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Argentiniens neues Abtreibungsgesetz ist ein Fortschritt: Sagen die Frauen, die so lange dafür gekämpft haben und auch ein Blick auf jene, die es kritisieren

Dossier

Trotz - oder gerade wegen - der Mehrheit gegen die Reform 2018 wurde der Kampf für ein neues Abtreibungsgesetz in Argentinien immer stärker„… In der Nacht des 29. auf den 30. Dezember 2020 wurde in Argentinien endlich die Abtreibung legalisiert. Schätzungsweise 20.000 Menschen verbrachten den Abend in den Straßen von Buenos Aires, um zu singen, zu feiern und das Ja zur Abstimmung zu fordern. Eine Stunde vor Sonnenaufgang stimmte der Senat schließlich ab: Es gab 38 Ja-Stimmen, 29 Nein-Stimmen und eine Enthaltung. Argentinien ist nun das sechste lateinamerikanische Land, das die Abtreibung in den ersten 14 Wochen der Schwangerschaft ohne Einschränkungen legalisiert hat. (…) Dieser Sieg ist das Ergebnis eines langen Kampfes der argentinischen feministischen Bewegung.  – aus dem Beitrag von Ana Rivera am 30. Dezember 2020 bei Klasse gegen Klasse externer Link („Nach jahrzehntelangem Kampf auf den Straßen legalisiert Argentinien die Abtreibung“). Siehe dazu weitere Beiträge zur Bewertung dieses Sieges sowie zur damaligen Ablehnung 2018, die deutlich machen, wie stark die Bewegung der „Grünen Welle“ war und ist, und ein Beispiel für die Gegner dieser Gesetzgebung aus der Regierung eines größeren Nachbarlandes…

  • »Wir werden weiterhin dringend gebraucht«. Das Netzwerk »Socorristas en Red« organisiert in Argentinien seit mehr als zehn Jahren Schwangerschaftsabbrüche – der neue Gegner: die Regierung Milei New
    Socorristas, das heißt auf Deutsch »Retterinnen«. Die »Socorristas en Red«, eine 2012 gegründete feministische Organisation, unterstützen in Argentinien Frauen, Mädchen, trans* Männer und nichtbinäre Personen ehrenamtlich, eine vergleichsweise sichere und kostengünstige Abtreibung mit Tabletten selbst vornehmen können. Mit den zwei Wirkstoffen Misoprostol und Mifepriston geht das in der Regel problemlos bis zur zwölften Schwangerschaftswoche. »Wir widersetzen uns dem Gesundheitssystem, dem Justizsystem, dem staatlichen System und der Aufforderung des ›Misch dich nicht ein‹. Zwischen 2012 und 2024 haben wir jedes Jahr zwischen 12 000 und 15 000 Personen begleitet. Also insgesamt zwischen 150 000 bis 160 000«, so die Aktivistin Ruth Zurbriggen. Eine beeindruckende Zahl. (…)
    »Abtreibungen sind kein ›geringeres Übel‹, man muss sich nicht schämen. Sie gehören einfach zum Leben dazu«, sagt Ruth Zurbriggen. »Bei uns wird gelacht, zusammen gekocht und gegessen und zwischendurch ein Film geguckt«, beschreibt sie diese Art der sozialen Zusammenkünfte. Im Anschluss an den erfolgten Abbruch vermitteln die Socorristas Ärzt*innen für die Nachuntersuchung. (…)
    Die Mobilisierungen unter dem Motto #NiUnaMenos (zu Deutsch: Nicht eine weniger) gegen sexualisierte Gewalt, die feministischen Streiks am 8. März und die breite Unterstützung für die jährlichen landesweiten Frauentreffen, die seit 1986 stattfinden, hatten es vermocht, das Selbstbestimmungsrecht von Frauen über ihren Körper zu einer zentralen gesellschaftlichen Angelegenheit zu machen. »Der eigentliche Wandel zeigte sich meiner Meinung nach darin, dass über Abtreibungen geredet wurde, nicht nur öffentlich, sondern auch im Privaten. Beim Familienessen offenbarten Großmütter, Mütter und Tanten ihre Geheimnisse. Nicht jede*r war der gleichen Meinung, aber das Thema war sprichwörtlich auf dem Tisch. Es gab kein Zurück mehr«, so Aktivistin Ruth Zurbriggen. Die Kampagne für eine Legalisierung von Abtreibungen war mittlerweile auf über 500 Organisationen im ganzen Land angewachsen. (…)
