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Algerien

Grüner wird’s nicht

Exklusiv

Artikel von Bernhard Schmid, Oran, 24.05.2012

„Algerien ist ein seltsames Land, in dem man eine Jahreszeit glatt überspringt“, lästern viele Algerier. Gemeint ist der so genannte Arabische Frühling, den man in dem nordafrikanischen Land gewissermaßen ausgeklammert habe.

Einige Tage nach der Parlamentswahl vom 10. Mai, deren Ergebnisse offiziell am Tag darauf bekannt gegeben wurden – früher musste man darauf oft eine satte Woche warten -, geben manche Algerier sich immer noch erstaunt. In ihren Augen hätte es dieses Mal aber wirklich einen Regierungswechsel geben können.

Parteien, die wie En-Nahdha oder der marokkanische PJD oft als moderat islamistische Kräfte bezeichnet werden, hatten Ende Oktober und Ende November vergangenen Jahres erst die Wahlen in Tunesien und danach jene in Marokko und Ägypten gewonnen. Vergleichbar ausgerichtete politische Kräfte in Algerien erhofften sich davon nun einen „Ansteckungs-“ oder Nachahmungseffekt, und rechneten daraufhin fest mit ihrem eigenen Wahlsieg. Allerdings wurde nichts daraus.

Im Januar dieses Jahres hatte die seit 1999 in allen algerischen Regierungskabinetten vertretene Partei MSP-Hamas, die den Muslimbrüdern in Ägypten nahe steht, überraschend das als Alliance présidentielle bezeichnete Regierungsbündnis verlassen. Allerdings nicht vollständig: Ihre vier Minister blieben alle auch weiterhin in ihren Ämtern. Unter ihnen der Bau- und Infrastrukturminister Amar Ghoul. Ein bartloser Softcore-Islamist, dem besonders oft Beteiligung an den äußerst verbreiteten Korruptionspraktiken nachgesagt wird. Sein Job war in den letzten Jahren ein besonders exponierter, denn öffentliche Bauaufträge im Infrastrukturbereich gab und gibt es zuhauf. Dank eines seit 2007 mehr oder minder hoch stehenden Rohölpreises sitzt die Staatsmacht auf prall gefüllten Geldkoffern und hat derzeit 200 Millionen Dollar Devisenreserven bei der Weltbank liegen. Seine früher erdrückenden Auslandsschulden dagegen hat der algerische Zentralstaat, zum Teil sogar vor der Frist, inzwischen abbezahlt. Der Erdölpreis machte es möglich. Aber mehr noch als die Golfmonarchien, deren einseitige Abhängigkeit von der Ölrente sprichwörtlich ist, bleibt er auf Gedeih und Verderb von diesem Rohstofferlös abhängig. Wehe dem Land an dem Tag, an dem Erdöl- und Erdpreis abstürzen oder die Welt gar zur Nutzung anderer Treib- und Heizstoffe übergehen sollte.

„Die Regierung verteilt zwar hin und wieder Fische, aber Angeln dürfen wir nicht selbst, wir sind total entmündig“, kommentiert dies ein junger Arbeitsloser im westalgerischen Oran. Dort hat die Regierung in den letzten Jahren riesige Neubaukomplexe in der Nähe zwischen dem Flughafen As-Senia und der Altstadt lanciert. Viele halbfertige Hochhausbauten sieht man von der Stadtautobahn aus. Aber wie man als Erwerbsloser dort regelmäßig eine Miete bezahlen solle, fragt sich der junge Mann.

Auch in Luxus wurde eifrig investiert: Dort, wo die Straße von der Ebene hinter der Küste zum Meer hin abzufallen beginnt, wurde etwa ein gigantischer Hotelneubau hingestellt. Eine Übernachtung kostet mindestens 100 Euro, knapp so viel wie ein algerischer Mindestlohn im Monat beträgt, und ein Abendessen kostet umgerechnet 33 Euro. Nordine arbeitet dort als Angestellter. Für ihn handelt es sich um eine Lebensperspektive, während viele seiner Kollegen nebenher studieren und dabei von einem Leben in Europa träumen. „Monatlich verdiene ich hier rund 270 Euro“, erzählt aber, „aber eine Anderthalb- bis Zweizimmerwohnung in der Stadt kostet allein 200 Euro. Da ich keine Familie habe, wohne ich mit meiner Schwester zusammen, die ein Kosmetikunternehmen betreibt. Allein zu wohne wäre mir finanziell unmöglich.“ Nordine geht es aber noch relativ gut dabei, er hat einen Job im Spitzensegment erwischt. Über die Wahlen zu diskutieren, hat er keine Lust. Ebenso wenig wie Mohammed, der Juraprofessor: Auch er versprach sich von vornherein nichts von ihnen. „Nur wenn das ganze System gehen würde, dann könnte sich vielleicht etwas ändern. Manche hoffen darauf. Aber andere haben Angst davor: Wir hatten die 1990er Jahre, den Bürgerkrieg, den Terrorismus. Viele wollen in erster Linie, dass sich das um keinen Preis wiederholt. Wir sind ein Volk, das Veränderungen immer in gewaltsamen Brüchen erlebt hat. Heute fürchten sich viele Menschen davor.“

