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Seit einem Jahr tobt der Kampf um Menschenwürde in Chile – das ist (auch hier) ein Kampf gegen den Kapitalismus. Und reicht viel weiter als eine neue Verfassung

Protest gegen Polizeigewalt in Chile im Oktober 2020„… Laut der Umfrage Pulso Ciudadano beabsichtigen 83 Prozent der Chilen*innen, dafür zu stimmen und 67 Prozent sind dafür, die Verfassungsversammlung gänzlich neu zu wählen. Einige wechseln daher die Seiten (…) Doch auch die indigenen Mapuche sind sich uneins. Sie stellen zehn Prozent der chilenischen Bevölkerung, genießen jedoch wie alle indigenen Gruppen in der geltenden Verfassung keine offizielle Anerkennung. Laut einer Umfrage des Cadem-Instituts sind 93 Prozent der Chilen*innen der Ansicht, dass sich das ändern sollte. Viele Mapuche verbinden den Verfassungsprozess daher mit der Hoffnung auf ein Ende ihrer Ausgrenzung, beispielsweise durch die Gründung eines plurinationalen Staates oder durch eine Quotenregelung im Parlament. Die feministische Mapucheaktivistin Ninoska Pailaküra erklärte gegenüber LN: „Ich stimme für ‘Ja’ und für eine gewählte Verfassungsversammlung, in der die Belange der indigenen Bevölkerung berücksichtigt werden.“ Salvador Millaleo, Mapuche, Anwalt und Soziologe aus Santiago, ist sicher, dass die meisten so denken (…)Es wird deutlich, dass sich sowohl Zivilgesellschaft als auch Parlament inzwischen auf die offenen Punkte der künftigen Verfassungsversammlung konzentrieren. Ursprünglich waren Forderungen laut geworden, die angemessene Beteiligung von Frauen, unabhängigen Kandidat*innen und Indigenen sicherzustellen. Während die Geschlechterparität im März gesetzlich abgesichert wurde, stehen Regelungen zu den anderen beiden Gruppen noch aus. (…) Eine Skepsis gegenüber Veränderungsmöglichkeiten durch eine neue Verfassung spiegelt sich auch in einer nicht repräsentativen Onlineumfrage wieder, zu der Berufsverbände und linke Bürgermeister*innen wie Jorge Sharp aufgerufen hatten. Die überwältigende Mehrheit der etwa 7.000 teilnehmenden Bürger*innen war der Ansicht, dass die Verfassungsversammlung mit einfacher statt mit Zweidrittelmehrheit Beschlüsse fällen und auch Entscheidungen zu internationalen Verträgen treffen können sollte – was ihr verboten sein wird. Ebenso sprachen sie sich klar dafür aus, dass das Mandat der Delegierten nicht frei, sondern an das Votum von Bürger*innenversammlungen gebunden sein sollte. Mario Aguilar, der Präsident des Lehrerverbandes, kommentierte auf einer Onlineveranstaltung des Verbandes: „Die Ergebnisse zeigen, dass der Prozess ein Demokratiedefizit hat, das gelöst werden sollte.“...“ – aus dem Beitrag „APRUEBO – UND DANN?“ von Martin Schäfer und Susanne Brust in der Ausgabe vom November 2020 der Lateinamerika Nachrichten externer Link (Nummer 557) zur Situation kurz vor dem Referendum am 25. Oktober 2020 und seiner unterschiedlich bewerteten Bedeutung. Zur Debatte um Bedeutung und Auswirkungen des Referendums – unter Staatsaufsicht – einige weitere aktuelle Berichte (inklusive Videoberichten) und kritische Bewertungen sowie der Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zur Entwicklung in Chile:

„Anniversaire du soulèvement: affrontements à Santiago, pillages et églises incendiées“ am 18. Oktober 2020 bei Anthropologie du Présent externer Link ist eine sehr ausführliche Materialsammlung mit – unter anderem – einer ganzen Reihe von Videoberichten über die Proteste am vergangenen Wochenende zum Jahrestag des Beginns der Revolte in Chile. Auch das extrem massive Aufgebot der militarisierten Polizei das landesweit von der Regierung organisiert worden war – mit einem absoluten Schwerpunkt in Santiago – konnte nicht verhindern, dass – nach verschiedenen Schätzungen – rund eine Million Menschen sich an den Aktionen beteiligten. Hinzuzufügen wäre noch, dass die in den Berichten erwähnte brennende Kirche die Sonderkirche der Polizei ist – war.

