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Auch in der 20. Protestwoche werden enorme Menschenmengen auf den Straßen Algeriens sein – die Opposition zum Militärregime formuliert Ziele. Und verzeichnet Erfolge trotz Repression
Am 5. Juli ist Jahrestag in Algerien: 1962 wurde das Land unabhängig, nach einem enormen und extrem harten Kampf gegen die Kolonialmacht Frankreich. Und am selben Tag – eben wieder ein Freitag – wird es die 20. Freitagsdemonstrationen geben, wöchentliche Massendemonstrationen, die zusammen mit den Dienstagsprotesten der Studierenden der Kern der Bewegung sind. Eine Bewegung, die auch mit zunehmender Repression (Polizeiangriffe, Verhaftungen, Verfolgung insbesondere von Amazigh-Emblemen und Drohungen des Oberkommandos) nicht unterdrückt werden kann, sondern zunehmend versucht – und dabei Fortschritte macht – zusammen zu kommen und gemeinsame Ziele zu formulieren. Die Aussetzung der geplanten Wahlfarce, eine Reihe von Rücktritten – bis in die staatstragenden Gewerkschaften hinein beispielsweise – und Festnahmen wegen Verdacht auf Korruption sind ebenso Zugeständnisse an diese Bewegung, wie die diversen Veränderungen, die etwa in den Gewerkschaftsgesetzen gemacht wurden. Eine wachsende Zahl von Organisationen hat sich, speziell im Verlauf des Juni 2019, mehrfach getroffen, um eine bessere Zusammenarbeit mit politisch gemeinsam formulierten Zielen zu finden – gegen das Regime, dessen „Dialog“-Angebote zu Recht als Selbstverteidigung bewertet werden. Siehe zur Entwicklung in Algerien die aktuelle Materialsammlung „Das algerische Regime zwischen Zugeständnissen und Repression – die Demokratiebewegung antwortet mit wachsendem Zusammenschluss“ vom 05. Juli 2019:
„Für eine andere Politik“ von Ina Sembdner am 05. Juli 2019 in der jungen welt fasst die aktuellen Geschehnisse so zusammen: „… Die Bewegung hat bisher erreicht, dass politische Akteure ihren Posten räumen mussten und die Justiz vermehrt gegen frühere Minister und Weggefährten Bouteflikas vorgeht. Zuletzt war am Dienstag Parlamentspräsident Mouad Bouchareb zurückgetreten. Wie aus den Berichten algerischer Aktivisten am selben Tag im Berliner »Centre Marc Bloch« hervorging, streben die Algerier aber nach einer radikal anderen Form politischen Ausdrucks. Sie lehnen demnach das gesamte politische System und jede Form der Repräsentation ab. Statt dessen versuchen sie, an ihre ursprüngliche revolutionäre Identität anzuknüpfen. In den vergangenen Monaten seien zahlreiche Initiativen entstanden, die sich auf öffentlichen Versammlungen gebildet und ausgetauscht hätten. Auch Gewerkschaften, Parteien und Verbände, die zunächst nicht zur Bewegung gehört hätten, würden sich nun an dem Entwurf einer neuen politischen Kultur beteiligen. Am 26. Juni hatten sich die »Demokratischen Kräfte« in Algier versammelt, um ihren »Pakt für einen echten demokratischen Übergang« vorzustellen. Unterzeichnet von verschiedenen Parteien, Gewerkschaften und Vertretern verschiedener aktivistischer Gruppen, heißt es unter anderem, dass eine Präsidentschaftswahl, wie sie von Übergangspräsident Abdelkader Bensalah und Militärchef Ahmed Gaïd Salah forciert wird, »nur dazu dienen wird, das derzeitige System zu erneuern«. Die wahre Macht würde »vollständig vom Armeestab übernommen und ausgeübt«. Die Regierung sehe »angesichts dieser beeindruckenden Demonstration popularer Kräfte« ihre einzige Hoffnung in einer Ausweitung der Repression, um jede »politische Alternative für einen radikalen demokratischen Wandel zu verhindern«. Als Beweis wird »das Verbot des Zeigens des Amazigh-Emblems bei Demonstrationen und die Verurteilung für politisches Handeln« angeführt…“
