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Millionen ohne Einkommen, Epidemie in den Favelas – und eine daher überflüssige Debatte, welcher Faschist in Brasilien regiert
Dossier
Es ist eine seltsame – und ausgesprochen überflüssige – Diskussion, wer jetzt in Brasilien wirklich an der Regierung sei: Bolsonaro (Faschist, christlicher Fundamentalist) regiert oder schon General Braga Netto (Faschist, Favela-Killer)? So wenig, wie LabourNet Germany beim legalen Putsch gegen die PT 2016 zu jenen gehörte, die keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Regierung Rousseff (und auch ihres Vorgängers) und der Putschistenregierung Temer sahen (obwohl wir, wie immer, auch solche Dokumente bekannt machten – und obwohl wir keine Fans der brasilianischen Sozialdemokratie sind und waren), so wenig finden wir irgendwie wesentliche Unterschiede zwischen Jair Bolsonaro und seinen Partnern von der Armee. Zumal die Einrichtung, um die es geht, und der seit Februar 2020 eben General Braga Netto vorsitzt, das Gabinete de Segurança Institucional (GSI – Sicherheitskabinett der Institutionen) bereits von dem wenig ehrenwerten Herrn Temer eingerichtet worden war und prinzipiell die endgültige Rückkehr der Armee an die „Schalthebel der Macht“ bedeutete. Braga Netto, zur Erinnerung, war Oberkommandierender des Feldzuges gegen die Favelas in Rio de Janeiro im Jahr 2018 – und, ein kleiner Hinweis am Rande, sein „Wirken“ dabei war auch Gegenstand der Untersuchungen, die die dann ermordete Stadträtin Marielle Franco initiiert hatte. Wer seine (oder ihre) Hoffnungen auf Zersetzungen des machthabenden Rechtsblocks setzt, könnte ganz übel enttäuscht werden, was auch neoliberale Gesundheitsminister oder reaktionäre Gouverneure betrifft. Zur Verteidigung der Gesundheit und der Versorgung von vielen Millionen Menschen zu mobilisieren – das ist die weitaus wichtigere Tätigkeit. Siehe dazu eine kleine Sammlung aktueller Beiträge:
- Preisexplosion treibt die Proteste gegen Bolsonaro erneut an: Am 9. April 2022 in 58 Städten Brasiliens
Am 9. April 2022 gab es in 58 Städten Brasiliens Proteste gegen die Bolsonaro-Regierung mit Fokus auf verbreiteten Hunger, die Inflation bei Nahrungsmitteln, dem hohen Preis für Gas zum Kochen, doppelt so hoch wie 2018, und dem Skandel im Ministerium für Bildung, bei dem der vor kurzem zurückgetretene Minister Milton Ribeiro evangelikale Pastoren als Mittelsmänner für die Vergabe von Geldern eingesetzt hatte. Im Gegenzug für den Erhalt von Geldern des Ministerium wurden Bürgermeister aufgefordert, Bestechungsgelder an die Pastoren zu zahlen, in mindestens einem Fall in Form von Goldbarren. In São Paulo kamen 30.000 Demonstranten zusammen, in Brasilia waren es etwa 8.000. In Brasilia bestand die Mehrheit der Protestierenden aus Angehörigen indigener Völker, die vom 4. bis 14. April in Brasilia kampieren, um gegen anstehenden Gesetzesänderungen zu protestieren, die ihre Territorien bedrohen. (Quelle: https://www.brasildefato.com.br/2022/04/09/movimentos-populares-ocupam-as-ruas-em-todo-brasil-e-pedem-bolsonaro-nunca-mais und Zeugenbericht der Fotografin Edel Moraes – wir danken!)
