»
Algerien »
»

Das Militärregime Algeriens versucht die Epidemie maximal auszunutzen: Mit einer Repressionswelle

Eine Demonstration in Algier am 26.2.2019 - nicht nur an den Freitagen wird gegen das "5. Mandat" für Bouteflika protestiert...„… Der Versuch, auf die Straße zu gehen, fand erneut vor allem in der Kabylei statt, endete jedoch laut Angaben der Algerischen Ligazur Verteidigung der Menschenrechte (LADDH) für über 500 Menschen mit ihrer Festnahme. Auch dies bildet einen traurigen Rekord im Vergleich zu den zurückliegenden Monaten. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty international reichte am 25. Juni 20 deswegen eine zehnseitige Protestnote bei den algerischen Behörden ein. Die meisten der Betreffenden kamen inzwischen wieder frei, teilweise unter Androhung späterer Strafverfolgung, doch ein Dutzend von ihnen blieben in Untersuchungshaft...“ – aus dem Beitrag „Pleite und aggressiv“ von Bernard Schmid – ein Artikel über die jüngsten Vorgänge in Algerien, dessen gekürzte Fassung am Donnerstag, den 02. Juli 2020 in der Berliner Wochenzeitung Jungle World erschienen ist und den wir hiermit in Langfassung dokumentieren:

„Pleite und aggressiv“

(Von Bernard Schmid, wir danken!)

Theoretisch schätzt das „neuartige Coronavirus“ (SARS Cov-2) die Wärme nicht. In der Praxis verzeichnet allerdings Algerien derzeit einen erheblichen Wiederanstieg der Fallzahlen insbesondere im Süden und Osten seines Staatsgebiets. Wenn es irgendwo auf der Welt ziemlich warm ist, dann in Südalgerien zu Beginn des Sommers auf der Nordhalbkugel. Dies bereitet der Regierung zwar einerseits Kopfzerbrechen, kommt ihr andererseits aber im Hinblick auf den Umgang mit gesellschaftlichen Protesten auch wiederum gelegen.

Am vorigen Sonntag, den 28. Juni 20 meldeteder Sprecher des „wissenschaftlichen Komitees zur Verfolgung der Coronavirus-Pandemie“, Djamal Fourar, einen Tagesrekord von 305 registrierten neuen Infektionsfällen. (Vgl. bspw. https://www.dzairdaily.com/coronavirus-en-algerie-les-raisons-de-la-hausse-de-la-contamination /externer Link ) Das ist die höchste Zahl seit dem 25. Februar, dem Tag, an dem der erste Fall einer Infektion mit SARS Cov-2 in Algerien vermeldet wurde; es handelte es sich um einen italienischen Staatsbürger, der am 17. Februar in das südliche Nachbarland eingereist war. Die Gesamtbilanz lag damit am Sonntag laut staatlichen Stellen bei 897 Toten im Land – die Sterbebilanz liegt in allen Staaten des afrikanischen Kontinents bislang erheblich unterhalb derer in Europa, Nord- und Lateinamerika – und 13.273 Infizierten. Am selben Tag verzeichnete die interaktive Karte der französisch-afrikanischen Wochenzeitschrift JeuneAfrique für Algerien noch 12.445 Infektionsfälle und gab an, die Zahl befinde sich auf dem Stand vom vorigen Freitag. Dies deutet darauf hin, dass es in jüngster Zeit zu einer erheblichen Beschleunigung gekommen ist, der nicht alle Statistiken zeitnahe folgen.