„Aktivisten fordern einen Platz am runden Tisch“ von Nourredine Bessadi am 01. Juli 2019 bei qantara.de betrachtet sozusagen die „Niederungen des Alltags“ dieser Bewegung, vor allem, was auftretende Organisationen wirklich darstellen, unter anderem so: „… Was die Bürger- und Minderheitenrechte angeht, denkt Aomar, die Zivilgesellschaft könne „ein Katalysator für Reformen sein, da in den bürgerlichen Organisationen gesellschaftliche Themen offener diskutiert werden können. Zu diesen Themen gehören auch die individuellen und gesellschaftlichen Freiheiten, die Rechte der Frauen und die Rechte der religiösen Minderheiten in Algerien.“ In der Tat muss die Zivilgesellschaft diese Krise nutzen, um ihren Einfluss auf das politische Territorium zu vergrößern. Nach einer extrem langen Phase der Marginalisierung sollte sie sich nun als wichtiger politischer Akteur etablieren. Diese Idee, die gesamte algerische Zivilgesellschaft solle jetzt das Recht beanspruchen, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, ist relativ neu. Laut Hanane, einer Aktivistin für Frauenrechte, müssen „alle von der Zivilgesellschaft organisierten Debattenplätze von progressiven Stimmen besetzt werden, um die verschiedenen Orientierungen zu beeinflussen und die Rechte der Frauen in Algerien nach vorn zu bringen.“ Sie gibt zu, dass diese Aufgabe nicht einfach ist, da bei den entsprechenden Treffen auch viele konservative islamische Gruppen teilnehmen. Aber sie ist überzeugt von der „entscheidenden Rolle, die die Zivilgesellschaft jetzt als führender Akteur auf der politischen Bühne spielen kann.“ Viele Beobachter sind der Ansicht, die Zukunft Algerien sei dadurch bestimmt, dass die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle als Vermittler erhält. Sie müsse an den Debatten über gesellschaftliche Themen teilnehmen und als Gegengewicht dienen, um die politische Szene zu beeinflussen. Und dies ist immerhin etwas, das es seit der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 kaum gegeben hat…“
„Algérie: appels à des manifestations massives vendredi“ am 03. Juli 2019 bei Assawra ist die Meldung über die Aufrufe an diesem 05. Juli 2019 besonders massiv auf die Straße zu gehen, sowohl wegen des Jahrestages der Unabhängigkeit, als auch, weil danach – am 09. Juli – offiziell die „Übergangsphase“ nach dem Rücktritt Bouteflikas endet, was möglichweise neue Spielräume für die Konterrevolution schaffe.
„19e vendredi de protestation à Alger: Mobilisation intacte malgré un quadrillage policier important“ von Abdelghani Aichoun am 29. Juni 2019 bei El Watan war ein Bericht über die 19. Freitagsdemonstrationen am Tage zuvor, der unterstreicht, dass trotz der diesmal deutlich massiveren Mobilisierung der Polizei auch die Mobilisierung der Demonstrationen eher weiter zugenommen habe.
„Algérie: PACTE POLITIQUE POUR UNE VERITABLE TRANSITION DEMOCRATIQUE“ am 28. Juni 2019 bei Afriques en Lutte dokumentiert, ist eine gemeinsame Erklärung, und Aufruf, von sieben politischen Parteien, linken und bürgerlich-demokratischen, die im Prinzip einen kleinen Katalog grundlegender bürgerlicher Freiheiten erstellen, wie Gleichheit der Menschen, Versammlungs-, Meinungs- und Organisationsfreiheiten und sozialstaatliche Maßnahmen.
