Gemeineigentum als Krisenlösung: Vor 40 Jahren startete die IG Metall ihren Anlauf zur Vergesellschaftung der bundesdeutschen Stahlindustrie

Technoseum: Durch Nacht zum Licht? Geschichte der Arbeiterbewegung 1863-2013Mit dem Berliner Volksentscheid zur Vergesellschaftung konzerneigener Wohnungsbestände hat die Mietenbewegung ein Erbe der Arbeiterbewegung aktualisiert. Bis in die 80er Jahre blieb das Konzept in der Bonner Republik lebendig, etwa in der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall). Vom 9. bis 15. Oktober 1983 tagte in München deren 14. Gewerkschaftstag. Als Reaktion auf Krise und Massenentlassungen beschlossen die etwa 500 Delegierten fast einstimmig die Forderung nach Vergesellschaftung der westdeutschen Stahlindustrie. Der Forderung ging eine seit 1982 aktive soziale Bewegung voraus, die im Rückblick wie ein Scharnier zwischen »alter« Arbeiterbewegung und »neuen« sozialen Bewegungen wirkt…“ Artikel von Ralf Hoffrogge vom 13.10.2023 in ND online externer Link und mehr daraus:

  • Weiter aus dem Artikel von Ralf Hoffrogge vom 13.10.2023 in ND online externer Link: „… Insgesamt 232 000 Beschäftigte umfasste die westdeutsche Stahlindustrie 1974, sie litt jedoch unter globaler Überproduktion. Die IG Metall sperrte sich in der 1975 anbrechenden Krise nicht gegen Entlassungen, forderte aber deren Abfederung durch Sozialpläne. (…) Bis 1978 verabschiedete die Industriegewerkschaft mehrere Sozialpläne, forderte jedoch eigentlich einen Runden Tisch aus Unternehmen, Gewerkschaft und Staat. Der »Stahlausschuss«, wie die Branchenkonferenz später genannt wurde, sollte bestehende Mitbestimmung zur überbetrieblichen Wirtschaftsplanung ausbauen. Die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie wurde bereits vor der Krise von IG Metall und Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) erhoben und von Gewerkschaftsgegnern in die Nähe sozialistischer Umsturzpläne gerückt. Tatsächlich war das Anliegen der Gewerkschaft eher sozialpartnerschaftlich: Es ging um regionale Sozial- und Wirtschaftsräte, in denen Gewerkschaften, Staat und Unternehmen gemeinsam Strukturpolitik aushandeln sollten. (…) Die Vergesellschaftungsbewegung stieß 1982 in eine strategische Leere vor. Sie war eine Antwort auf die Krise der Stahlindustrie, die Krise der Mitbestimmung und das Scheitern gewerkschaftlicher Konzepte. Auftakt war die Bewegung »Stahlwerk jetzt!« in Dortmund 1980. (…) Die IG Metall musste die Schließung von zwei Standorten in Dortmund hinnehmen. »Stahlwerk jetzt!« hatte die Sozialpläne nicht infrage gestellt, sondern auf ihre Einhaltung gepocht. Als dies nicht gelang, war die Sozialplanpolitik weiter diskreditiert. In dieser Lage wurde Vergesellschaftung zunächst in linken Gruppen und Kleinparteien diskutiert. (…) Einen vorläufigen Abschluss fand die Debatte im Mai 1981 mit dem »Stahlmemorandum« der linkskeynesianischen Gruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Das 100-seitige Papier buchstabierte Vergesellschaftung in zwei Szenarien aus, beide beschrieben eine Überführung in Gemeineigentum nach Artikel 15 des Grundgesetzes. Auf die linke Debatte zuvor bezog sich das Memorandum mit keinem Wort, hob diese aber dennoch auf ein neues Niveau: Es unterschied Vergesellschaftung von Verstaatlichung und lotete aus, wie Gemeineigentum konkret ausgestaltet werden könnte. In der IG Metall wurden die seit 1975 erscheinenden Gutachten meist dankbar aufgegriffen. Diesmal lehnte die Mitgliederzeitung »Metall« unter der Überschrift »Sozialisierung der Verluste – Nein Danke« das Memorandum jedoch ab. (…)
    Im Dezember 1982 erreichte die Debatte um Vergesellschaftung die Beschäftigten. Die Vertrauensleute der Dortmunder Stahlbetriebe forderten in einem »Dortmunder Papier«: »1. die Überführung der Stahlindustrie in Gemeineigentum; 2. Schaffung einer nationalen paritätisch mitbestimmten Stahl-AG; 3 Sicherung der regionalen Stahlstandorte; 4. gezielte Investitions-, Sozial- und Innovationspolitik«. Damit ergriffen ehrenamtliche IG-Metall-Vertreter die Initiative. Später kamen Betriebsräte sowie Funktionäre lokaler IG-Metall-Verwaltungsstellen hinzu, während der Vorstand sich ablehnend verhielt.