    Die Gefahr Javier Milei
    Werden die Socorristas jetzt überhaupt noch benötigt, nun, da Abtreibung in Argentinien legal ist? Ruth Zurbriggen zeigte sich bei der Veranstaltung in Berlin davon überzeugt: »Wir werden weiterhin dringend gebraucht. Zum einen vermitteln sich die Inhalte eines Gesetzes nicht von allein. Viele kennen ihre Rechte nicht. Und dann sind die politischen Vorzeichen heute auch ganz andere, als zu dem Zeitpunkt, als das Gesetz durchkam.« (…)
    Das Ministerium für Frauen, Gender und Diversität wurde abgeschafft. Medikamente werden nicht mehr von der Landesregierung gestellt, sondern die Ausstattung des öffentlichen Gesundheitssystems den Provinzen überlassen. Das betrifft nicht nur, aber auch, die Medikamente, mit denen Abtreibungen durchgeführt werden. Die Provinzregierungen sind ökonomisch sehr unterschiedlich aufgestellt und politisch oft konservativ. Natürlich seien auch andere als feministische Anliegen von den Kürzungen betroffen, aber Milei sei eben nicht »nur« neoliberal, sondern auch erzkonservativ. »Seine Regierung ist Teil einer globalen Anti-Gender-Bewegung, sie steht für ein autoritäres Projekt. Ihre Feinde sind Feministinnen, trans* Personen, aber auch indigene Völker, Umweltbewegungen und soziale Bewegungen. Irgendwann wird die Regierung gegen die Legalisierung von Abtreibungen vorgehen, das ist klar, die Frage ist nur wann. Wir müssen vorbereitet sein, zusammenhalten und uns auch international vernetzen.«
    …“ Bericht von Socorristas in Red, Magazin ila und Nachrichtenpool Lateinamerika am 06.03.2025 in ND online externer Link über die Veranstaltung »Abtreibungsbegleitung in Zeiten einer globalen Rechten« der Zeitschrift »ILA« aus Bonn und dem Medienprojekt »Nachrichtenpool Lateinamerika« e. V. nach Berlin, siehe:

  • [Zurück vor 1921] Haftstrafen von bis zu sechs Jahren möglich: Argentinische Regierung will Recht auf Abtreibung abschaffen Argentiniens Präsident Javier Milei will das Recht auf Abtreibung abschaffen. In Argentinien könnte die Gesetzgebung auf den Stand von 1921 zurückfallen. Selbst Frauen, die vergewaltigt wurden, soll die Abtreibung verwehrt bleiben.
    Nach dem Scheitern seines wichtigsten Gesetzesvorhabens will Argentiniens Präsident Javier Milei nun das Recht auf Abtreibung abschaffen. Seine extrem rechte Partei „La Libertad Avanza“ brachte einen entsprechenden Vorstoß ins Parlament ein, wie die Zeitung „Página 12“ am Donnerstag berichtete. Verboten werden soll demnach auch ein Schwangerschaftsabbruch nach Vergewaltigung, was die Gesetzgebung auf den Stand von 1921 setzen würde. Der neue Entwurf erlaube eine Abtreibung ausschließlich bei akuter Gefahr für das Leben der Mutter. Abtreibungen in den ersten 14 Wochen der Schwangerschaft sind in Argentinien erst seit 2021 legal. (…) Abtreibungen in den ersten 14 Wochen wurden in Argentinien erst Ende 2020 vom Parlament legalisiert, nachdem eine breite Bewegung jahrelang dafür gekämpft hatte. Bei einer gesundheitlichen Gefährdung der Mutter oder nach einer Vergewaltigung kann eine Abtreibung nach derzeit geltendem Recht auch noch später erfolgen. Der Entwurf der Milei-Abgeordneten sieht eine Haftstrafe von ein bis drei Jahren für die betroffenen Frauen vor. Der Richter oder die Richterin kann allerdings je nach Motivation und Umstand des Abbruchs und der anschließenden Haltung der Frau ihrer Tat gegenüber die Strafe aussetzen. Dem Gesundheitspersonal, das die Abtreibung vornimmt, drohen den Berichten zufolge ein bis vier Jahre Gefängnis, beim Tod der Frau sechs Jahre.“ RND-Meldung vom 8. Februar 2024 externer Link
  • Wird die liberale Gesetzesvorlage gegen die legale Abtreibung schneller fallen als das Omnibusgesetz?