Huge crowd, amazing atmosphere and so many creative manifestationsam 18. Oktober 2020 im Twitter-Kanal von Boris van der Spek externer Link ist ein Videobericht von der Großdemonstration in Santiago, die trotz Polizeidrohungen nicht nur riesig war – wie leicht zu sehen ist – sondern, kombiniert mit der Kampfbereitschaft auch: Ein Fest. Wie ebenfalls leicht zu sehen ist – und wofür es auch guten Grund gab: Dass sie so riesig stattfand, war Beweis dafür, dass trotz Epidemie und Repression die Bewegung lebt…

Como Apoderadas Organizadas nos sumamos a la convocatoria de los estudiantes secundarios de la zona norte del CERam 17. Oktober 2020 im Twitter-Kanal von Apoderadas Organizadas externer Link steht hier als Beispiel für zahllose Tweets auf diversen Kanälen mit Aufrufen zu Aktionen in verschiedenen Stadtteilen Santiagos in Vorbereitung und zur Mobilisierung der Jahrestagsdemonstration.

„Aufstand als Lebensform“ von Katja Maurer am 16. Oktober 2020 bei medico international externer Link zu Erfahrungen und Prägungen eines Aufstandjahres und Corona unter anderem: „… Die Pandemie, die nun mit dem beginnenden langen chilenischen Sommer abklingen wird, hat auf dramatische Weise die Gründe für den „estallido social“, den Protest des letzten Herbstes, der am 18. Oktober begann, offen gelegt. Die Reichen schleppen eine Krankheit ein und die Armen sterben daran – die chilenische Klassengesellschaft in ihrer unverbesserlichen Form. Dabei hatten linke Gesundheitsminister im Laufe der Jahre nach dem gewonnenen Plebiszit immer wieder versucht das System zu verbessern, ohne jedoch die Zweiklassenmedizin abzuschaffen. Öffentliche Gesundheitsstationen, die Polikliniken heißen, wurden besser finanziert und ausgebaut. Sie haben sich in der Krise wenigstens zu Beginn als hilfreich erwiesen, weil über sie die Nachverfolgung der Ansteckungskette möglich war, bis die Fallzahlen zu hoch wurden. Auch der Gedanke einer Politik der Gesundheitsförderung und Prävention statt der Konzentration auf High-Tech-Medizin und luxuriöse Krankenhäuser ist unter chilenischen Gesundheitsfachleuten nach wie vor verbreitet. Ideen, die bis auf den gestürzten Präsidenten Allende zurückgehen. Aber in der auf Konsum und Aufstieg orientierten Post-Diktatur-Gesellschaft haben diese Gedanken an Strahlkraft verloren. Jetzt bräuchte man sie. Denn Pandemie-Bekämpfung gelingt nun mal am besten präventiv. Noch dazu bräuchte es eine Regierung, der die Menschen vertrauen. Das ist in Chile bekanntermaßen nicht der Fall. Am schlechtesten angesehen ist neben Präsident Pinera, der Gesundheitsminister Jaime Mañalich, der sich mit einer Erklärung a la Trump hervortat und behauptet, Chile habe eines „der besten Gesundheitssysteme des Planeten“, während er gleichzeitig die Todeszahlen bewusst herunter spielte. Im Juli dieses Jahres musste er deshalb zurücktreten. Die Covid-Armut, der Pablo Lopez in seinem öffentlichen Krankenhaus begegnete, entspricht den Annahmen des Internationalen Weltwährungsfonds, der von der größten Wirtschaftskrise seit der großen Depression 1929, dieses Mal ausgelöst durch Pandemie, ausgeht. Es könnte gerade Länder wie Chile besonders treffen, weil der Kapitalabzug schon jetzt ungeheure Dimension angenommen hat. Alles flüchtet in die stabilen Währungen wie Euro oder Dollar. Fast 100 Milliarden Dollar wurden aus den armen und Schwellenländern seit Beginn der Pandemie abgezogen, meldet der IWF. Die ökonomischen Spielräume, die Krise abzufedern, sind in Chile ungleich schlechter als im EU-Europa. Die ökonomische Krise werde dieses Mal im Süden beginnen, prognostiziert der Fonds. Deshalb wird Pablo Lopez eines seiner anderen Leben in Kürze wieder aufnehmen. Denn angesichts dieser Aussichten geht er fest davon aus, dass es in Chile wie im Jahr zuvor wieder zu großen Protestwellen kommen werde. Seit Januar 2020 ist er Teil der Medizinbrigade, die die Verletzten des chilenischen Aufstands in einem Theater unweit der „Plaza de la Dignidad“ versorgte. Hier, an dem Platz der Würde, wie der Plaza Italia von den Demonstrant*innen umbenannt wurde, erlebte er ähnliche dramatische Szene wie während der Hochphase der Pandemie. Er habe einen der ersten Demonstranten versorgt, den die Polizisten am Auge verletzten. Mittlerweile gibt es 200 Personen, die ihr Augenlicht auf diese Weise verloren haben. Er erinnert sich noch immer voller Entsetzen an die Szene. Dem jungen Mann hatten Carabineros eine Tränengasgranate ins Gesicht geschossen. Er war blutüberströmt und das Auge aufgequollen. Selbst für Lopez, der seit fast 30 Jahren im Krankenhaus arbeitet, ein schwer zu ertragender Anblick. Er trug ihn zur Polizei und verlangte Durchlass, um schnell in ein Krankenhaus zu gelangen. Normalerweise reicht sein Ausweis als Leiter der Intensivmedizin, um sich durchsetzen. Aber hier richteten die Pacos – wie man die Polizisten in Chile nennt – nur das Gewehr auf ihn und  verweigerten ihm trotz des Schwerverletzten die Passage. Daran, dass die Drohung ernst gemeint war, hatte Lopez keinen Zweifel. Er ist überzeugt davon, dass die Polizisten gezielt unter Drogen gesetzt würden, um noch menschenverachtender agieren zu können. Manche Demonstrant*innen hielten Schilder hoch, auf denen stehe: „Schniefender Bulle, wenn du das lesen kannst, sag mir, wo man das Zeug kaufen kann.“...“