Darauf baute auch das Regierungslager, das Warnungen vor Chaos mit Versuchen, sich sozialen Frieden zu erkaufen – in vielen Bereichen des öffentlichen Dienstes wurden im Jahr 2011 die Löhne stark erhöht – und Verschwörungswarnungen verknüpft. Algerische regierungsnahe Nationalisten und Repräsentanten der Regierung verteidigten die Regimes in Libyen, unter dem gestürzten Muammar al-Gaddafi, und aktuell in Syrien bis zur letzten Minute. Obwohl diese von ihrer politischen Natur her nicht direkt mit der algerischen Oligarchie vergleichbar waren oder sind, wurde es so dargestellt, als seien die drei Ländern in ähnlicher Weise Opfer von Destabilisierungsversuchen von außen. Nicht zuletzt hängte sich Premierminister Ahmed Ouyahia (RND) aus dem Fenster, um im Zuge dieser Kampagne eine NATO-Bedrohung für Algerien auszumalen.

Eine Mischung aus Traumatisierung durch den Bürgerkrieg zwischen Staatsmacht und radikalen Islamiten (1992-1998), Propaganda und Geldausschütten durch die Staatsmacht tat anscheinend ihre Wirkung. Die langjährige Einheitspartei – seit der Unabhängigkeit1962 bis zur Revolte und der erzwungenen Demokratisierung in der kurzen Periode1988/89 -, der FLN oder die „Nationale Befreiungsfront“, gewann allein 220 von insgesamt 462 Sitzen im algerischen Parlament. So viele Sitze hatte die Partei seit der Einführung des Mehrparteiensystems 1989 nie mehr alleine erzielt. Eine Abspaltung vom FLN, der 1997/98 zur Unterstützung der damaligen Armeeregierung aufgebaute RND (Nationale demokratische Sammlung), erlangte weitere 68 Mandate.

Islamisten landen nur auf dem dritten Platz

Die Islamisten wurden nur Dritte. Drei Parteien, die führende unter ihnen war die bisher mitregierende MPS-Hamas, hatten sich zur „Grünen Allianz“ zusammengeschlossen. Vollmundig hatten ihre Vertreter verkündet, bereits ihre Regierung zusammengestellt zu haben. Daraus wird nun nichts, ihre Vereinigung erhielt insgesamt 48 Sitze. Lediglich in der Hauptstadt Algier, wo eine eigene politische Dynamik herrscht, lag die „Grüne Allianz“ dennoch vor den anderen Parteien. Ausschließlich dort glich ihr Abschneiden einem Erfolg.

Einige ihrer Repräsentanten geben sich zerknirscht. Andere sprechen schon mal von angeblichem Wahlbetrug. Offener prangert ihn noch der FJD – die „Front für Gerechtigkeit und Entwicklung“ – an. Es handelt sich um eine weitere islamistische Partei unter Abdallah Djaballah, einem Prediger, der schon mehrere Parteien gründete wie En-Nahdha (Wiedergeburt) und Al-Islah (Die Reform). Aus beiden Parteien flog er hinaus, beide Formationen hatten sich der „Grünen Allianz“ ausgeschlossen. Seine neue Organisation, der FJD, erhielt bei dieser Wahl 7 Sitze.

Djaballah, der sich nicht so gut wie seine ehemaligen Weggefährten ins Establishment einzupassen vermochte, sprach vergangene Woche von Wahlmanipulation und davon, dass nun nur eine „tunesische Lösung“ – also Revolution – übrig bleibe, was im Munde des sittenkonservativen Ideologen allerdings merkwürdig klingt.