„Algérie: Nous nous voulons pas le consensus,…“ von Kamel AÏSSAT am 19. Juni 2019 bei Europe Solidaire dokumentiert, ist ein Beitrag über die erste der drei Konferenzen im Juni 2019, die vier Tage zuvor stattgefunden hatte. Darin werden von der Aktivisten der PST vor allem zwei Strömungen innerhalb dieser Gruppierungen hervor gehoben – eine, die prinzipiell durchaus an einer Präsidentschaftswahl mit einem Einheitskandidaten teilnehmen würde und eine andere, die eine Verfassungsgebende Versammlung gegen das herrschende Regime will. Wobei der Autor zur zweiten Strömung gehört – und auch die Frage aufwirft, welche Organisationen wirklich lebendige Gruppierungen seien.
„Les dangers de l’impasse politique“ von Hacen Ouali am 30. Juni 2019 bei El Watan ist ein Beitrag, der die Gefahren des aktuellen Stillstandes in dem Machtkampf zwischen Regime und Opposition behandelt. Während die gegenseitigen Forderungen und Absichtserklärungen sich immer deutlicher auf Konfrontationskurs bewegten, werde auf die Opposition von verschiedenen Seiten aus Druck ausgeübt, sich mit dem System zu arrangieren. Die zunehmende Mobilisierung von Repressionskräften habe bisher nichts genutzt – und am 09. Juli verliere das Regime seine offizielle Legitimität, weil die Frist, die die Verfassung nach einem Präsidentenrücktritt setze, abgelaufen sei.
„Marche pour la libération des détenus d’opinion„ von Tighilt Kouceila am 04. Juli 2019 bei Liberté Algérie steht hier als Beispiel zahlreicher Berichte von lokalen Protestdemonstrationen quer durchs Land – hier eben aus der Amazigh-Region – die die Freilassung festgenommener Aktivisten der Demokratiebewegung fordern.
„Algérie: le président par intérim appelle à un dialogue sans l’État ni l’armée“ am 04. Juli 2019 bei RFI ist eine Meldung über die Fernsehansprache des Interims-Präsidenten Bensalah am Vortag, worin dieser zu einem nationalen Dialog aufgerufen hatte, an dem sich weder Staat noch Armee beteiligen sollen, der unter der Leitung allseits respektierter Personen ohne eigene Ambitionen stattfinden solle. Ob dies wirklich ein entscheidendes Zugeständnis sei, wird sofort intensiv debattiert – und auch, für welche Teile des Regimes er damit spreche.
„Algérie: Le président par intérim n’a pas convaincu la société civile“ am 04. Juli 2019 bei AllAfrica dokumentiert, berichtet von den Reaktionen auf die Erklärungen des Interimspräsidenten: Nicht überzeugt sei die Opposition. Was vor allem an der entsprechenden Stellungnahme der algerischen Menschenrechtsliga (die sich dem erwähnten Zusammenschluss von sieben Parteien, wie andere Gruppierungen auch, ebenfalls angeschlossen hat).
„Vers la révision de la loi relative à l’exercice du droit syndical„ am 27. Juni 2019 bei der Agentur APS ist eine Meldung über eine Erklärung des Arbeitsministeriums zur Reform des Gewerkschaftsgesetzes, die gegenüber Gewerkschaftsvertretern gegeben worden war. Es werde in dem bald ausgearbeiteten neuen Gesetz das allgemeine Recht von Gewerkschaften festgeschrieben, nach eigenem Wunsch Föderationen zu bilden. Was bisher zwar nicht völlig verboten war, aber, vorsichtig ausgedrückt, sehr „restriktiv“ gehandhabt worden war, um einen entscheidenden Stützpfeiler des Regimes, den Gewerkschaftsbund UGTA, gegen die wachsenden unabhängigen Gewerkschaften zu verteidigen. Diese Erklärung ist ein Zugeständnis an die unabhängige Gewerkschaftsbewegung – vermutlich gemacht in der Hoffnung, diese Gewerkschaften damit zufrieden stellen zu können.
