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[19./20. Mai 2017] Bericht vom Berliner Seminar des Forum Arbeitswelten über Nationalismus in China
„Im Rahmen seines Austauschprogramms zwischen gewerkschaftlichen BasisaktivistInnen aus China und Deutschland wurde das „Forum Arbeitswelten“ (FAW) in den vergangenen Jahren mit einer zunehmend nationalistischen Politik Chinas konfrontiert. Mit deren Auswirkungen auf die chinesischen Lohnabhängigen hat sich ein Workshop des FAW am 19.-20. Mai 2017 im IG-Metall-Haus in Berlin beschäftigt, an dem 30 Mitglieder aus deutschen und internationalen Gewerkschaften (so die Internationale Föderation der Hausangestellten), Betriebsräten, entwicklungspolitischen Organisationen und der Wissenschaft teilnahmen und der von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt unterstützt wurde. Die Vorträge und Diskussionen des Workshops drehten sich um Fragen nach möglichen Auswirkungen des Nationalismus auf die industriellen Beziehungen und den Arbeitsalltag der Lohnabhängigen sowie auf die Arbeits- und Sozialpolitik. Des weiteren wurde danach gefragt, ob und wie die Arbeiterklasse auf den wachsenden Nationalismus der letzten Jahrzehnte reagiert hat. In die Diskussionen flossen Beobachtungen ein, die die TeilnehmerInnen einer Betriebsräte-Reise des FAW nach China im März-April 2017 in Gesprächen mit ArbeitsaktivistInnen in Guangzhou, Suzhou und Hongkong gemacht haben“ – so die Einleitung zu „Wachsender Nationalismus in China – Ein Workshop des ‚Forum Arbeitswelten‘ diskutiert die Folgen für die Arbeiterklasse“ von Ingeborg Wick vom 01. Juni 2017 über den Berliner Workshop am vorletzten Mai-Wochenende. Siehe den ganzen Bericht:
Wachsender Nationalismus in China –
Ein Workshop des ‚Forum Arbeitswelten‘ diskutiert die Folgen für die Arbeiterklasse
Von Ingeborg Wick
1. Juni 2017
Im Rahmen seines Austauschprogramms zwischen gewerkschaftlichen BasisaktivistInnen aus China und Deutschland wurde das „Forum Arbeitswelten“ (FAW) in den vergangenen Jahren mit einer zunehmend nationalistischen Politik Chinas konfrontiert. Mit deren Auswirkungen auf die chinesischen Lohnabhängigen hat sich ein Workshop des FAW am 19.-20. Mai 2017 im IG-Metall-Haus in Berlin beschäftigt, an dem 30 Mitglieder aus deutschen und internationalen Gewerkschaften (so die Internationale Föderation der Hausangestellten), Betriebsräten, entwicklungspolitischen Organisationen und der Wissenschaft teilnahmen und der von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt unterstützt wurde.
Die Vorträge und Diskussionen des Workshops drehten sich um Fragen nach möglichen Auswirkungen des Nationalismus auf die industriellen Beziehungen und den Arbeitsalltag der Lohnabhängigen sowie auf die Arbeits- und Sozialpolitik. Des weiteren wurde danach gefragt, ob und wie die Arbeiterklasse auf den wachsenden Nationalismus der letzten Jahrzehnte reagiert hat.
In die Diskussionen flossen Beobachtungen ein, die die TeilnehmerInnen einer Betriebsräte-Reise des FAW nach China im März-April 2017 in Gesprächen mit ArbeitsaktivistInnen in Guangzhou, Suzhou und Hongkong gemacht haben.
Jüngster Höhepunkt der neuen nationalistischen Politik Chinas ist das Programm des seit 2013 amtierenden Staatspräsidenten Xi Jinping, mit dem eine „Renaissance der großen chinesischen Nation“ als „größter Traum der chinesischen Nation seit der Neuzeit“ angestrebt wird. Diese Großmacht soll unter strikter Kontrolle der Kommunistischen Partei (KP) nicht nur wirtschaftliche, sondern auch militärische Stärke und Macht nach innen und außen demonstrieren.
Die nationalistische Politik, die vor vier Jahrzehnten mit der Öffnung zum Weltmarkt und der kapitalistischen Umstrukturierung begann, setzte sich vom Nationalismus ab, der den Kampf gegen ausländische Aggression in den Jahren 1840-1949 geprägt hatte und der in der Bevölkerung als heroischer Befreiungskampf bis heute fortlebt.
