keine Kranken- und Sozialversicherung, keine Sicherheit. Die Regierung und die Unternehmen wollen nicht, dass wir einen direkten Vertrag mit der Firma als Arbeiter*innen erhalten. Sie stellen uns nicht einmal das Rad oder Motorrad zur Verfügung.
In einigen Inspektionen durch die öffentliche Defensoría del Pueblo (ähnlich dem Institut für Menschenrechte in Deutschland, die Red.) ist klar geworden, dass von den mehr als 35000 Beschäftigten in vielen Fällen keine Gehaltsabrechnungen existieren, keine Klarheit über Steuern und Sozialabgaben für die sogenannten unabhängigen Mitarbeiter*innen. Es gab erste Strafen gegen digitale Plattformen, und das Arbeitsministerium musste feststellen, dass diese vielfach nur Briefkastenfirmen sind, dass die physischen Adressen, die sie nutzen, gar nicht als Büros existieren. Diese Firmen haben als direkt Beschäftigte nur 1141 Personen angestellt. Die anderen 34000 Menschen befinden sich in absolut prekären Bedingungen.
Die zentrale Forderung von FrenApp ist also die direkte Anstellung?
Ja natürlich, ohne diese ist die Verteidigung unserer Rechte nur sehr schwer möglich. Doch die Regierung setzt sich dafür nicht ein. Und die Unternehmen fördern einzelne Kollegen, damit sie gegen die Idee einer direkten Anstellung und einer Gewerkschaft sprechen. Uber war sehr aggressiv in letzter Zeit. Wir haben sogar Morddrohungen über WhatsApp erhalten. Die Regierung hat unseren Antrag auf Anerkennung als Branchengewerkschaft abgelehnt, weil wir keine Arbeitgeber hätten. In Ecuador gibt es eine strikt ablehnende Haltung der Regierung zu Branchengewerkschaften (die meisten Gewerkschaften in Ecuador und mehreren anderen lateinamerikanischen Ländern sind Betriebsgewerkschaften, in denen nur die Kolleg*innen des betreffenden Betriebs organisiert sind – die Red.), was zentrale Konventionen der ILO verletzt, was diese auch bereits mehrfach kritisiert hat. In Kolumbien wurde mit UNIDAPP eine Branchengewerkschaft für den digitalen Sektor im Oktober 2020 legal registriert, also lange vor Amtsantritt der aktuellen linken Regierung.
Interview von Frank Braßel aus der ila 465 – wir danken!
- In den kommenden Wochen erscheint eine digitale Publikation „Mientras más tecnología menos humanidad. Una lucha por el reconocimiento laboral“ über die Kämpfe von Arbeiter*innen bei digitalen Plattformen in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Siehe Infos im span. Thread von FrenApp vom 13. Apr. 2023
- Der Schwerpunkt der ila 465 hat einen Umfang von 28 Seiten (das gesamte Heft 56 Seiten) und kann zum Preis von 6,00 Euro bei der ila (Heerstraße 205, 53111 Bonn, 0228-658613, ila-bonn@t-online.de, www.ila-web.de ) bestellt werden. Siehe das Editorial zur ila 465 (samt Inhaltsverzeichnis)
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