Dass Wahlbetrug für die Ergebnisse verantwortlich sei, ist jedoch unwahrscheinlich. Dass die Wahlbeobachter aus der EU erklärten, die Urnengänge seien weitgehend reibungslos (und die USA ihnen Transparenz bescheinigten), ohne Zwischenfälle und transparent verlaufen, mag noch nicht unbedingt eine sichere Garantie dafür sein – die Europäische Union segnete etwa in mit Frankreich „befreundeten“ afrikanischen Diktaturen auch schon sehr zweifelhafte Wahlen ab. Tatsächlich deutet aber nichts darauf hin, dass massiver Wahlbetrug die Gesamttendenz der Ergebnisse verzerrt hätte. Daran hatte auch das Regime dieses Mal ein geringes Interesse: Eine stärkere Rolle legalistisch ausgerichteter islamistischer Parteien wäre ihm vielleicht sogar entgegen gekommen, um gesellschaftlichen Unmut besser zu kanalisieren. In seiner Ansprache, die Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika am 08. Mai 2012 zum Jahrestag des französischen Kolonialmassakers vom 08.05. 1945 in Sétif hielt, betonte der seit 1999 amtierende Staatschef mehrfach, es sei in der Politik Zeit für eine „Ablösung“ durch eine „neue Generation“. Dabei wich er wiederholt von seinem schriftlichen Redemanuskript ab. Der selbst aus dem FLN kommende Präsident scheint es ernst damit zu meinen, dass das Regime sich bis zu einem gewissen Grad politisch öffnen müsste, statt die alte Garde immer wieder zu bestätigen. Auch um seines eigenen politischen Überlebens willen.

Am Rande mag es auch Manipulationen gegeben haben, den Ausgang der Wahl insgesamt erklären sie aber auf keinen Fall. Wahr ist vielmehr, dass ihr langjähriges Mitregieren die zur Wahl angetretenen islamistischen Formationen selbst diskreditiert hat: Außer Sprüchen über „Moralisierung“ haben sie den Algeriern im Alltagsleben schlichtweg nichts gebracht. Jene, die wählen gehen, ziehen da lieber gleich die Hauptfraktionen des Establishments vor, die haben wenigstens vielleicht etwas zu Verteilen anzubieten. Und ferner taten die Parteien des Establishments – insbesondere der FLN – das Ihre, um den islamistischen Parteien das Wasser abzugraben, indem man einen Teil ihres Diskurses übernahm. Auf dem Listenplatz 4 beim FLN in der Hauptstadt Algier kandidierte Asma Benkada, eine Ex-Ehefrau des in Qatar lebenden und aus Ägypten stammenden berüchtigten islamisch-reaktionären Predigers Yussuf Al-Qaradawi.

Allerdings ist ein Teil derer, die in den frühen neunziger Jahren für die radikalen Islamisten der „Islamischen Rettungspartei“ (FIS) stimmten, wohl gar nicht wählen gegangen. Der FIS ließ sich nicht in das Regierungsgeschäft einbinden: Sein Chefideologe Ali Belhadj war ein Salafist, auch wenn es diese Bezeichnung zur Abgrenzung von anderen islamistischen Richtungen vor 20 Jahren noch nicht gegeben hat und die verschiedenen Unterströmungen des politischen Islam sich damals noch nicht aufgetrennt hatten. Belhadj zählt heute offen zu dieser Strömung. Der harte Kern seiner Anhänger, die es nach wie vor gibt, ging ebenso wenig wählen wie viele Bürger, die aus anderen Gründen den Urnen fern blieben – insgesamt gaben nach offiziellen Zahlen 57,1 Prozent nicht ihre Stimme ab. Andere waren gar nicht erst in die Wählerlisten eingetragen.

Das Mehrheitswahlrecht in Algerien, das die Besonderheit aufweist, dass die Stimmen kleinerer Parteien ohne Sitze der jeweils stärksten Kraft rechnerisch zugeschlagen werden, kam dem FLN stark zugute. Doch die führende Partei sollte ihren Rückhalt auch wieder nicht überschätzen: Das nordafrikanische Land hat 35 Millionen Einwohner, von ihnen insgesamt 21 Millionen im wahlfähigen Alter. Unter ihnen stimmten alles in allem 1,3 Millionen für den FLN und 520.000 für den RND.

Zusammenschluss der unabhängigen Gewerkschaften

Viele Menschen erhoffen sich von Wahlen und Politik überhaupt nichts. Andere suchen Lösungen eher anderswo: in allgegenwärtigen, aber örtlich begrenzten Riots etwa oder in sozialen Bewegungen. Die „autonomen Gewerkschaften“, jene also, die außerhalb des offiziellen und seit der Unabhängigkeit 1962 staatsnahen Dachverbands UGTA stehen, schlossen sich soeben zu einem eigenen Gewerkschaftsdachverband zusammen. Seit nunmehr drei Wochen sind Justizbedienstete im Hungerstreik für ihre Beschäftigtenrechte. Es gibt in Algerien nicht nur die Wahl zwischen FLN und Islamisten mit oder ohne Bart. Kurz vor dem fünfzigsten Jahrestag der Unabhängigkeit, der am 5. Juli dieses Jahres begangen wird, gibt es andere Quellen der Inspiration.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=6561
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