    Unter dem Aktenzeichen 5172-D-2023 ist der Gesetzentwurf zur Aufhebung des Gesetzes 27610, das den Zugang zum freiwilligen Schwangerschaftsabbruch seit seiner Verabschiedung im Dezember 2020 regelt, in die Abgeordnetenkammer gelangt. Ein weiterer libertärer Unfug, den wir mit Kampf und Mobilisierung bekämpfen müssen. Wir kamen gerade von der Versammlung der selbsternannten Nachbarn zurück, als die Chats mit der Nachricht explodierten: La Libertad Avanza hat einen Gesetzentwurf zur Aufhebung des Gesetzes über den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch vorgelegt. Mittwoch, 22 Uhr. Nur wenig mehr als einen Tag nach der skandalösen politischen Niederlage der Regierung Milei mit dem Omnibusgesetz in der Abgeordnetenkammer feierten die Nachbarschaftsversammlungen, Gewerkschafts- und Studentengruppen und die linken Parteien auf den Straßen.
    Unter dem Aktenzeichen 5172-D-2023 wurde der Gesetzentwurf zur Aufhebung des Gesetzes 27610, das den Zugang zum freiwilligen Schwangerschaftsabbruch seit seiner Verabschiedung im Dezember 2020 regelt, in die Abgeordnetenkammer eingebracht. In einem Übermaß an patriarchalischem Fundamentalismus schlägt der Gesetzentwurf nicht vor, zur Rechtslage vor 2020 zurückzukehren, sondern direkt zur Gesetzgebung vor dem Strafgesetzbuch von 1921, das bereits die Figur des straffreien Schwangerschaftsabbruchs in Fällen einführte, in denen das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr war oder wenn die Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung war. Diese libertäre Manie, uns auf einen Schlag ein Jahrhundert zurückzubringen!.
    ..“ span. Artikel von Andrea D’Atri vom 8.2.2024 in La Izquierda Diario externer Link (maschinenübersetzt) – siehe zum Hintergrund unser Dossier: Ultrarechter Javier Milei wird neuer Präsident von Argentinien – wenn Bolsonaro und Trump gratulieren…
  • [Film] Der Mann greift an – Femizide im Macholand
    Argentinien ist Macholand. Früher pfiffen Machos den Röcken hinterher und begrabschten die Sekretärin. Ihre Gewalt galt als „normal“, begangen aus „Leidenschaft“. Das ist vorbei, die Gesetzgebung wurde geändert; allerdings verhindern sie nicht den Anstieg der Frauenmorde, im letzten Jahr 329. Heute machen Argentinierinnen Karriere in Politik und Wirtschaft. Gerade wurde die Abtreibung legalisiert. Auf den Straßen wird die neue Erfahrung gefeiert: wenn frau sich organisiert, kann frau etwas verändern. Bisher ging es um geschlechtsspezifische Angelegenheiten. Wird demnächst die soziale Frage auf der Tagesordnung stehen? Lange Zeit war der argentinische Feminismus, importiert aus Europa, ein Thema für die Mittelschicht, das die Männer belächelten. Statt sich an der Hausarbeit zu beteiligen, bezahlten sie eine Putzkraft. Erst als Leute aus den Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen dazukamen, kam Tempo auf. Heute steht die Bewegung am Scheideweg…“ Film von Gaby Weber vom 22.05.2021 bei youtube externer Link
  • „Es ist Gesetz!“ von Alex Wischnewski am 30. Dezember 2020 im Jacobin Magazin externer Link zur Bedeutung dieses Erfolgs und kommenden Auseinandersetzungen unter anderem: „… Die größte Kritik der Aktivistinnen richtet sich auf die eingefügte Gewissensklausel, durch die ärztliches Personal mit Verweis auf persönliche Überzeugungen ablehnen kann, eine Abtreibung durchzuführen. In anderen Ländern hat sich diese Einschränkung als große Hürde zur Umsetzung des formalen Rechts erwiesen. So sind es in Italien rund 70 Prozent aller Ärztinnen, die aus Gewissensgründen Abtreibungen verweigern. Gerade diese Einschränkung wie der persönliche Einsatz des Präsidenten erhöhte letztlich jedoch die Chancen für das Gesetz. 