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Die selbsternannte „Übergangs-Präsidentin“ Boliviens tut, was ihre Hintermänner fordern: Freibrief zum Mord für die Armee – Proteste werden trotzdem immer stärker
„… Die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) hat sich alarmiert über ein Dekret der aktuellen Machthaber in Bolivien vom 14. November gezeigt, das in Kopie auf mehreren lateinamerikanischen Nachrichtenportalen verbreitet wurde. Demnach sind die Mitglieder der Sicherheitskräfte, die „an den Operationen zur Wiederherstellung der Ordnung und der öffentlichen Sicherheit teilnehmen, von strafrechtlicher Verantwortung befreit, wenn sie in Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben zur legitimen Verteidigung oder im Notfall handeln“. Zudem können sie „alle verfügbaren Mittel nutzen, die im angemessenen Verhältnis zu den Risiken des Einsatzes stehen“. Das „schwerwiegende Dekret“ missachte internationale Menschenrechtsstandards, befördere die gewaltsame Unterdrückung und „verstößt gegen die Verpflichtung der Staaten, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, zu verfolgen, zu verurteilen und zu bestrafen“, so die CIDH. Die Zahl der Todesopfer bei dem Einsatz von Polizei und Militär gegen Kokabauern am Freitag in Sacaba nahe der Stadt Cochabamba ist nach Angaben der Ombudsstelle des Landes auf mindestens neun gestiegen, mehr als 100 Menschen wurden verletzt. Nach Verlautbarungen der Sicherheitsbehörden hätten Demonstrierende versucht, einen Sicherheitsring von Polizei und Militär zu durchbrechen, um nach Cochabamba zu gelangen…“ – aus dem Bericht „Machthaber in Bolivien sichern Militärs Straffreiheit zu, Zahl der Todesopfer gestiegen“ von Marta Andujo am 17. November 2019 bei amerika21.de über die Maßnahmen der Koalitions-Junta zur Unterdrückung von Protesten im Land. Siehe in der kleinen Materialsammlung dazu auch zwei aktuelle Beiträge über anwachsende Proteste, drei Beiträge, die die gesellschaftliche und politische Rolle der rechten Putschisten nachzeichnen, sowie einen Beitrag über die zunehmende Bedeutung der enormen Lithium-Vorkommen (und wer sie haben will) – wie auch den Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zur Entwicklung in Bolivien – und in einem Update vom 18. November 2019 einen Beitrag zur offen reaktionären Rolle der Bundesregierung bei der Unterstützung der Putschistenclique sowie einen Beitrag über den besonderen heutigen Charakter solcher Putsche (nicht nur) in Lateinamerika:
„Potosí también se rebela contra la dictadura“ am 16. November 2019 bei Resumen Latinoamericano berichtet von massenhaftem Protest gegen die Junta in Potosi – insofern eine besondere Meldung, als Potosi eines der Zentren der Proteste gegen die Verfassungsänderung zugunsten einer abermaligen Kandidatur von Evo Morales war.
„Masiva manifestacion de El Alto a la Paz para que “renuncie la presidenta interina autoproclamada”“ am 15. November 2019 im Twitter-Kanal von Francisco Guaita ist ein Video über die Protestdemonstration von El Alto hinab nach La Paz, mit der der sofortige Rücktritt der „selbsternannten Interimspräsidentin“ gefordert wurde.
„Der Staatsstreich spielt Kirchen- und Konzerninteressen in die Hände“ von Claudia Korol am 16. November 2019 beim NPLA ist ein Interview mit Adriana Guzmán zum Charakter der Putschisten, worin sie unter anderem hervorhebt: „… Das ist ein bürgerlicher, militärischer fundamentalistischer Staatsstreich, der von der Kaste der Unternehmer*innen unterstützt wird. Die Mobilisierungen begannen nach den Wahlen am 20. Oktober, als Evo Morales nach der Auszählung zehn Prozent mehr Stimmen hatte als Carlos Mesa und von Wahlbetrug gesprochen wurde. Teile der Gesellschaft waren unzufrieden, weil Evo sich wieder als Kandidat hatte aufstellen lassen. Als antipatriarchale Feministinnen der Volksgemeinschaften müssen wir unseren Kritiker*innen in diesem Punkt rechtgeben. Wir glauben, dass man Evos Antritt zur Wahl nochmal überdenken müsste. Aber auf der anderen Seite haben die anderen Parteien auch Dinge für sich beansprucht. Carlos Mesa zum Beispiel ist ein Völkermörder. Er war wesentlich an der Eskalation des Gaskriegs 2003 beteiligt und hat sich trotzdem zur Wahl gestellt. Was ist denn das? Selbst ein Völkermörder kann man sich zur Wahl aufstellen lassen, aber zum dritten Mal wiedergewählt werden kann