Gesundheitsminister ’Abderrahmane Benbouzid kündigte unterdessen in der Tageszeitung El Watan an, gingen die Dinge so weiter, sei an die erneute Verhängung teilweiser, ja vollständiger Ausgangssperren in mehreren wilayat (arabisch: Verwaltungsbezirken, oder im französierten Plural mitunter auch wilayas) des Landes zu denken. (Vgl. https://www.dzairdaily.com/coronavirus-algerie-confinement-total-dans-certaines-wilayas-possible/ externer Link ) und (https://www.dzairdaily.com/algerie-berkani-predit-confinement-certaines-wilayas-28-juin-2020/ externer Link) Diese sind derzeit aufgehoben, doch bleiben die Moscheen in Algerien seit März dieses Jahres geschlossen, und seit dem 18. Mai 20 besteht eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit. Dieser Beschluss diente damals der Vorbereitung des muslimischen „Zuckerfests“ oder Opferfests (oder ‘Aïd al-Adha), mit dem das Ende des Fastenmonats Ramadhan begangen wird und das nach Entscheidung der örtlichen Religionsbehörden in Algerien am 23., in Frankreich am 24. Mai dieses Jahres begangen wurde. Bis zum Ende des Ramadhan hielt sich die Gesellschaft weitgehend an die sanitären Auflagen, und während des Fastenmonats hielt sie diesbezüglich generell eine gewisse Disziplin ein. Seit dessen Ende kommt es jedoch zu einer faktischen allgemeinen Lockerung im Umgang mit dem Infektionsrisiko. Eine Entscheidung über eine eventuelle Öffnung der Landesgrenzen, die seit dem 17. März 20 geschlossen sind, und eine Wiederaufnahme des Luftverkehrs wurde zunächst auf diesen Freitag, den 03. Julid.J.vertagt (mittlerweile erfolgte eine Ablehnungsbeschluss). Das benachbarte Tunesien lässt derzeit anders als Algerien und Marokko bereits wieder internationale Touristen ins Land – wobei es in Algerien ohnehin quasi nur Binnentourismus gibt, doch durch Migration, familiäre Bindungen und Studierende im Ausland sowie Geschäftsleute besteht dennoch ein Bedarf an grenzüberschreitender Mobilität. Im Frühjahr 20 hatte der Coronavirus-Alarm für die Behörden in Algerien den praktischen Nebeneffekt, dass er zu einer vorläufigen Einstellung der Massenproteste führte, die im Februar 2019 begonnen hatten und im April desselben Jahres den seit genau zwanzig Jahren amtierenden Staatspräsidenten ’Abdel’aziz Boutefliqa (Bouteflika) zum Rückzug zwangen. Der von dessen Umgebung unternommene Versuch, den schwerkranken und faktisch amtsunfähigen 83jährigen für eine fünfte Amtszeit im Präsidentenpalast im Stadtteil El-Mouradia kandidieren zu lassen, bildete den sprichwörtlichen Tropfen, der alle Fässer zum Überlaufen brachte. Noch bevor das Regime, dem seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl vom 12. Dezember 19 der neue – mit 74 Jahren knackjunge – Staatschef ‘Abdelmadjid Tebboune vorsteht, ein Versammlungsverbot verhängt, hatte die Protestbewegung im März 2020 bereits ihrerseits auf Demonstrationen verzichtet.

Diese sollten offiziell am 19. Juni d.J. wieder losgehen. (Vgl. auch https://algeriepartplus.com/algerie-vers-le-retour-du-hirak-a-partir-du-19-juin-prochain/ externer Link). Zuvor kam es bereits während des Ramadhan zu sporadischen, vor allem nächtlichen, nach dem Fastenbrechen einsetzenden Demonstrationen, besonders in der Berberregion Kabylei. Zu einem offiziellen landesweiten Neubeginnrief nun der Hirak, wie der Massenprotest allgemein bezeichnet wird – eine Dialektform vom schriftarabischen Ausdruck al-harakat, „die Bewegung“ – über die neuen sozialen Medien und mehrere Privatzeitungen des Landes auf. In Algerien existiert eine echte Pressevielfalt; und auch wenn die meisten Verlagshäuser im Besitz von nicht unbedingt vertrauenswürdigen Mitgliedern der oligarchischen Oberschicht liegen, sorgen doch die Konflikte etwa zwischen Privatbourgeoisie und staatsbürokratisch-militärischer Führungsschicht dafür, dass regierungskritische Stimmen ausführlich zu Wort kommen.

Der Versuch, auf die Straße zu gehen, fand erneut vor allem in der Kabylei statt, endete jedoch laut Angaben der Algerischen Ligazur Verteidigung der Menschenrechte (LADDH) für über 500 Menschen mit ihrer Festnahme. Auch dies bildet einen traurigen Rekordim Vergleich zu den zurückliegenden Monaten. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty international reichte am 25. Juni 20 deswegen eine zehnseitige Protestnote bei den algerischen Behörden ein. Die meisten der Betreffenden kamen inzwischen wieder frei, teilweise unter Androhung späterer Strafverfolgung, doch ein Dutzend von ihnen blieben in Untersuchungshaft.

Zu Anfang Juni dieses Jahres hatte das „Landesweite Komitee für die Freilassung der Gefangenen“ (CNLD), eine im Zusammenhang mit dem Hirak entstandene Anti-Repressions-Struktur, von sechzig hinter Gittern sitzenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Proteste gesprochen. Die Mehrzahl von ihnen sitzen wegen bei Veröffentlichungen bei Facebook ein.In jüngster Zeit wurde diese Zahl auf siebzig hochkorrigiert.

Am 02. Juni 20 wurde die Begnadigung von zwei Protagonisten des Hirak und langjährigen Oppositionellen, Karim Tabbou und Samir Benlarbi, angekündigt. (Am 02. Juli d.J., genau einen Monat später, kamen sie aus der Haft frei.) Diese präsidiale Gnade war zwischen Staatsoberhaupt Tebboune und dem Vorsitzenden der sich etwas opportunistisch an die Proteste anschmiegenden Oppositionspartei Jil Jalid („Neue Generation“), Soufiane Djilali, ausgehandelt worden. Es sollte als beruhigende Geste seitens der Staatsmacht wirken. Kurz zuvor hatte Tebboune im Mai dieses Jahres einen Entwurf für eine neue Verfassung bekannt gegeben, nachdem das Regime unter dem Eindruck der Massenproteste eine Abschaffung der alten konzediert hatte, und an Oppositionsparteien sowie Gewerkschaften und „zivilgesellschaftliche Vereinigungen“ (welche in einem Protestbündnis zusammengeschlossen sind) übermittelt. 