2018 hatte der damalige Präsident Mauricio Macri noch aktiv gegen die Verabschiedung gearbeitet. (…) Der Erfolg der feministischen Bewegung wird vermutlich dafür sorgen, dass auch die Kampagnen der anti-derechos noch einmal stärker und vehementer werden, um über die Gewissensklausel die tatsächliche Umsetzung des errungenen Rechts zu untergraben. Genau deshalb ist dieser Erfolg nicht das Ende der Bewegung. Auch die feministische Bewegung hat ihrerseits angekündigt, sich damit nicht zufrieden zu geben, sondern den historischen Durchbruch als Anstoß für mehr zu nehmen: »queremos cambiarlo todo« – »wir wollen alles verändern«. Dennoch ist das Gesetz ein nicht zu unterschätzender symbolischer Erfolg, der die Anerkennung eines Menschenrechts auch für Frauen bedeutet, die Anerkennung ihres Selbstbestimmungsrechts und ihrer Autonomie. Denn neben der Beschreibung als soziale Frage hat die feministische Bewegung auch nie daran zweifeln lassen, dass es sich bei der Legalisierung von Abtreibung auch um einen zutiefst antipatriarchalen Akt handelt. Mehr noch ist es ein Erfolg, der die Stärke der feministischen Bewegung in Gesetzesform bestätigt. Mit Auswirkungen weit über Argentinien hinaus…“
  • „GRÜNE WELLE SOLL ZUM TSUNAMI WERDEN“ in der Ausgabe 531/532 (September/Oktober 2018) der Lateinamerika Nachrichten externer Link war ein Interview von Bettina Müller mit der Aktivistin Yanina Waldhorn (aus Anlass der damaligen Debatte im Parlament, als der Senat mehrheitlich ablehnte), worin sie unterstrich: „… Die Argumente kommen von jenen, die wir „Anti-Rechte (Anti-Derechos)“ nennen, wobei sie sich selbst als „pro Leben“ bezeichnen. Ihre Kampagne ist eng an die katholische und die evangelikalen Kirchen gebunden, die im Vorfeld der Abstimmung einen großen Einfluss auf die Senator*innen genommen haben. So meinten sie unter anderem, dass eine Frau ihr Kind nach der Geburt zur Adoption freigeben könnte, wenn sie es nicht wollte. Zudem ist das Gesetz laut ihnen verfassungswidrig und Abtreibung Mord. // Wie war und ist die Stimmung jetzt in der Bewegung? // Das Nein der Senator*innen war ein harter Rückschlag nach so vielen Monaten der ständigen Mobilisierung, mehreren Aktivitäten pro Woche, Podiumsdiskussionen, Gesprächskreisen usw., und all das neben der Arbeit, denn das Engagement bei der Kampagne wird nicht bezahlt. Dennoch sind wir sehr stolz auf das Erreichte, denn inzwischen hat sich in der Gesellschaft so etwas wie ein Konsens ausgebreitet, dass Abtreibung nicht länger kriminalisiert werden soll. Es gibt heute keinen Ort in Argentinien, wo nicht über das Thema geredet wird. Unser Symbol, das grüne Tuch, hängt an tausenden von Rucksäcken und Taschen im ganze Land. // Wann kann das Gesetz das nächste Mal zur Abstimmung kommen? // Wir können das Gesetz nächstes Jahr erneut zur Abstimmung vorschlagen. Allerdings ändert sich die Zusammensetzung des Parlaments und des Senates mit den Wahlen im Oktober 2019. Die neu gewählten Volksvertretern übernehmen ihre Posten dann im Dezember, wobei die Arbeit des Parlaments nach den Sommerferien im März 2020 beginnt. Daher stellt sich für uns die Frage, ob es Sinn macht, das Projekt denselben Repräsentanten vorzulegen, die sich bereits dagegen ausgesprochen haben, oder ob es nicht geschickter ist, die neue Zusammensetzung der gesetzgebenden Organe abzuwarten. Das werden wir jetzt als Kampagne diskutieren, allerdings besteht für uns kein Zweifel daran, dass wir das Gesetz erneut vorlegen werden. Bis dahin bleiben wir aktiv und präsent auf der Straße…“
  • „Aborto: una lucha que será ley“ am 04. August 2018 bei argentina.indymedia externer Link war eine Zusammenstellung zahlreicher Berichte, Stellungnahmen und Interviews mit Aktivistinnen zur damaligen parlamentarischen Befassung, die allesamt unterstrichen, dass „wenn nicht jetzt, dann in Zukunft“ – der Kampf auch bei einer aktuellen Niederlage im Parlament keinesfalls beendet sein werde, wie er es auch im Falle der Verabschiedung des Gesetzes nicht sei…

Siehe dazu auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=184407
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