- Zum Protestcamp „Terra Livre“ siehe Bericht im Dossier: Brasilien: Agrarlobby fordert Austritt aus der Konvention zum Schutz indigener Rechte
- [Brasilien] Das Virus der Ungleichheit – „Die Pandemie in der Peripherie und die Peripherie in der Pandemie“
„Im März 2020 führte der weltweite Ausbruch von COVID-19 zur Anerkennung einer Pandemie durch die Weltgesundheitsorganisation. In der Folge war in sozialen Netzwerken und in den Medien oft die Rede von einem alles ausgleichenden Virus, der alle Menschen gleich betreffe, unabhängig von Wohnort, Glauben, ethnischer Zugehörigkeit oder sonstigen unterscheidenden Faktoren. Beinahe zwei Jahre später steht jedoch fest: Die Pandemie verstärkt die sozialen Ungleichheiten, die es schon vorher gab. In der „Periferia“, an den Rändern der Großstädte Brasiliens und in den Favelas, wo die ärmsten Menschen des Landes leben, hat sich Augusto Paim dazu für uns umgehört. (…) Die Pandemie ist noch nicht vorbei, aber eins steht schon fest: COVID-19 ist ein Virus, das nicht einfach verschiedene gesellschaftliche Gruppen unterschiedlich trifft. Es handelt sich um ein Virus, das von Menschen mit sehr viel Geld eingeschleppt wurde und sich in einer Bevölkerungsschicht verbreitet hat, die nicht in der Lage ist, sich selbst zu schützen und zu Hause zu bleiben. Es ist ein Virus, das in der brasilianischen Peripherie das „Virus der Ungleichheit“ genannt wird.“ Beitrag vom und beim Nachrichtenpool Lateinamerika (npla.de) vom 3. Januar 2022 – hörenswert hierzu ist auch der Audio-Beitrag „Die Pandemie in der Peripherie und die Peripherie in der Pandemie“ vom 30. Dezember 2021 bei npla.de (Audiolänge: 11:19 Min.) - Soziale Not in Brasilien: Der Hunger ist zurück
„Ein Jahr vor den Wahlen versinkt das Land in einer tiefen Wirtschaftskrise. Derweil plant der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro, die Stimmen der Armen zu kaufen. Wird es ihm gelingen?
Als der Wecker von Aline Conceição um drei Uhr in der Früh klingelt, erhebt sie sich von der Matratze, auf der sie mit ihren beiden Töchtern und dem Sohn schläft. Sie geht ins winzige Bad ihres Häuschens, wäscht sich mit Wasser aus einem Eimer. (…) Die Afrobrasilianerin fährt dann bis zur Endhaltestelle und baut ihr bescheidenes Warenangebot auf. «Um fünf Uhr beginne ich mit dem Verkauf», sagt Conceição, «täglich ausser sonntags.» (…) Conceição zählt zu den rund 35 Millionen Menschen, die im informellen Sektor Brasiliens arbeiten, also auf eigene Rechnung und ohne jede Absicherung. Sie verkaufen irgendetwas auf der Strasse oder bieten Dienstleistungen an, waschen etwa Autos. Die Informellen stellen rund vierzig Prozent der arbeitenden Bevölkerung Brasiliens, sie bilden das Rückgrat der Gesellschaft, die ohne ihre Eigeninitiative zusammenbrechen würde. Dennoch sind sie arm. Vor der Pandemie bedeutete dies, dass sie nie genug verdienten, um sozial aufzusteigen, sich aber immer über Wasser halten konnten. Das hat sich geändert. Brasilien erlebt eine tiefe Wirtschaftskrise mit Arbeitslosigkeit und Inflation. Sie hat Menschen wie Aline Conceição in Gefahr gebracht, sich nicht mehr ausreichend ernähren zu können. Ihnen drohen Hunger und Mangelernährung. Diese Gefahr ist umso grösser für die rund 14 Millionen Brasilianer:innen, die offiziell arbeitslos gemeldet sind, eine Quote von dreizehn Prozent. (…) Tatsächlich leidet Brasilien unter einer galoppierenden Inflation. (…) Für Talíria Petrone ist die Situation von Aline Conceição Ausdruck «einer der schlimmsten sozialen Krisen seit Generationen». Die 36-Jährige sitzt seit drei Jahren für die kleine linke Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) im Parlament und steht für einen neuen Typ Politikerin. Sie ist Schwarz, jung, Feministin, stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Und sie weiss im Gegensatz zu den allermeisten anderen Politiker:innen, wovon sie spricht, wenn sie über die Nöte der Bevölkerung redet. (…) Petrone spricht davon, dass die Linke bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Oktober 2022 den Kreis des Bolsonarismus durchbrechen müsse, um das Land zu erneuern. Sie schlägt vor, die hohen Einkommen und die grossen Vermögen stärker zu besteuern und ein Grundeinkommen für die Armen einzuführen. Letztendlich sind es die sozialen Fragen, die über die Wahl entscheiden werden, bei der Bolsonaro von