„Schmerz und Hoffnung: Ein Jahr Aufstand in Chile“ von Regina Antiyuta am 18. Oktober 2020 im Lower Class Magazine externer Link zu den politischen Ergebnissen dieses Jahres – was distanzierte Einstellungen zum Referendum betrifft: „… Es war ein schwieriges Jahr. Die Pandemie war ein Verbündeter des Staates, der die Situation ausgenutzt hat und seit März eine Ausgangssperre verhängt und Militär in die Straßen gebracht hat. Die Maßnahmen, die gegen die Verbreitung der Pandemie getroffen wurden, haben nur der Wirtschaft, den Unternehmen genutzt, was die Gültigkeit der Forderungen des Volkes nur bekräftigt hat. Und während die Gesundheitssituation es geschafft hat, die Proteste seit März einzudämmen, sind die Menschen seit September, mit der Aufhebung der Quarantäne, wieder auf die Straße zurückgekehrt. Die Monate der Pandemie, in denen die Leute eingesperrt waren und die Arbeiterklasse völlig im Stich gelassen wurde, waren Monate, in denen die Wut nur weiter kochten. Obwohl die Quarantäne die Bewegung auf der Straße, die Massendemonstrationen zum Erliegen brachte, hatte sie nicht den gleichen Effekt in Bezug auf Organisation und Solidarität. Die noch größere Prekarität, die durch den Covid erzeugt wurde, erforderte, dass diese andere Formen annehmen mussten, vor allem durch kollektive Organisierung von Dingen, die sonst ein Sozialstaat übernehmen würde. Überall im Land haben sich Nachbarschaften organisiert, wurden Suppenküchen aufgemacht, die denjenigen, die wegen der Ausgangssperre nicht einmal mehr arbeiten gehen durften, nicht verhungern zu lassen. Denn der Staat lies die Leute im Stich. Und während für die Gesundheit und das Überleben der Arbeiterklasse kein Geld zur Verfügung stand, investierte die Regierung eifrig in Repressionsmittel. (…) In einer Woche, am 25. Oktober, findet schließlich das erwartete Plebiszit statt, das ursprünglich im April stattfinden sollte, aber wegen der Corona-Pandemie um sechs Monate verschoben wurde. Dieser Prozess wurde von der Rechten bereits völlig behindert und gefesselt, als im November 2019 im Kongress das so genannte “Abkommen für den Frieden” unterzeichnet wurde. Dieses Abkommen, das zwischen der Regierung und einer parlamentarischen Opposition geschlossen wurde, die nicht in der Lage war, die Millionen von Menschen auf der Straßeauch nur ansatzweise zu vertreten, eröffnete die Möglichkeit, eine Volksabstimmung durchzuführen, um zu entscheiden, ob eine neue Verfassung gewünscht wurde oder nicht, schloss aber die Möglichkeit aus, diesen Prozess über eine verfassungsgebende Versammlung abzuwickeln. Für den Entwurfsmechanismus stehen zwei Optionen zur Verfügung: Die erste ist ein Verfassungskonvent, dessen Mitglieder zwar zu 100 Prozent vom Volk gewählt werden. Doch das geltende Wahlgesetz erschwert unabhängige Kandidaturen und gibt Mitgliedern politischer Parteien den Vorzug. Der zweite ist ein gemischter Konvent, der sich zu 50 Prozent aus Parlamentariern (von ihnen selbst gewählt) und zu 50 Prozent aus Volksabstimmungen zusammensetzt. Und während diese Abstimmung, ein hart erkämpftes Minimalzugeständnis nach eine Jahr Protest, tausenden Gefangenen und Verletzten, dutzenden von Agenten des Staates ermordeten, jetzt ansteht, haben sich die Herrschenden noch ein Hintertürchen offen gehalten: Wenn es aus Sicht von Regierung oder Kongress „pandemiebedingt“ notwendig sein sollte, können sie das Referendum bis einen Tag vor der Durchführung absetzen. Es schmerzt, dass die Hoffnungen auf eine ander Gesellchaft, die mit so viel Blut auf den Straßen erkämpft wurden, nun in den Händen eines Verfassungskonvents liegen. Die größte Forderung des Volkes war von Anfang an klar, eine verfassungsgebende Versammlung, um die Möglichkeit zu haben, Geschichte aus der Realität des Volkes heraus zu schreiben. Das Misstrauen gegenüber dem Prozess ist offensichtlich und gerechtfertigt…“