In der Ära Maos verurteilte die KP den Nationalismus als eine bürgerliche Ideologie, die gegen Klassenkampf und Sozialismus gerichtet war. Im neuen gesellschaftlichen Kontext tauchte der Nationalismus vor der Jahrtausendwende mit einer anderen inhaltlichen Füllung auf. Dies geschah vor dem Hintergrund eines rasanten Wirtschaftswachstums, das von Privatisierungen und Massenentlassungen im Vorfeld der Aufnahme Chinas in die WTO sowie steigenden Waren- und Kapital-Exporten geprägt war. Mit der Entwicklung Chinas zur wirtschaftlichen Großmacht und zum Konkurrenten der USA wurden die nationalistischen Töne immer lauter.
Der seit über 30 Jahren in Deutschland lebende chinesische Publizist und freie Journalist Shi Ming geht in seinem Eröffnungsvortrag auf die Ursachen, Kennzeichen und Funktionen des Nationalismus in China ein und steckt somit den Rahmen für die weitergehenden Fragestellungen ab. Anders als in der Zeit des Maoismus, so seine Kernthese, basiere der heutige Nationalismus nicht mehr auf der Anerkennung von Arbeit als Quelle des gesellschaftlichen Reichtums, sondern werde auf Konsum und damit auf die Interessen der Mittelschicht bezogen, die mittlerweile ca. 20% der chinesischen Bevölkerung umfasst.
Als Beispiele nennt Shi Ming von der Regierung gesteuerte nationalistische Boykott-Kampagnen, die in den vergangenen Jahren große Massen der chinesischen Mittelschicht mobilisiert haben: So 2012 den Boykott bzw. die Zerstörung japanischer Waren, vor allem Autos, als Reaktion auf den Streit Chinas mit Japan um die Inseln Diaoyudao; oder den Boykott des chinesischen Tourismus nach Taiwan, nachdem die aus den Wahlen 2016 siegreich hervorgegangene Partei ihr Streben nach Unabhängigkeit erklärt hat; schließlich den Boykottaufruf gegen die Waren der südkoreanischen Einzelhandelskette „Lotte“ im Jahr 2017, nachdem ein Streit mit Südkorea um die Stationierung des US-Raketensystems THAAD ausgebrochen war. Gemeinsam sei diesen Boykottaktionen, dass sie sich gegen ausländische Unternehmen bzw. Branchen richteten, damit diese Druck auf die jeweiligen Regierungen ausübten. So werde der konsumkräftigen Mittelschicht nationaler Stolz auf ihren gesellschaftlichen Einfluss vermittelt.
Keine Boykottaktionen, so Shi Ming, würden jedoch gegen Unternehmen ausgerufen, die in China massenweise Arbeitsplätze abbauen oder die Beschäftigten schlecht behandeln. Während in China allein in den letzten Jahren 20 Mio. Jobs verloren gingen, unternähme die Regierung z.B. nichts gegen den chinesischen Konzern Alibaba, der der Trump-Regierung die Schaffung neuer Arbeitsplätze in den USA angeboten habe. Dennoch gebe es auch vereinzelte Versuche der Regierung, den sozialen Unmut unter den Lohnabhängigen – schließlich wachse die Zahl von jährlich Zehntausenden Streikender immer weiter an – in eine nationalistische Bahn zu lenken bzw. durch nationalistische Propaganda zu übertünchen. So hätten jüngst WanderarbeiterInnen auf Transparenten ihre Bereitschaft bekundet, auf Renten oder gesunde Ernährung zu verzichten, wenn sie dadurch Japan treffen könnten.
Der aufgezeigte Boykott-Nationalismus greife allerdings nur, solange es der Mittelschicht gut ginge und für sie kein ökonomischer Schaden entstünde, so Shi Ming. Als Leitbild gelte dieser Schicht der „American way of life“, und nicht der Stolz auf die Jahrtausende-alten kulturellen Errungenschaften Chinas.
Eine weitere Funktion des heutigen chinesischen Nationalismus zielt auf die Legitimierung der Machtbasis von Partei und Regierung bei drohenden Wirtschaftskrisen im Innern sowie bei der Absicherung der wirtschaftlichen Expansion im Ausland ab. Shi Ming berichtet von Forderungen nach militärischem Schutz für chinesische Bauprojekte und Beschäftigte in afrikanischen Ländern und entsprechenden Debatten in China. Bei einer Fernsehbefragung hätten sich 83% der ZuschauerInnen für die Einrichtung von Militärbasen ausgesprochen, um diesen Schutz zu gewährleisten. In den vergangenen Jahren sei es in Libyen, Sambia und im Irak zu tödlichen Angriffen auf chinesische Arbeiter gekommen, wodurch der Forderung nach Militärbasen großer Nachdruck verliehen werde.
