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Arabien - Arabische Welt

10 Jahre Arabischer Frühling: Eine Zeit der Rückblicke – obwohl längst eine neue Welle begonnen hat?

Arabische RevolutionKaum ein Medium hat es in diesen Tagen versäumt, über die zehn Jahre zu publizieren, die inzwischen vergangen sind, seit in Tunesien jene Massenbewegung gegen die Diktaturen Arabiens begann, die allgemein „Arabischer Frühling“ genannt wird. Und der eindeutig mehrheitliche Tenor dabei ist, dass leider davon nicht viel übrig geblieben sei. Mit sehr vielen Geschichten – die ebenfalls leider – zumeist zutreffend sind, über leidvolle Erfahrungen mit anschließender Repression. Aber mit verhältnismäßig sehr wenigen Beiträgen über jene Bewegungen, die längst diesen Frühling fortsetzen, sei es im Sudan, in Algerien, im Irak, im Libanon oder anderswo. Denn es gibt heute nicht nur jene Massenproteste, die es selbst in westlichen Medien in die Schlagzeilen schaffen, sondern überall soziale Bewegungen und Proteste, die gegen die bestehenden Verhältnisse und Machtstrukturen angehen. Darauf haben wir in der Zusammenstellung einiger aktueller Beiträge den Schwerpunkt gelegt…

„Die Knospen des Arabischen Frühlings“ von Claudia Mende am 16. Dezember 2020 bei Qantara.de externer Link unterstreicht Kontinuität und Wandel der andauernden Proteste unter anderem so: „… Heute ist die Enttäuschung gerade bei jungen Menschen groß. „Die meisten meiner Freunde wollen nur noch weg,“ meint auch Rawan Baybars, „das ist wirklich traurig“.  Sie hielten den Zustand der Region für aussichtslos, für ein einziges Desaster. Die Vorstellung eines raschen Wandels sei naiv gewesen. Strukturelle Änderungen benötigten viel mehr Zeit, sagt die Soziologin Rima Majed von der Amerikanischen Universität in Beirut. Man könne den Arabischen Frühling nicht nach ein paar Jahren schon beurteilen. Hundert Jahre habe es gedauert, bis die Ideale der französischen Revolution durchgesetzt waren. Sie wolle daher „nicht von einem Scheitern sprechen.“ Zumal die Proteste in der Region weitergehen, wenn auch teilweise unter dem Radar der westlichen Öffentlichkeit. 2011 war wohl nur der Auftakt für einen langandauernden Umbruch. In 2019 musste in Algerien Langzeitherrscher Bouteflika gehen, im Sudan nach 30 Jahren Herrschaft Omar al Bashir. Dort übernahm eine Übergangsregierung die Macht. In Nordmarokko opponiert die Hirak-Bewegung gegen die Vernachlässigung dieser ländlichen Gebiete. Auch im Irak kommt es immer wieder zu lokalen Protesten gegen Korruption, Arbeitslosigkeit und die schlechte Qualität öffentlicher Dienstleistungen. Genauso im Libanon, wo aufgrund von Schlamperei im Hafen ein Lager mit Ammoniak explodierte. Seitdem hat die politische Elite im Land auch noch den letzten Rest an Glaubwürdigkeit hat. „Die Menschen haben gedacht, der arabische Frühling sei zu Ende,“ meint der palästinensische Wissenschaftler Marwan Muasher von der US-amerikanischen Carnegie-Stiftung. „Doch das stimmt nicht. Wir sehen jetzt eine vielleicht reifere Phase der Protestbewegungen.“ Die Demonstranten hätten aus den Fehlern der ersten Protestwelle gelernt und ihre Forderungen „nach einem Ende der Korruption und nach guter Regierungsführung sind immer noch aktuell“. Das sieht auch die libanesische Soziologin Rima Majed so. Es seien nach den Erfahrungen von 2011 neue Formen von Protest entstanden. „Wenn Menschen nicht auf die Straßen gehen, dann heißt das nicht, dass ihnen die Missstände gleichgültig sind,“ meint die libanesische Soziologin. Der Protest wandelt sich. Das gilt nicht nur für den Libanon. In Marokko etwa haben Aktivisten das Instrument des Verbraucherboykotts entdeckt, um ihren Unmut auszudrücken. In 2018 riefen anonyme Netz-Aktivisten dazu auf, keine Produkte von solchen führenden Geschäftsleuten mehr zu kaufen, wie zum Beispiel Danone Joghurt. Daraufhin brach der Umsatz monatelang ein. Im Sudan saßen die Menschen teilweise wochenlang friedlich auf Straßen und Plätzen und weigerten sich, wegzugehen. Solche Beispiele zeigen, wie sich die Protestbewegungen weiterentwickeln...“