Expräsident und Linkenikone Lula da Silva herausgefordert wird. Während man im Ausland Bolsonaro für unwählbar hält, weil er den Amazonas zerstören lässt, die Coronapandemie beförderte und Homosexuelle, Schwarze und Indigene beschimpft, so ist für die meisten Brasilianer:innen die wirtschaftliche Situation entscheidend. Weil auch Bolsonaro weiss, dass die Mehrheit der Brasilianer:innen arm ist und unter der Krise leidet, umwirbt er sie nun mit Methoden, die Petrone schlicht «Stimmenkauf» nennt. (…) Dass nun ausgerechnet der 76-jährige Lula noch einmal als Hoffnungsträger der Linken antritt, könnte man als Armutszeugnis betrachten. (…) Dennoch verteidigt Talíria Petrone Lulas Kandidatur, weil er der Einzige sei, der die Linke einen und Bolsonaro aus dem Amt fegen könne…“ Artikel von Philipp Lichterbeck aus der WOZ 49/2021 vom 9. Dezember 2021 - „In der Isolation“ am 09. April 2020 bei medico international ist ein Gespräch von Karin Urschel und Mario Neumann mit den Journalistinnen Raquel Torres und Maíra Mathias vom Projekt Outra Saúde (Andere Gesundheit), in dem die beiden Aktivistinnen unter anderem zur gesamten Entwicklung ausführen: „… Wie in anderen Ländern auch gibt es einen Mangel an Kapazitäten, um alle Patient*innen mit Symptomen zu testen, so dass das Gesundheitsministerium beschlossen hat, die Prüfung von Arbeiter*innen in Gesundheitsberufen und von Patient*innen mit schwerem Krankheitsverlauf und zu priorisieren. Aber das ist nicht das einzige Problem im Zusammenhang mit den Tests: Den brasilianischen Labors fehlt es auch an den Kapazitäten, bereits gemachte Tests zu analysieren. Allein in São Paulo, dem Epizentrum des Coronavirus in Brasilien, hängt das öffentliche Gesundheitssystem von einem einzigen Labor ab, dessen Kapazität bei tausend Proben pro Tag liegt, doch bereits zu Beginn des Monats standen über 14.000 Proben an. (…) Seit Februar hatten der Präsident und sein Hasskabinett zu Demonstrationen gegen den Kongress und den Obersten Gerichtshof angeregt, die für den 15. März geplant waren. Bolsonaro nahm an der Demonstration teil, begrüßte seine Anhänger*innen und ließ sich umarmen. Zusammen mit dem Hasskabinett bereitete er außerdem eine Radio- und Fernseherklärung vor, die selbst diejenigen schockierte, die sich bereits an den neuen Ton in der brasilianischen Politik gewöhnt hatten. „Wir müssen zur Normalität zurückkehren“, rief er inmitten des Ausbruchs der Pandemie. Bolsonaros Rede und sein Auftritt auf der Demonstration am 15. März lösten eine Volksbewegung gegen den Präsidenten aus. In vielen brasilianischen Städten begann die Bevölkerung zu protestieren, indem sie auf Töpfe schlug, Pfeifen blies, Parolen gegen die Regierung rief und Bilder auf Gebäude projizierte, die Bolsonaro lächerlich machten. Diese Proteste sind die beste Nachricht in der brasilianischen Politik seit langem, denn die Protagonist*innen waren häufig Menschen, die in wohlhabenden Vierteln leben, wo Bolsonaro die Wahlen von 2018 mit großem Vorsprung gewann. Aktuelle Umfragen bestätigen andererseits, dass eine fanatische Unterstützungsbasis immer noch fest an Bolsonaro gebunden ist – zwischen 30 und 35 Prozent der Wähler*innen. Diejenigen, die in Autokonvois gegen die Gouverneure und ihre Quarantänebestimmungen auf die Straße gingen...“
- „Decreto de Bolsonaro ataca o SUS em plena pandemia“ am 27. März 2020 beim Correio da Cidadania dokumentiert, ist eine gemeinsame Protest-Erklärung von 12 Organisationen aus dem Gesundheitsbereich gegen ein Regierungsdekret, das mitten in der Epidemie den nationalen Gesundheitsdienst SUS weiter abbaut. Das Dekret 10.283 vom 20. März 2020 hatte die ADAPS geschaffen (Agentur zur Entwicklung grundlegender Gesundheitsversorgung) – trotz ihres offiziell klingenden Namens eine privatwirtschaftliche Einrichtung, wogegen die beteiligten Organisationen massiv protestieren und einen Katalog von 8 Punkten als Gegenvorschlag einbringen. Und „natürlich“ hat aus dem Rechtsblock niemand etwas gegen diese Maßnahme…
