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[Buch] „Mensch, du lebst noch?“ Ein chilenischer Arbeiter erzählt von der Zeit Allendes und Pinochets
„Seit 1933 flohen deutsche Juden und Kommunisten vor dem Faschismus nach Chile. Nach der Befreiung 1945 zog es deutsche Nazis dorthin. Seit 1973 kamen Chilenen und Chileninnen zu uns. Der Arbeiter Orlando Mardones lernt im unruhigen Chile der sechziger Jahre selbstbewusste Kollegen kennen, die eine sozialistische Gesellschaft aufbauen wollen. Ein von den USA tatkräftig geförderter Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende verhindert das 1973. Orlando Mardones überlebt Festnahme, Folter und Haft. Schließlich bekommt er ein Ticket nach Frankfurt. Eine erhellende, oft überraschende, auch widerspruchsvolle Geschichte, die ich ein zweites oder drittes Mal lesen möchte … (Alexander B. Voegele) – eine der Stimmen zum Buch von Orlando Mardones, herausgegeben und übersetzt von Winfried Roth beim Verlag Edition AV . Siehe weitere Informationen zum Buch und als Leseprobe im LabourNet Germany das Kapitel „Der verlorene Sieg“ – wir danken dem Herausgeber!
- ISBN978-3-86841-241-3,113 Seiten, 14 €, Infos und Bestellung beim Verlag Edition AV
- Leseprobe im LabourNet Germany: Das Kapitel „Der verlorene Sieg“ (S. 60-65)
„…. Im Oktober 1970 gehörte ich zu der chilenischen Delegation auf einem internationalen Gewerkschaftskongress in Lima. Das war meine erste Auslandsreise. Der Kongress war sehr interessant. Ich hab dort viel über die Gewerkschaftsarbeit in anderen Ländern gelernt. Es war eine der ersten Veranstaltungen dieser Art. Unser Ziel war eine ständige, intensive Zusammenarbeit aller Gewerkschaften Lateinamerikas — aber das ist ein Traum geblieben. Viele Delegierte haben uns zur Wahl Allendes beglückwünscht — das war sehr bewegend. Ich glaube, manche haben damit sogar mehr Hoffnungen verbunden als wir selbst. Schließlich war dieser Regierungswechsel keine Revolution. In Lima bekamen wir auch die Nachricht von der Ermordung General Schneiders, der Allende unterstützt hatte. Das war ein schlimmes Vorzeichen.
Die Beschäftigten in meinem Betrieb hatten überwiegend in Opposition zu Frei gestanden und unterstützten am Anfang die Unidad Popular. Die Regierung Allende setzte materielle Verbesserungen für die ärmeren Bevölkerungsgruppen durch. Sie gab den Beschäftigten, gerade in den Staatsbetrieben, große Mitbestimmungsrechte — zum Teil wurden Gewerkschafter Manager oder Mitglieder der Geschäftsleitung, so auch bei der ENDESA.
Aber wir, die Gewerkschaften, die Linke, waren nicht genügend darauf vorbereitet, eines Tages die politische Macht in unsere Hände zu nehmen. Wir hatten immer gegen die Regierung gekämpft — und diese Haltung behielten viele Arbeiter auch nach der Wahl des neuen Präsidenten. Es gab heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaften. Auch in unserem Betrieb kam es schließlich zu Konflikten zwischen der Gewerkschaft und einem Teil der Beschäftigten. Das war eine schwierige Situation für uns, die gewählten Vertreter der Arbeiter. Wir sollten auf einmal sowohl die Interessen der Beschäftigten als auch die Interessen des Staates vertreten. Wir wurden auf den Betriebsversammlungen angegriffen. Die Arbeiter haben immer wieder größere Lohnerhöhungen gefordert, als sie Regierung und Gewerkschaften für die Staatsunternehmen ausgehandelt hatten. Wir mussten die Arbeiter dazu bringen, auf einen Teil ihrer Lohnforderungen zu verzichten.
Ähnliche Auseinandersetzungen gab es in der großen Kupfermine El Teniente. Das war tragisch – und folgenreich für die chilenische Wirtschaft. (…) Schließlich kam es zu „Demonstrationen der leeren Töpfe“, hauptsächlich veranstaltet von Frauen aus der Mittelklasse. Später beteiligten sich auch Leute aus der breiten Bevölkerung. Aber Hunger gab es nicht, es fehlte an manchen Waren, aber meist konnte man sie doch irgendwie bekommen. Auch „Streiks“ von Ärzten gegen die Regierung fanden statt. Aber immer fand man jemanden, der für Kranke sorgte, es gab viele linke Ärzte. In der Bevölkerung herrschte keine Angst.
1973 spitzte sich die Situation im Land zu. Die Rechte wurde aggressiver. Die Christdemokraten hatten einen Pakt mit den reaktionären Parteien geschlossen. Die vielen christdemokratischen Arbeiter, die links eingestellt waren, wurden von der Parteiführung an den Rand gedrängt.“ (…) Am 11. September 1973, als in Talca erste Informationen über einen Putsch gegen die Regierung Allende laut wurden, saßen wir vor dem Radio und dem Fernseher, die Programme waren voller Störungen. Wir hatten keine Vorstellung, was wir noch tun sollten, wir waren vereinzelt und ohne zuverlässige Informationen. Wir empfanden Bestürzung und schreckliche Ungewissheit. Alles war vorbei. Wir saßen da und haben darauf gewartet, dass wir verhaftet wurden.“ Siehe die gesamte Leseprobe