Auch Amnesty international nimmt dazu in dem Schreiben vom 25. Juni d.J. Stellung und konstatiert zwar einige punktuelle Fortschritte gegenüber der vorherigen Verfassung, etwa in punkto Frauenrechte, jedoch „das Fehlen jeglichen verbindlichen Reformkalenders“ und eklatante Mängel besonders bei den Themen Versammlungs- und Äußerungsfreiheit. Erst am 22. April dieses Jahres war im Windschatten der Corona-Krise und kurz vor Beginn des Ramadhan ein neuer, mit drei Jahren Haft bedrohter Straftatbestand der „Verbreitung falscher Nachrichten“ eingeführt worden.

Nach der scheinbaren Lockerung, politische Gefangene betreffend, vom Anfang des Monats verbreitete sich jedoch am 13. Juni 20 die Nachricht von der Inhaftierung dreier neuer Hirak-Mitglieder in der Berbermetropole Béjaïa. Es handelt sich um MerzougTouati, Yanis Adjila und Amar Beri. Sie sollten unter anderem wegen Aufrufs zu unerlaubten Versammlungen und Aufstachelung in Form „gegen die nationale Einheit gerichteter Schriften“ – dieser Vorwurf trifft regelmäßig Veröffentlichungen zur Berberfrage – in einem Eilverfahren bereits am selben Tag verurteilt werden. Ihr Prozess wurde dann jedoch auf Mittwoch dieser Woche, den 1. Juli d.J. verschoben.

Verurteilt wurde am vorletzten Sonntag, den 21. Juni 20 – in Algerien fällt das Wochenende auf Freitag und Samstag –die prominente langjährige Oppositionelle und Gynäkologin Amira Bouraoui. Die 44jährige muss eine einjährige Haftstrafe antreten, nachdem sie in einem Eilverfahren in sechs Anklagepunkten für schuldig befunden wurde, darunter Präsidentenbeleidigung, Verunglimpfung der Staatsreligion des Islam, „Angriff auf die nationale Einheit“ und der neue Straftatbestand der „Verbreitung falscher Nachrichten“. (Am 02. Juli 20 kam Amira Bouraoui vorläufig aus der Haft frei, vgl. dazu: https://www.dzairdaily.com/algerie-karim-tabbou-amira-bouraoui-retrouvent-liberte/externer Link)

Dieses Urteil, gegen das die Mutter zweier Kinder über ihren Anwalt Mustapha Bouchachi Berufung einlegte, bildet eine ernsthafte Warnung an alle Opponentinnen und Opponenten.

Unterdessen droht sich die wirtschaftliche Situation des extrem von Rohöl- und Erdgasreserven abhängigen Staates drastisch verschlechtern, sank doch der Ölpreis – unter anderem auch im Zusammenhang mit der weltweiten Pandemie – in jüngerer Zeit erheblich. 2014 verfügte die öffentliche Hand in Algerien über 200 Milliarden Dollar Devisenreserven (Vgl. https://afrique.le360.ma/algerie/economie/2020/02/04/29407-algerie-la-forte-baisse-des-reserves-en-devises-inquietante-devrait-se-poursuivre-29407 externer Link) im März dieses Jahres noch über 55 Milliarden. Derzeit droht jedoch ihr vollständiger Schwund, im Staatshaushalt musste der zugrunde gelegte Barrel-Preis von 45 auf 27 Euro korrigiert werden (Vgl. https://www.lefigaro.fr/flash-eco/algerie-remaniement-ministeriel-pour-faire-face-a-la-menace-de-marasme-economique-20200624 externer Link), und für das laufende Jahr wird eine Rezession mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um -5,2 % vorausgesagt.

Am vorigen Dienstag, den 23. Juni 20 bildete Tebboune seine Regierung um (Vgl. https://www.observalgerie.com/remaniement-ministeriel-en-algerie-la-liste-des-nouveaux-ministres/2020/ externer Link), vorrangig, um den Energie- und den Finanzminister auszutauschen. Neuer Energieminister wird ‘Abdelmajid Attar, er führte von 1997 bis 2000 den staatlichen Ölkonzern Sonatrach. Das Finanzressort geht an den früheren Gouverneur der algerischen Zentralbank, Aymen Ben ’Abderrahmane. Diese Personalentscheidung allein dürfte  jedoch kaum Abhilfe verschaffen, und der wirtschaftliche Schlamassel droht zum Staatsbankrott zu führen, mindestens jedoch den Massenprotest im Land erneut zu beflügeln. 

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=175086
nach oben