- „Perguntamos às maiores mineradoras do Brasil o que estão fazendo para evitar a pandemia. Metade ficou em silêncio“ von Mauricio Angelo am 10. April 2020 beim Observatorio da Mineracao berichtet von den Ergebnissen der Umfrage der Beobachtungsstelle bei 14 Bergbau-Unternehmen (nachdem die Initiative bereits beim größten Konzern, der Vale – seines Zeichens „Staudamm-Killer“ – massiv kritisiert hatte, weil hier hemmungslos normal gearbeitet werde: Die Hälfte antwortete erst einmal gar nicht und die anderen führten diverse Gründe an dafür, dass sie ihre Belegschaften verheizen wollen. Dieser Haltung kommt die Tatsache entgegen, dass diese Unternehmen oftmals die umliegenden Städte (faktisch) regieren…
- „Brasilien in der Dreifach-Krise“ von Niklas Franzen am 08. April 2020 bei der Rosa Luxemburg Stiftung führt zur sozialen Situation (nach verschiedenen politischen Überlegungen) unter anderem aus: „… Da die Wirtschaft wegen der Präventionsmaßnahmen stockt, ist mit dramatischen Konsequenzen für die arme Bevölkerung zu rechnen. 40 Prozent der Arbeitnehmer*innen sind im informellen Sektor beschäftigt. Die meisten armen Brasilianer*innen haben keine Ersparnisse, soziale Sicherungssysteme wie in Europa gibt es nicht. Es droht eine soziale Katastrophe für Millionen Brasilianer*innen. Insbesondere die Situation in den Favelas ist besorgniserregend, und das nicht nur wegen der prekären Beschäftigungslage. Aufgrund der miserablen hygienischen Bedingungen sind die 15 Millionen Bewohner*innen der städtischen Armenviertel besonders anfällig für das Virus. Der Anteil der Tuberkulose- oder Asthmakranken ist fünfmal höher ist als in den wohlhabenderen Vierteln und wegen schlechter Ernährung gibt es viele Diabetiker*innen. Soziale Isolierung ist in den dicht besiedelten Armenvierteln schlichtweg unmöglich und in vielen Favelas gibt es noch nicht einmal fließendes Wasser, um sich die Hände zu waschen. In zahlreichen Vierteln ist die Situation so dramatisch, dass Menschen bereits am Hungern und auf Essensspenden angewiesen sind. Eine Bewohnerin der Favela Paraisópolis im Süden von São Paulo sagt: «Bevor wir uns über Schutzmasken und Desinfektionsmittel Gedanken machen können, brauchen wir Essen.» (Der Autor besuchte am 1. April die Favela und führte Interviews mit Bewohner*innen.) Die vom Staat vernachlässigten Gebiete sind mal wieder auf sich allein gestellt. In Rio de Janeiro wurden in mehreren Favelas mittlerweile Ausgangssperren verhängt – nicht jedoch von der Regierung, sondern von den lokalen Drogengangs. Nicht wenige rechnen mit sozialen Revolten in den nächsten Wochen. Kommt nun der große Corona-Aufstand?...“
- „Quarentena Geral já. Em defesa da vida, do emprego e renda Fora Bolsonaro. Eleições presidenciais“ am 27. März 2020 beim Gewerkschaftsbund Intersindical ist die Grundsatzerklärung der linken Föderation, mit der die allgemeine Quarantäne, die Sicherung von Jobs und Einkommen für Alle ebenso gefordert werden, wie Neuwahlen, angesichts von Bolsonaros volksfeindlicher Politik bei der Epidemie.
- „Wettern gegen das Virus“ ebenfalls von Niklas Franzen am 01. April 2020 in der taz online zur evangelikalen Mobilisierung gegen Gesundheitsvorsorge und Wissenschaft unter anderem: „… Ähnlich wie in den USA gibt es jedoch auch riesige, hochmoderne Prestigebauten. Im Salomon-Tempel in São Paulo, der sogar einen eigenen Hubschrauberlandplatz und ein TV-Studio hat, beten mehr als 10.000 Gläubige in Stadionatmosphäre. Die Gemeinden nehmen auch zunehmenden politischen und gesellschaftlichen Einfluss und haben mit einem Zusammenschluss streng-gläubiger Abgeordneter eine parteiübergreifende Interessenvertretung im Kongress. In Zeiten der Corona-Krise rücken die Bibeltreuen zusammen. Per Dekret wurde in vielen Bundesstaaten der Ausnahmezustand verhängt und Kirchen geschlossen. Während einige Gemeinden ihren Pforten vorübergehend schlossen und nun Online-Gottesdienste anbieten, ziehen andere gegen die Maßnahmen offensiv ins Feld – mit Pastor Malafaia an der Spitze. „In dieser Pandemie werden keine Krankenhäuser die Menschen beruhigen, sondern die Religionen“, erklärt Malafaia, Gründer der „Versammlung Gottes“, in einem seiner Videos. Unverantwortlich sei es Kirchen zu schließen, da sie den Menschen wichtige emotionale Unterstützung leisteten. Erst nach einem Gerichtsbeschluss ließ er die Türen seiner landesweit vertretenden Kirchen schließen. Rückendeckung bekommen die Evangelikalen von Präsident Jair Bolsonaro. Dieser brachte ein Dekret auf den Weg, das Kirchen als „notwendige Dienstleistungen“ einstuft. Das Dekret wurde nach kurzer Zeit von der Justiz kassiert, doch die Message Bolsonaros war angekommen: Ich stehe hinter euch...“