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Frauen gegen Feminizide in Brasilien – begleitend dazu ein neuer Mord

Dossier

Frauendemonstration gegen Gewalt und für Landreform am 12. August 2015 in BrasiliaDer „Marsch der Margeriten“ hat am 11. und 12. August 2015 zum fünften Mal in Brasília stattgefunden. Zehntausende „Landfrauen der Felder, Wälder und Gewässer“ versammelten sich, um gleiche Rechte, mehr Zugang zu staatlichen Leistungen und ein Ende der Gewalt gegen Frauen zu fordern. Dieser Marsch erinnert an die erfolgreiche Landarbeitergewerkschafterin Margarida Maria Alves aus Paraíba, die 1983 einem Auftragsmord zum Opfer fiel. Er findet seit dem Jahr 2000 statt und ist das größte Frauentreffen Brasiliens sowie eines der größten weltweit. Der Umzug und die zweitägige Veranstaltung werden von der Nationalen Konföderation der Arbeiter in der Landwirtschaft (Contag) organisiert, an denen sich Frauen aus allen Landesteilen und aller Altersgruppen beteiligen…“ – so beginnt der Bericht „Zehntausende Frauen in Brasilien beim „Marsch der Margeriten“ von Claudia Fix am 16. August 2015 bei amerika21.de externer Link, worin auch deutlich gemacht wird, dass naheliegender Weise der Hauptinhalt die Situation auf dem Land ist. Siehe dazu auch weitere Berichte:

  • Trümmerfrauen des peripheren Kapitalismus: Die Verwilderung des Patriarchats in Brasilien New
    „Brasiliens Regierung fördert die Geschlechtergerechtigkeit. Trotzdem steigt die Zahl an Gewaltdelikten gegen Frauen an. Die linke Kritik daran geht am Kern der Sache vorbei, wenn sie über die kapitalistische Krise schweigt. (…) Im Jahr 2022 verzeichnete Brasilien den traurigen Rekord einer Höchstzahl an Feminiziden, seit das »Gesetz über Feminizide« im Jahr 2015 in Kraft getreten ist. 1.400 Frauen wurden ermordet, das ist ein Anstieg von über fünf Prozent zum Vorjahr. Laut dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte liegt Brasilien bei den Femiziden weltweit auf Platz fünf, hinter El Salvador, Kolumbien, Guatemala und Russland. In Brasilien werden 48 Mal mehr Frauen ermordet als in Großbritannien, 24 Mal mehr als in Dänemark und 16 Mal mehr als in Japan oder Schottland. (…) Um das Verhältnis zwischen kapitalistischer Produktion und Frauenunterdrückung – und damit auch das Verhältnis zwischen kapitalistischer Krise und misogyner Gewalt – zu verstehen, hat die feministische Theoretikerin Roswitha Scholz den Begriff des »Warenproduzierenden Patriarchats« vorgeschlagen. Die Produktion von Wert durch gesellschaftlich abstrakte Arbeit impliziert demnach immer auch eine gesellschaftliche Abspaltung dessen, was in der Wertform nicht aufgeht: Als vermeintlich Natürlicheres, ‚Weibliches‘ und auch Rassifiziertes. Kapitalismus und Patriarchat sind aus dieser Sicht der Wertabspaltungskritik gleichursprünglich, oder wie Scholz es ausdrückt: »Der Wert ist der Mann«. Seinen irrationalen Selbstzweck – die grenzenlose Akkumulation menschlicher Arbeit als Kapital – droht dieses Gesellschaftssystem beständig selbst zu untergraben, indem es durch neue Produktivitätsschübe und technische Innovation die menschliche Arbeit Stück für Stück aus der Produktion verdrängt. Das Warenproduzierende Patriarchat ist damit ein fragiles. Das zeigt sich dort, wo angesichts von Verarmung und sich ausdehnenden prekären Arbeitsverhältnissen die traditionelle Trennung von ökonomischem ‚männlichen‘ Versorger und ‚weiblicher‘ Reproduktionsarbeiterin zu einer wirtschaftlichen Unmöglichkeit wird und Frauen plötzlich gleichzeitig Fürsorgearbeit und das ökonomische Überleben der Familie gewährleisten sollen. Dass sich in solchen in Auflösung befindenden bürgerlichen Familienverhältnissen die Männer umso mehr als Männer beweisen wollen, ist ein Phänomen das Scholz als »Verwilderung des Patriarchats« bezeichnet hat. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Forderungen nach Entwicklung, schärferen Strafen oder mehr Demokratie nur eine unzureichende Antwort sein können. (…) Gerade im brasilianischen Kontext bestimmte das gewaltsame Verhältnis zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und des Rechtsstaates, wer auf die dunkle Kehrseite der Wertform fällt: So sind es in Brasilien insbesondere Schwarze Frauen, die zu den gesellschaftlich verletzlichsten Gruppen gehören. Sie sind weniger gut in den formellen Arbeitsmarkt integriert, erhalten weniger Lohn, haben im Durchschnitt eine schlechtere Schulbildung, sind öfter arbeitslos und sind vor allem die Hauptleidtragenden geschlechtsspezifischer Gewalt. Auch dort, wo sich statistisch ein Rückgang der Gewalt gegen Frauen beobachten lässt, beschränkte sich dieser auf weiße Frauen. (…) Die Trümmerfrauen des brasilianischen Kapitalismus sind insbesondere Schwarze, arme und verwundbare Frauen. Und zugleich sind sie jene, die dieses Chaos managen sollen: Sie müssen überleben, und zugleich das Überleben anderer gewährleisten – in einer zusammenbrechenden kapitalistischen Peripherie. So geht es im Alltag der Peripherie längst darum, über Überlebensformen nachzudenken, die sich nicht mehr von der Hoffnung auf den kapitalistischen Fortschritt abhängig machen, sondern sich ihm widersetzen. Das bedeutet nicht, aus der Not eine Tugend zu machen, aber anzuerkennen, dass es vernünftiger ist, sich nicht gegen die Care-Arbeit zu wenden, um ihr andere, zerstörerische Machtbereiche vorzuziehen, sondern Fürsorge gesellschaftlich neu zu bestimmen. Dies bedeutet nicht, passiv hinzunehmen, dass der Staat den Frauen die Aufgabe zuweist, Verwalterinnen des Zusammenbruchs zu sein, sondern mit den gescheiterten idealistischen Bestrebungen, die sich mit dieser sozialen Form und ihren Mechanismen der Zerstörung identifizierten, aufzuräumen. Dann könnte womöglich die Sicht frei werden auf neue Felder des Widerstands – und darauf, die Fürsorge für das Leben zu einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Aufgabe zu machen.“ Artikel von Ana Elisa Cruz Corrêa und Scheilla Nunes Gonçalves vom 29. April 2024 aus iz3w-Heft 402 externer Link
  • Im Durchschnitt alle sechs Stunden ein Femizid in Brasilien
    1.400 Frauen wurden in Brasilien 2022 von Männern getötet, mehr als in jedem anderen Jahr seit Beginn der Erfassung 2015. Präsident Lula da Silva kündigte Maßnahmen an.
    In Brasilien hat im vergangenen Jahr einer Studie zufolge statistisch gesehen alle sechs Stunden ein Mann eine Frau getötet. Laut dem Nachrichtenportal G1 wurden im Jahr 2022 landesweit mehr als 1.400 Femizide festgestellt. Das markiert den höchsten Wert seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2015. Präsident Inácio Lula da Silva nannte die Zunahme der Femizide unerträglich und präsentierte ein Maßnahmenpaket gegen die Gewalt an Frauen. (…) Das von Lula präsentierte Maßnahmenpaket umfasst unter anderem eine Erhöhung der Mittel für Frauenhäuser und die Reaktivierung eines Programms zur Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt. Es solle „die Barbarei stoppen“, sagte der linksgerichtete Politiker. Es müsse jedoch noch mehr geschehen, um die unerträgliche körperliche Gewalt gegen Frauen zu beenden
    .“ Agenturmeldung vom 9. März 2023 in der Zeit online externer Link
  • „WIR SIND GEMACHT AUS MUT UND ZÄRTLICHKEIT“. Schwarze Frauen in Bewegung: Kämpfen für das Leben in Brasilien
    Brasilien ist ein Land, das den Rassismus in seiner DNA trägt, wie unsere Autorin Eliane Almeida sagt. Schwarze Frauen sind daher in besonderer Weise von sexualisierter Gewalt betroffen, da die Verschränkung mit rassistischer Diskriminierung noch zusätzlich den Zugang zu Unterstützungs- und Schutzmechanismen erschwert. In drei Erzählungen aus der Realität des Schwarzen Brasiliens vermittelt sie uns eindringlich den gewaltsamen Alltag Schwarzer Frauen. Wie dieser Alltag zustande kommt und wie sie damit umgehen, analysiert sie anschließend anhand von Statistiken und Beispielen aus der Schwarzen Frauenbewegung. (Warnung: Achtung, dieser Text enthält explizite Inhalte sexualisierter und rassistischer Gewalt)…“ Artikel von Eliane de Souza Almeida in der Übersetzung durch Christian Russau und Caroline Kim in den Lateinamerika Nachrichten vom Dezember 2020 externer Link
  • Gewalt und Gesetz in Brasilien
    In der durch ein extrem ungleiches Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen geprägten brasilianischen Gesellschaft wurde die Unterdrückung von Frauen lange Zeit unsichtbar gemacht, naturalisiert und gesellschaftlich toleriert. Durchschnittlich wird in Brasilien alle sieben Stunden eine Frau Opfer eines Feminizids. Im internationalen Vergleich ist Brasilien somit weltweit eines der Länder mit der höchsten Feminizidrate und das Land mit den meisten Morden an trans Personen.
    Am 9. März 2015 wurde in Brasilien das Gesetz Nr. 13.104 ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Es bestimmt die Merkmale, die ein Tötungsdelikt zum Feminizid machen, wie folgt: häusliche und innerfamiliäre Gewalt, Verachtung oder Diskriminierung der Frau. Es stuft den Feminizid als eine niederträchtige Tat ein, was wiederum eine Erhöhung der Strafe zur Folge hat. Eine ebenfalls wichtige Folge des Gesetzes ist, dass durch die Typisierung von Feminiziden in der Gesetzgebung allgemein eine größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf diese Art von Verbrechen gelenkt wird. Außerdem wird ein genaueres Verständnis seiner Dimension geschaffen, um eine Verbesserung der Politik zur Eindämmung von Gewalt gegen Frauen zu erreichen.
    In Brasilien kommt es häufig zu Feminiziden, bei denen die Opfer von ihren Partnern oder Ex-Partnern im eigenen Zuhause ermordet werden. Diese Straftaten werden in der Gesellschaft, der Presse und sogar in der Justiz oft als isolierte Handlungen dargestellt, welche in unkontrollierten, intensiv emotionalen Momenten erfolgen würden. Zur Beschreibung der Morde finden sich in den Medien immer wieder Adjektive wie „eifersüchtig“, „unkontrolliert“ oder sogar „leidenschaftlich“, welche Feminizide als „Mord aus Liebe“ charakterisieren sollen. Die Typisierung solcher Verbrechen als Feminizid ist daher von großer Bedeutung. Denn auch häusliche und familiäre Gewalt ist kein privates, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem, das in dem strukturellen Machismo wurzelt, der tief in der brasilianischen Gesellschaft verankert ist.
    Das 2006 in Brasilien erlassene Gesetz Maria da Penha (Nr. 11.340) soll Frauen genau vor dieser Art von Gewalt schützen, indem es unter anderem Kontakt- und Zutrittsverbote für Gewalttäter und verschiedene Formen der Unterstützung fördert
    …“ Artikel von Luisa Bona externer Link aus dem Dossier 2020 der Lateinamerika Nachrichten, siehe auch:

    • „… Leila Arruda, die in der Kleinstadt Curralinho in Pará als Kandidatin für die PT antrat, und den dritten Platz erreichte, wurde fünf Tage nach dem Wahltag von ihrem früheren Ehemann ermordet. Das Paar wurde im Jahr 2017 geschieden. Die 49 Jahre alte Arruda war Pädagogin und Gründerin des Vereins MOEMA, der Bewegung der weiblichen Unternehmerinnen in Amazonas. Der Mord war Anlass für Demonstrationen in Curralinho und Belém. Parteigroeßen wie Ex-Präsidentin Dilma Rousseff und PT-Präsidentin Gleisi Hoffmann verurteilten das Verbrechen.
      Der Tod von Arruda deutet auf ein tief verankertes Problem, das sich in den letzten Jahren vor dem Hintergrund des offenen Anti-Feminismus der meisten Regierungsmitglieder zugespitzt hat. Zahlen des Forum Brasileiro de Segurança Pública zufolge gab es im Jahr 2019 mit insgesamt 1310 ermordeten Frauen einen Anstieg von 7,2 Prozent bei Feminiziden, im ersten Halbjahr 2020 betrug der Anstieg 1,9 Prozent. (Anders als in Deutschland, wo bei Morden an Frauen immer noch der verschleiernde Ausdruck „Familiendrama“ verwendet wird, sprechen die brasilianischen Medien von „Feminizid“.)…“ Aus dem Artikel von Jörg Nowak vom 09. Januar 2020: „Brasilianische Kommunalwahl November 2020: Wer sind die Zombies?“
  • „5ª MARCHA DAS MARGARIDAS“ Bericht bei der Contag am 13. August 2015 externer Link, worin der Schwerpunkt vor allem darauf liegt, die bei der Abschlusskundgebung im Fußballstadion von brasilia gemachten Zusagen der Präsidentin Rousseff zu dokumentieren.

Grundinfos:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=85293
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