man nicht? [Wer sind die Protagonist*innen des Staatsstreichs?] Auf der einen Seite ist da die Opposition, die das „demokratische Prinzip“ vertritt und sich über den angeblichen Wahlbetrug empört; an ihrer Spitze steht Carlos Mesa, der Vizepräsident von Gonzalo Sánchez de Losada, mitverantwortlich für die Eskalation des Gaskriegs. Diese rückständigen Oppositionellen, die keine eigenen politischen Ansätze, kein Profil haben und während der Jahre des politischen Wandels immer mehr an Substanz verloren haben. Die Parteien angehören, deren Abkürzungen heutzutage schon keiner mehr kennt – die sammeln sich nun hinter Carlos Mesa und stellen ihn zum Kandidaten auf. Das ist also die so genannte Opposition, die Stimmen derer, die die MAS (Movimiento al Socialismo) infrage stellen. Die andere Gruppe sind die rechten Faschist*innen des Bürgerkomitees von Santa Cruz, angeführt von Luis Fernando Camacho. Da haben sich die Unternehmer*innen in einer Dachorganisation zusammengeschlossen, um ihre Interessen zu sichern, indem sie auf die Erarbeitung von Gesetzen einzuwirken. Das Bürgerkomitee vertritt Unternehmer*innen, Oligarch*innen, Großgrundbesitzer*innen, Partner*innen von Großkonzernen im Osten Boliviens. Der Osten des Landes wird dominiert von Großgrundbesitzer*innen, die ihren Länderreichtum der Diktatur zu verdanken haben. Die indigenen Völker, die Migrant*innen aus La Paz und aus anderen Regionen, Aymaras und Quechuas mussten die Ländereien für sie bewirtschaften. Es ist die wirtschaftliche Opposition, die den Staatsstreich anführt. Luis Fernando Camacho hat außerdem mit dem organisierten Drogenhandel zu tun. Er ist der Sohn eines Paramilitärs, der für die Diktatur gearbeitet hat. Das sind die Leute, die diesen Staatsstreich angeführt haben…“
„Bolivia’s Path to Camacho“ am 13. November 2019 beim NACLA ist ein Interview von Jonah Walters mit dem bolivianischen Gesellschaftswissenschaftler Raul Rodriguez Arancibia, in dem dieser den Weg nachzeichnet, wie der Oligarch aus Santa Cruz zum Frontmann der Putschisten wurde – was der jahrelange „Oppositionsführer“ der Millionäre geschafft hat, indem er, nicht zuletzt durch eine Reise zum richtigen Zeitpunkt nach La Paz, große Teile der Mittelklasse hinter sich ebenso versammeln konnte, wie einige wenige derjenigen indigenen Gruppierungen, die die Wiederwahl Morales abgelehnt hatten.
„Los agresivos tuits contra «originarios» e «indígenas» que borró Áñez“ am 15. November 2019 bei Resumen Latinoamericano ist ein Beitrag, der die rassistischen Ausfälle der sogenannten Präsidentin dokumentiert und kommentiert, die diese gegen die „Herrschaft der satanischen Indigenen“ auf die Welt losließ. Der christliche Fundamentalismus nicht nur in Bolivien wird systematisch aus den USA befördert…
„Die Gier nach dem weißen Gold“ von Karl-Ludolf Hübener am 16. Oktober 2019 beim Deutschlandfunk war ein Beitrag über das „neue ökonomische Interesse“ an Bolivien, worin unter anderem berichtet wurde (zur Geschichte der Ausbeutung von Silber, Zinn, Gas und nun eben Lithium): „… Aber die Ausbeutung ruft ein altes Trauma der Indigenen in Bolivien hervor: „Die Geschichte des Cerro Rico in Potosí darf sich nicht wiederholen – ob es nun um Lithium, Eisen oder Erdöl geht.“ Evo Morales wird 2006 als erster indigener Aymara-Indianer als Präsident Boliviens vereidigt. Immer wieder spricht er über den Cerro Rico, den reichen Berg in Potosi. Die spanischen Eroberer plünderten vom 16. Jahrhundert an das Land aus. Das Silber des reichen Berges finanzierte einen großen Teil des Haushalts der spanischen Krone. Für die Menschen in den Anden blieb jedoch nichts übrig. Nie wieder Potosí, heißt es deshalb. Gemeint ist damit nicht mehr Silber, sondern der begehrte Rohstoff Lithium. „Unser Land ist reich, aber gleichzeitig gibt es viel Armut. Die Rohstoffe sind uns im Laufe der Geschichte immer wieder geraubt worden. Sie wurden geplündert oder meistbietend von neoliberalen Regierungen versteigert oder multinationalen Unternehmen überlassen.“ Evo Morales kündigte zum Amtsantritt an, dass mit derartiger Ausbeutung nun Schluss sei. Tatsächlich ist seit 2006 einiges geschehen: Vor allem verleiht er der bis dahin diskriminierten indigenen Mehrheit Boliviens ein neues Selbstwertgefühl. Armutsbekämpfung, kostenlose Gesundheitsversorgung, der Kampf gegen die Kindersterblichkeit – das alles hat die Regierung umgesetzt, wenn auch nicht optimal. Bolivien ist immer noch ein armes Land in Südamerika, aber das Pro-Kopf-Einkommen der elf Millionen Einwohner hat sich in Morales‘ Amtszeit verdreifacht. Und der Umgang mit Boliviens Rohstoffen ist ein anderer geworden…“