„Algérie: 121 organisations syndicales enregistrées au ministère du travail“ am 28. Juni 2019 bei AllAfrica behandelt ausführlicher die auch im obigen Beitrag angegebenen Zahlen zu Gewerkschaften – wobei damit auch Unternehmerverbände gemeint sind. Beschäftigten-Gewerkschaften sind inzwischen beim Arbeitsministerium 78 offiziell registriert, eine deutliche Zunahme auch im Laufe des letzten Jahres. Dabei wird auch gemeldet, dass das Ministerium verkündet habe, Algerien werde die „zentralen Normen“ internationaler Rechte unterzeichnen, womit entsprechende ILO-Konventionen gemeint sind.
„Intervention de Mr Kaddour CHOUICHA devant l’OIT à GENEVE“ am 20. Juni 2019 bei den Journalistes Citoeyens Algérie berichtet von der Rede des Vertreters des unabhängigen Gewerkschaftsbundes CGATA bei der ILO-Tagung in Genf. Darin unterstreicht der Vertreter der – bisher offiziell nicht registrierten – Einzelgewerkschaft SESS, dass die Versprechungen des Regimes, eine progressive Veränderung in der Gewerkschafts- und Arbeitsgesetzgebung Algeriens zu wollen, bereits vor 18 Jahren das erste Mal gemacht worden seien und seitdem mehrfach in – kleineren – Krisenzeiten wiederholt, ohne dass eine wesentliche Veränderung stattgefunden habe, was beweise, dass der Gewerkschaftsbund völlig zu Recht keinerlei Vertrauen in irgendwelche Zusagen des Regimes habe. Dass die bisherige Gewerkschaftspolitik dieses Regimes zusammen gebrochen sei, zeige sich auch an der Tatsache, dass erstmals kein Vertreter der UGTA an dieser Versammlung der ILO teilnehme: Die staatstragende Föderation sei nicht mehr in der Lage, die Bestrebungen ihrer eigenen Mitgliedschaft, den Verband wieder in die Hände von GewerkschafterInnen zu nehmen, einzudämmen, auch die Ersetzung des Vorstandes habe dies nicht bewirkt, und auch weitere Versprechungen des Regimes könnten die Bestrebungen aller wirklichen GewerkschafterInnen, zusammen zu arbeiten nicht unterbinden.
„A Mme la Directrice du département des normes internationales du travail“ vom 25. Mai 2019 ist der Offene Brief des unabhängigen Gewerkschaftsbundes CGATA an die Delegation der ILO, die in jenen Maitagen Algerien besuchte. (Der gesamte – französische – Brief liegt LabourNet Germany vor). Darin wird dieser Besuch „in dieser einmaligen Krisensituation des Regimes“ kritisiert und gefordert, ihn abzusagen. In dieser Situation, da 20 Millionen Menschen das Ende der Diktatur forderten, „normale Zusammenarbeit“ zu betreiben, sei nichts anderes, als dieses Regime zu unterstützen, wie das auch bisher praktiziert worden sei. In dem Brief wird an die ILO-Versammlung im Juni 2018 erinnert, bei der sowohl der – inzwischen wegen Korruptionsanklagen im Gefängnis sitzende – Vorsitzende des Unternehmerverbandes Algeriens, als auch der – inzwischen auf Betreiben der Mitglieder abgesetzte und mit einem Ausreiseverbot versehene – Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes UGTA mit massiver Hetze eine Teilnahme alternativer Gewerkschaften aus Algerien verhindert haben, ohne dass von Seiten der ILO den Betroffenen Gelegenheit gegeben worden sei, in irgendeiner Weise zu antworten.
- Zu den Protesten in Algerien zuletzt: „Die Massenproteste in Algerien gehen ungebrochen weiter: Das Regime reagiert mit Verhaftungen – und weiteren Bauernopfern, die jetzt auch die Gewerkschaften erreichen…“ am 24. Juni 2019 im LabourNet Germany (worin auch die im letzten Beitrag angesprochenen Zustände im Gewerkschaftsbund UGTA Thema sind)