Als Fazit hält Shi Ming fest, dass die Arbeiterschaft heute generell keine Trägerin des chinesischen Nationalismus ist. Allerdings wehre sich die „vergessene“ Unterschicht immer mehr und äußere ihre Wut gegen Mächtige und Reiche gelegentlich auch in der Form, dass sie Nationalismus als Ventil nutze.
In der Diskussion geht es zunächst um die Frage, ob der Nationalismus Xi Jinpings etwas prinzipiell Neues im Verhältnis zu früheren Phasen sei. Auf die Anfänge der Öffnungspolitik bezogen meint der Referent, dass der damals eher versteckte Nationalismus mittlerweile durch eine offensive Nationalismuspolitik ersetzt worden sei.
Mit Blick auf die Nationalismus-Phasen in der Zeit ausländischer Aggression und Besatzung sowie die Mao-Ära stellen einige Teilnehmende den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Nationalismus heraus: Während der Epoche einer Verteidigung der nationalen Integrität und des Befreiungskampfes sei der Nationalismus positiv zu bewerten, während dies für die Phase der kapitalistischen Transformation nicht gelte. Shi Ming bestreitet einen solchen Wesensunterschied je nach historischer Etappe. Nationalismus trage im Kern zwangsläufig Ausschluss, Dominanz und Aggression in sich. Der heutige Nationalismus Chinas unterscheide sich nicht wesentlich von dem in den USA. Unterschiede bestünden lediglich im Grad der kapitalistischen Entwicklung.
Eine weitere zentrale Frage der Debatte ist, ob es sich bei der aktuellen chinesischen Geopolitik um Imperialismus handelt. Hier sind sich Referent undTeilnehmende einig darin, dass es in China heute zwar imperiales Denken und Handeln, aber keine ausformulierte imperialistische Politik und Strategie gebe. Im Unterschied zur Ära von Deng Xiaoping, in der es eine soziale Komponente des Nationalismus noch gegeben habe, sei diese heute nicht mehr erkennbar. Es handele sich – wie in den USA unter Trump – um einen Mittelschichtsnationalismus. Allerding, so Shi Ming, wolle er hier einen zukünftigen Wandel durch soziale Zuspitzungen und Umbrüche auch nicht ausschließen.
Im Skype-Gespräch mit dem zweiten Workshop-Referenten Fred Engst, Universitätsdozent und Mitglied im „Chinesischen Arbeiter-Netzwerk“ in Beijing, steht die Frage nach den konkreten Auswirkungen des chinesischen Nationalismus auf die Arbeiterklasse im Vordergrund.
Zum Einstieg analysiert Fred Engst zunächst den Stand des chinesischen Kapitalismus in der Welt im Rahmen des von den USA angeführten globalen Imperialismus. Das Konglomerat aus chinesischen Staatsbetrieben stelle die weltweit mächtigste Einzelmonopol-Gruppe im Weltkapitalismus dar, so Fred Engst. Von Staatsbetrieben in der westlichen Kapitalwelt unterscheide sich das chinesische Konglomerat dadurch, dass es sich in direktem Eigentum der Staatsbürokratie befinde und nicht durch Wahlen oder sonstige gesellschaftliche Einflüsse kontrolliert werde. Durch die seit einigen Jahren wachsende Überproduktion (vor allem bei Stahl) würden der internationale Expansiondruck und die Konkurrenz zu den USA in Zukunft weiter ansteigen. Der Nationalismus Xi Jinpings stehe im Dienst des chinesischen Kapitals und ziele auf eine Förderung von Auslandsinvestitionen und der Einheit im Innern ab. Gegenüber der chinesischen Arbeiterklasse setze die Regierung auf die Nationalismus-Karte zur Verschleierung der Klassengegensätze zwischen Arbeit und Kapital sowie zur Rechtfertigung der Repression gegen Arbeiterproteste als von fremden Mächten gesteuerte Aktionen. Fred Engst weist in diesem Kontext darauf hin, dass die ohnehin seit Jahren schon prekäre Situation von Arbeitswelt-AktivistInnen unter Xi Jinping noch einmal drastisch verschärft worden ist. Hunderte AktivistInnen und Rechtsanwälte sind seit 2015 verhaftet, gefoltert und deren Familien drangsaliert worden. Durch ein Anfang 2017 in Kraft getretenes Gesetz werden Auslandsgelder für die in diesem Bereich arbeitenden Nichtregierungsorganisationen in Zukunft noch strenger kontrolliert bzw. gestoppt.