„Tunesien – 10 Jahre seit dem Beginn der Revolution!“ am 17. Dezember 2020 bei der Freiheitsliebe externer Link ist die Übersetzung (von Rosenrot) eines Beitrags von Nick Clarke aus dem Socialist Worker, der die Ereignisse zu Beginn in Tunesien (inklusive auch damals eine Phase der Repression) folgendermaßen bewertet: „… Es begann an der Peripherie, in Gebieten, in denen es fast keine Möglichkeiten gibt, und ging dann auf die Städte und die Hauptstadt über.“ Tatsächlich hatten Demonstrationen gegen Arbeitslosigkeit in der Region Gafsa in Tunesien im Jahr 2008 einen Vorgeschmack auf das gegeben, was nun kommen sollte. Arbeiter in den Phosphatminen der Region waren oft die einzige Einnahmequelle für ihre ganze Familie. Als Arbeitslose demonstrierten, schlugen Bergleute der Phosphatminen sich auf ihre Seite. Es wurde ein kleiner Aufstand, der sich nicht über Gafsa hinaus ausbreitete und schließlich durch massive Unterdrückung niedergeschlagen wurde. Die Proteste von 2010 breiteten sich aus – und richteten sich bald gegen das Regime. Dies lag zum Teil daran, dass die Arbeitslosigkeit so eindeutig mit der Korruption der Regierung verbunden war. Der andere Grund war die Unterdrückung durch den Staat. Die 23-jährige Diktatur von Ben Ali hatte mit Hilfe brutaler Polizeirepressionen dazu beigetragen, Löhne und Arbeitsbedingungen niedrig zu halten. „Alles könnte mit der Diktatur verbunden sein“, sagte Jaouhar. „Die Diktatur hat die Vorteile der Mehrheit bewahrt.…“

„Der nächste Sturm zieht auf​“ von Karim El Gawhary am 16. Dezember 2020 in der taz online externer Link unterstreicht nicht nur die europäische Hilfestellung für das Wiedererstarken der arabischen Diktatoren, sondern verweis auch auf die Kontinuität der – keineswegs selten erst einmal erfolgreichen – Proteste ebenso hin, wie auf ihre andauernden sozialen Ursachen: „… Als Garanten der Stabilität, als Antiterrorkämpfer und als Partner, um Flüchtlinge davon abzuhalten, über das Mittelmeer zu kommen, werden diese Autokraten auch von Europa hofiert. Derweil sind sie es, die keinerlei politischen Spielraum zulassen und deren Gefängnisse Brutstätten der Militanz sind, die Terror schneller schaffen, als sie ihn bekämpfen können. Sie sind es, die mit ihren Konflikten einen guten Teil der Flüchtlinge produzieren. Europa hat nicht verstanden, dass die arabischen Autokraten nicht die Lösung, sondern ein großer Teil des Problems sind. Aber die arabische Pax Autocratica bekommt zunehmend Gegenwind. Das antidemokratische Regieren, die Misswirtschaft und die Korruption werden in vielen Teilen der arabischen Welt infrage gestellt. Repression funktioniert, das haben die Jahre nach der Arabellion bewiesen. Aber sie hat auch ein Ablaufdatum, wenn die drängendsten Probleme vor allem der jüngeren Generation, die immerhin 60 Prozent der arabischen Bevölkerung ausmacht, nicht gelöst sind. Deren völlige Perspektivlosigkeit bedeutet, dass viele kaum ihren Lebensunterhalt sichern, geschweige denn ihren Träumen nachgehen können. (…) Statt des Korans sollte das unselige arabische Dreigespann analysiert werden, das Zusammenspiel von Armut, Ungleichheit und Machtlosigkeit, das Menschen zu stillschweigenden Besiegten, brutalen Terroristen oder verzweifelten Flüchtlingen macht – oder sie, wie in letzter Zeit wieder vermehrt, voller Wut und Leidenschaft mutig auf die Barrikaden steigen lässt: Im Jahr 2019 brachten Massenproteste in Sudan und in Algerien die Diktatoren Omar al-Baschir und Abdelaziz Bouteflika zu Fall, während in Libanon und Irak eine neue Protestwelle begann. In ihrem Arab Multidimensional Poverty Report 2017 hat die Unescwa, eine UN-Organisation, zehn bevölkerungsreiche arabische Länder untersucht, ausgenommen die ölreichen Golfstaaten. Demnach lebt ein Viertel der Bevölkerung in multidimensionaler Armut. Aber die Studie geht noch weiter und stuft weitere 41 Prozent als „verwundbar“ ein. Vier von zehn Menschen in diesen Ländern sind also in Gefahr, in Armut abzustürzen. Eine Familie wird als verwundbar und armutsbedroht charakterisiert, wenn ihr Einkommen gerade einmal die grundlegendsten Dinge des Lebens finanzieren kann und jeder Einschnitt im Einkommen oder jede Erhöhung von Preisen sie in Armut stürzen kann. In Summe bedeutet das, dass zwei Drittel der Bevölkerung entweder in Armut leben oder Gefahr laufen, in diese abzugleiten…“