Update vom 18. November 2019
„Berlin und der Putsch (II)“ am 18. November 2019 bei German Foreign Policy ist, wie die Überschrift bereits besagt, der zweite Beitrag zur Unterstützung des Putsches durch die Bundesregierung, in dem es unter anderem heißt: „… Die selbsternannte bolivianische Putschpräsidentin Jeanine Áñez bedankt sich bei der deutschen Regierung für ihre Anerkennung. Das Auswärtige Amt hatte bereits am Donnerstag via Twitter erklärt, man „begrüße“, dass Áñez „als Interimspräsidentin von Bolivien“ angekündigt habe, innerhalb von drei Monaten Wahlen anzusetzen. Áñez antwortete noch am selben Tag ebenfalls via Twitter, sie sei der Bundesregierung für die Mitteilung dankbar und verstehe sie als „Unterstützung für unsere Interimspräsidentschaft“. Gleichzeitig bedankte sie sich bei US-Außenminister Mike Pompeo. Dieser hatte sie dafür gelobt, dass sie „die Rolle“ der Interimspräsidentin „angenommen“ habe. Tatsächlich hält Áñez den Posten illegal: Präsident Evo Morales wurde durch Drohungen der bolivianischen Armeeführung aus dem Land gejagt, ist also Opfer eines Putsches; zudem wurde sein von den Militärs erzwungenes Rücktrittsschreiben nicht, wie es Boliviens Verfassung ausdrücklich fordert, vom Senat akzeptiert. Morales ist rechtlich noch im Amt…“
„DIE PUTSCHE UNSERER ZEIT“ am 17. November 2019 bei den Lateinamerika Nachrichten ist eine Stellungnahme der Redaktion zur Situation in Bolivien, in der es unter anderem heißt: „… Die eskalierende Gewalt in Bolivien macht nochmal deutlich, dass die Übergangsregierung nicht demokratisch ist. Sie ist das Ergebnis eines Putsches: Weil die Amtszeit von Evo Morales regulär noch bis Ende Januar gelaufen wäre. Weil er auf den öffentlichen Druck hin Neuwahlen angekündigt hat. Weil er nur Stunden danach durch das Militär gedrängt wurde, zurückzutreten – es war kein freiwilliger, sondern ein erzwungener Rücktritt. Zwar war Morales’ Wahl von Betrugsvorwürfen überschattet. Schon vor einer Klärung der Vorwürfe hat die rechte Opposition jedoch das Ergebnis abgelehnt und auf Umsturz gedrängt. Sehen wir uns die Putsche der letzten Jahre an – Honduras (2009), Paraguay (2012), Brasilien (2016) – so laufen sie nicht mehr nach dem Schema der früheren Militärdiktaturen der 1960er und ’70er Jahre ab. Keine Militärjunta mehr, die einen Präsidentenpalast stürmt und alle Anwesenden umbringt oder in Folterlager steckt. Die Rechte hat sich verändert: Sie hat die Strategie entwickelt, undemokratische Aktionen mit demokratischem Vokabular zu vereinnahmen und versucht so, ihnen politische und parlamentarische Legitimität zu verleihen. Das beginnt mit der angeblichen Verteidigung der „Menschenrechte“, der „Freiheit” und der „Meinungsfreiheit“, die unter den progressiven Regierungen in Gefahr sei, und führt dann über die Aneignung der Protestformen auf der Straße schließlich zu einer scheinbar demokratischen Legitimität eines Machtwechsels. Dabei sind die Bemühungen rechter Bewegungen und Parteien, sich einen demokratischen Anstrich zu geben, rein äußerlich und nicht sonderlich nachhaltig. Es geht höchstens um unternehmerische Freiheit. Die Gewalt kommt erst danach, sie ist nicht so öffentlich wie in den 1970ern, aber dennoch real. In El Alto, der zweitgrößten Stadt Boliviens direkt neben der Hauptstadt La Paz, mobilisierten an diesem Wochenende Unterstützer*innen von Evo Morales. Sicherheitskräfte schossen scharf auf sie. Gegner*innen der MAS-Bürgermeisterin der Stadt Vinto, Patricia Arce, übergossen sie mit roter Farbe und schleppten sie barfuß und mit geschorenem Kopf durch die Straßen. Wiphala-Flaggen wurden verbrannt – das Symbol der Plurinationalität, das die verschiedenen indigenen Sprachen und Kulturen als festen Bestandteil Boliviens anerkennt. Diese und andere Gewalttaten befördert Boliviens neue De-Facto-Regierung. Und es könnte noch schlimmer werden…“
- Zum Putsch in Bolivien zuletzt: „Ein gesellschaftlicher Dialog wäre gut für Bolivien: Aber nicht mit einer Bande rassistischer Teufelsaustreiber und ihren militärischen Banden“ am 15. November 2019 im LabourNet Germany