Bei der Frage nach der Haltung der Gewerkschaften zu den durch Überproduktion und Automatisierung verursachten Arbeitsplatzvernichtungen führt Fred Engst aus, dass chinesische ArbeiterInnen beispielsweise Dumpingpreise auf dem Weltmarkt zur Rettung der eigenen Jobs befürworteten. Im allgemeinen seien Lohnabhängige jedoch weniger chauvinistisch als die Mittelklasse in China. Da es keine Arbeitsplatzsicherheit in China gebe, existiere auch keine Abstiegsfurcht als Motiv für Chauvinismus der Lohnabhängigen. Generell sei ihr Klassenbewusstsein durch die scharfe Repression der letzten Jahrzehnte stark geschwächt. Hinzu komme das Problem ihrer Spaltung zwischen den traditionellen ArbeiterInnen der Staatsbetriebe und den ca. 280 Mio. WanderarbeiterInnen überwiegend in den privaten Unternehmen. Die offizielle Rede vom „chinesischen Traum“ und der „Wiederherstellung des traditionellen Ruhms Chinas“ treffe eher bei Intellektuellen und Besserverdienenden als bei einfachen ProduktionsarbeiterInnen auf Zustimmung.
Nach seiner Meinung gefragt zu den bisher für Entwicklungsländer relativ günstigen Investitionsbedingungen, die China diesen gewährt und womit sich China von der Praxis westlicher Industrieländer abhebt, stimmt Fred Engst zu, dass sie zur Zeit tatsächlich oft größere Spielräume für die lokalen Akteure eröffneten. Dennoch sei klar, dass diese nur gewährt würden, um Wettbewerbsvorteile zu erringen und dass sie im Zuge der weiteren Expansion Chinas zurückgefahren würden. Ähnlich wie Shi Ming urteilt Fred Engst, Chinas kapitalistische Wirtschaftspolitik führe zwangsläufig zu immer mehr Expansion und entwickele sich zu einer imperialistischen Macht. Hierin sehe er keinen Unterschied zu den USA.
In seinem Film über nationalistische Einstellungen von chinesischen Lohnabhängigen, den Karsten Weber während einer Begegnungsreise des Forum Arbeitswelten mit Betriebsräten in China im März/April 2017 aus Interviews mit ArbeitsaktivistInnen zusammengestellt hat, werden die Analysen und Einschätzungen der beiden Workshop-Referenten in weiten Teilen bestätigt sowie eine große Ernüchterung über die sich ständig weiter verschärfende Repression in China vermittelt.
Als Fazit der Workshop-Diskussionen kann festgehalten werden, dass der wachsende chinesische Nationalismus für die Arbeiterklasse zur Zeit zwar noch keine bedeutende Rolle spielt. Leider liegen hierzu keine umfassenderen Untersuchungen vor, die weitergehende Aussagen ermöglichen. Zeichen sind jedoch bereits erkennbar und dürften sich im Zuge der weiteren wirtschaftlichen Umstrukturierung und Expansion Chinas spürbar entfalten. Schon heute wird hier und dort auf die nationalistische Karte gesetzt, um vom Klassengegensatz zwischen Arbeit und Kapital abzulenken, die Repression gegen Lohnabhängige und Arbeitswelt-NROs zu rechtfertigen und Spaltungen unter den Beschäftigten zu vertiefen.
Ein – wenn auch schwieriger gewordener – Prozess des Austauschs zwischen deutschen und chinesischen Arbeitswelt-BasisaktivistInnen über Erfahrungen und Strategien im Umgang mit dem nicht nur in China, sondern auch in Europa und weltweit wachsenden Nationalismus ist deshalb sinnvoll. Auch auf seinen anderen Arbeitsfeldern will das Forum Arbeitswelten trotz erschwerter Bedingungen in China die seit 2005 aufgebauten Kontakte nach Möglichkeit weiter mit Leben füllen.
- Siehe zum Hintergrund die Einladung: [19./20. Mai 2017] Seminar des Forum Arbeitswelten China – Deutschland in Berlin: „Nationalismus und die chinesische Arbeiterklasse“