„Chile: Ein Rückblick auf ein Jahr Revolte“ von Mark Turm am 19. Oktober 2020 bei Klasse gegen Klasse externer Link zu den politischen Bestrebungen, dem Referendum auch noch jede politische Sprengkraft zu nehmen: „… Nun, die Bourgeoisie und ihre Parteien bereiten die rechtlichen Weichen für die nächsten 30 Jahre vor. Sie werden alles dafür tun, dass die wesentlichen Aspekte der jetzigen Verfassung, unter der Diktatur Pinochets eingeführt, und von der Concertación und der Nueva Mayoría (angeführt von der KP Chiles) „perfektioniert“ werden. Nun läuft die Suche nach Kandidat:innen für die Zeit nach dem Plebiszit. Mit am Start alt- und neubekannte Vertreter:innen der Interessen der herrschenden Klasse Chiles, wie Magdalena Piñera, Tochter des amtierenden Präsidenten Sebastián Piñera, die das Land mit ihren „Vorstellungen“ mitgestalten will. Aus dem linksreformistischen Spektrum, mit der Frente Amplio und der KP, werden verschiedene Namen genannt, Boric für die FA, Daniel Jadue für die KP. Was aber signifikant hierbei ist, dass sie sich alle darin einig sind, dass der Protest in den Straßen entweder schädlich für den Prozess ist (Rechte und FA) oder, wenn schon, friedlich entfalten soll (KP). Die kämpfende Jugend, die Erste Reihe, will aber lieber sterben als weiterhin dieses System weiterhin zu ertragen. Gemeinsam mit anderen Sektoren im Kampf, wie die Beschäftigte des Gesundheitssektor, Sie wollen tiefgreifende strukturelle Lösungen jetzt, nicht am Sankt Nimmerleinstag erhalten. Die von der Sozialdemokratie und der KP versprochene „Freude“ nach der Militärdiktatur war ja ein Reinfall, deren Auswirkungen die Arbeiter:innen und das arme Volk ausbaden müssen…“

„Chile: El plebiscito no consiguió derrotar el estallido social“ am 17. Oktober 2020 bei Clajadep-LaHaine externer Link ist ein Beitrag der die aktuellen Mobilisierung rund um den Jahrestag (schon vor ihrem Höhepunkt am Wochenende) als Indiz dafür bewertet, dass es der Kampagne politischer Parteien um das Referendum nicht gelungen sei, die Bewegung und ihre Formen, die aus der sozialen Explosion entstanden sind, abzuwürgen.

„La vieja Concertación intenta adjudicarse el movimiento social mientras pide a Piñera más represión“ von Benjamin Vidal am 20. Oktober 2020 bei La Izquierda Diario externer Link ist ein Beitrag, der – unter anderem – die bürgerliche Opposition für ihre Kooperation mit dem Pinera-Regime kritisiert. Vor allem den Aufruf eines sozialistischen Senators, jetzt auf Demonstrationen zu verzichten, um das Referendum nicht zu gefährden…

„El Trabajo como Derecho Fundamental: ¿se aplican las normas internacionales sobre Trabajo Decente en la actual Constitución de Chile?“ am 12. Oktober 2020 beim Gewerkschaftsbund CUT externer Link ist ein Beitrag zur geforderten Neudefinition  von Arbeit in der Verfassung im Vergleich zu bisherigen Bestimmungen. Die inhaltliche Kritik weist darauf hin, dass bisher Arbeit nur in individueller Dimension auftauche, nicht aber kollektive und gesellschaftliche Bedingungen und Ziele. So richtig dies sein mag – ist es auch ein Hinweis auf die Vorgehensweise, alle Fragen in die Verfassungsdebatte einzubinden, um dafür zu mobilisieren, was wiederum zumindest zwiespältig ist.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=179905
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