„Kampf an zwei Fronten“ von Rim Mugahed am 18. Dezember 2020 in der taz online externer Link behandelt am Beispiel des Jemen einen ganz wesentlichen Faktor der arabischen demokratischen Bewegung – die massive Beteiligung der Frauen: „… Für die Revolution war es ein Leichtes, sich von Tunis und Ägypten aus in andere Orte der arabischen Welt auszubreiten. Die Rufe eines Tunesiers, der allein durch die Straßen streifte, seine Arme im Licht der Laternen ausbreitete und seine Freiheit verkündete, wurde zu einem Traum aller, die die Bedeutung dieses verborgenen Rufs erkannt hatten. Millionen sahen die mythischen Bilder junger Männer in Ägypten, die sich in stoischer Ruhe den Panzern in den Weg stellten. Gemeinsam waren wir aufgewacht und wir wussten, was wir taten. Schnell erfasste das revolutionäre Feuer auch die Jugend im Jemen. Zur ersten Sitzblockade kam es in der Stadt Taizz in der Nacht, in der in Ägypten Hosni Mubarak zurücktrat. In allen großen Städten wurden ‚Plätze der Freiheit‘ und ‚Plätze des Wandels‘ eingerichtet. In Sanaa veranstalteten die ersten Demonstrierenden ein Sit-In vor dem Universitätstor, direkt unter einem Denkmal mit der vom Propheten Mohammed überlieferten Aussage „Der Glaube ist jemenitisch, die Weisheit ist jemenitisch“. Es war wie eine Mahnung an die Jemeniten, die doch so stolz darauf sind, besonders sanft und weichherzig zu sein und sich nicht in Gewalt verwickeln zu lassen. Menschliche Gefühle können alles auslöschen, was die Leute zu tun und woran sie zu glauben gewöhnt sind. Für Frauen war die Straße immer der schlimmste Ort gewesen. Sie waren Belästigung, ja offener Gewalt ausgesetzt, wenn sie einer Ansammlung von Männern – oder nur Schuljungen – begegneten. Aber das änderte sich auf den Kilometern, auf denen die Demonstrierenden die Straßen besetzten. Wir durchstreiften die Zeltlandschaft, demonstrierten und forderten lauthals den Sturz des Regimes. Zumindest in den ersten Monaten blieben wir die ganze Zeit dort und hörten nicht ein einziges obszönes Wort; Belästigung gab es nicht. Es herrschte, wenn auch implizit, der Grundsatz, dass wer einen Fuß auf den ‚Platz des Wandels‘ setzt, die Person zu sein hat, die es für die Revolution braucht: ein Mensch mit Respekt für die anderen. Die jemenitischen Frauen traten heraus aus dem Schatten und widerlegten die Annahme, sie seien nichts als unterwürfige Untergebene. Die Frauen, die allen möglichen Formen von Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt waren und die, wie auch heute noch, in den internationalen Rankings zur Geschlechtergleichheit den letzten Rang bekleideten, zeigten unübertroffenen Mut. Frauen haben damals Geschichte geschrieben und sie tun es heute noch. Und ich spreche hier nicht nur von den Anführerinnen unter den Frauen, sondern von all jenen, die zwei Kämpfe auszutragen hatten: den Kampf der Revolution und den Kampf im eigenen Heim…“

 „Unheilvolle Allianz von Klerikern und Staatsmännern“ von Musa Bagrac am 14. Dezember 2020 bei Qantara.de externer Link ist eine Buchbesprechung (Ahmet T. Kuru „Islam, Authoritarianism, and Underdevelopment. A Global and Historical Comparison“) über die politischen Verhältnisse und die Kräfte der Beharrung, worin unter anderem hervor gehoben wird: „… Ahmet T. Kuru, ein türkischstämmiger US-amerikanischer Professor der Politikwissenschaften kommt in seinem Buch, „Islam, Authoritarianism, and Underdevelopment“ zu einem anderen Ergebnis, warum die islamische Welt nach einer atemberaubenden goldenen Zeit im Mittelalter heute das Schlusslicht der Welt bildet, wenn es um Demokratie, wirtschaftlichen Fortschritt, soziale Gerechtigkeit, Bildung und Menschenrechte geht. Kurus These zufolge habe hauptsächlich eine unheilige Allianz von Religionsgelehrten und Staatsmännern den Autoritarismus und die Rückschrittlichkeit der muslimischen Welt zu verantworten. Damit widerspricht Kuru der unter Islamfeinden weitverbreiteten These, der Islam sei schuld an der Misere der islamisch geprägten Länder. Denn dieselbe Religion habe zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert eine Zivilisation ohnegleichen hervorgebracht. In dieser Epoche wurde die islamische Welt zum Zentrum von Aufklärung, Wissenschaft, Forschung, Kunst und Kultur...“

Siehe für Hintergründe im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=183566
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