    Der Funktionärskörper war uneins über die neue, alte Forderung – tendierte jedoch immer mehr zur Akzeptanz. Vergesellschaftung erschien machbar. Eine staatliche Stahlindustrie existierte in Großbritannien sowie Österreich bereits und der Artikel 15 des Grundgesetzes bot einen juristischen Hebel. Die Forderung entsprach der vom IG-Metall-Vorsitzenden Eugen Loderer angestrebten »Verwirklichung« des Grundgesetzes durch Reformen ebenso wie der Satzung der IG Metall selbst, die in Artikel 2 seit 1949 eine Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien proklamierte. Vergesellschaftung konnte weder als Utopie beiseite geschoben werden noch ließ sie sich als kommunistisch abtun. Sie war nicht Gegenstück, sondern letzte Zuspitzung der Reform-Euphorie des »sozialdemokratischen Jahrzehnts« zwischen 1969 und 1981. Das »Dortmunder Papier« wurde im Februar 1983 von Vertrauensleutekonferenzen in Bremen, Hattingen, Duisburg und Salzgitter übernommen.
    Vergesellschaftung als Drohkulisse – diese Strategie übernahmen die IG-Metall-Vorstandsmitglieder Eugen Loderer und Rudolf Judith im März 1983 in einem Brief an Kanzler Helmut Kohl (…) Kohl reagierte nicht. Der IG-Metall-Vorstand bereitete nun für den 29. September 1983 eine Großdemonstrationen vor. Beim »Marsch auf Bonn« demonstrierten 130 000 Menschen, lokale Gliederungen mobilisierten mit Aufklebern, die »Vergesellschaftung Jetzt« forderten. Im Februar 1983 folgte eine IG-Metall-Stahlkonferenz, die diese Eigendynamik einzufangen versuchte und der Vergesellschaftung Raum bot. (…) Auch die meisten Stahl-Betriebsräte waren skeptisch. Auf einer Tagung in Oberhausen forderten sie die »Fortführung der Sozialplanpolitik ohne materielle Abstriche«. Nur im Nachsatz hieß es, im Falle des Scheiterns seien »die deutschen Stahlkonzerne in Gemeineigentum zu überführen«. (…)
    Der Gewerkschaftstag 1983 (…)Für eine Überraschung sorgte jedoch ein Antrag zur Vergesellschaftung der Stahlindustrie. Obwohl die Antragskommission eine Ablehnung der Forderung empfohlen hatte, wurde sie fast einstimmig angenommen. Es handle sich um eine »Existenzfrage«, betonte ein Delegierter aus den Stahlwerken Peine-Salzgitter. Gemeineigentum sei »nicht zu verwechseln mit den jetzigen staatlichen Betrieben, aus denen ich selbst komme« – aber die einzige umsetzbare Lösung. Der neue Vorsitzende Hans Mayr akzeptierte den Kurswechsel, beim Vorstand der IG Metall trat eine »Arbeitsgruppe Stahlindustrie« zusammen, um die Forderung ins Programm einzuarbeiten. Die Umsetzungschancen waren jedoch gering. Als einzige Fraktion im Bundestag griffen die Grünen im September 1983 die Forderung auf. Sie organisierten ein Stahl-Forum und gaben eine Broschüre heraus, mit dem Ziel, der Forderung »größere Geltung zu verschaffen«.
    Der Entwurf für neues stahlpolitisches Programm der IG Metall wurde erstmals im März 1985 auf einer Stahlkonferenz in Mülheim diskutiert – anderthalb Jahre nach dem Gewerkschaftstag. Der Vorsitzende Hans Mayr betonte, eine vergesellschaftete Stahlindustrie müsse auf gesellschaftliche Ziele verpflichtet werden. Im Papier genannt wurden die »Sicherung der Beschäftigung« und des »sozialen Status der Arbeitnehmer« sowie der »Erhalt der Stahlstandorte«. Genannt wurden einzig die Interessen der Beschäftigten einer Branche. Sogar die Versorgung mit Stahl fehlte als gesellschaftliches Ziel – »Gesellschaft« kam eigentlich nicht vor. Im Weiteren betonte Mayr die Fortgeltung der Montanmitbestimmung, den dezentralen Unternehmensaufbau und Tarifverträge. Die IG Metall wollte in einem vergesellschafteten Unternehmen »nicht Richter über die Arbeitsplätze sein, sondern Anwalt der Arbeitnehmer«, erklärte Mayr. Die buchstabengetreue Übernahme aller erkämpften oder geforderten Mitbestimmungselemente zeugte von Unsicherheit im gerade betretenen Neuland. Keineswegs wollte die IG Metall in eine Unternehmerrolle geraten, gar ihre eigenen Leute entlassen müssen. (…) Die Vergesellschaftungsbewegung erreichte 1987 ihren letzten Höhepunkt durch eine Massenpetition an den Bundestag, die von Mai bis Oktober lief und mit der Überreichung von 180 000 Unterschriften endete. Höhepunkt war Ende des Jahres der Konflikt um die Stilllegung des Krupp’schen Hüttenwerks Rheinhausen bei Duisburg. Es kam zur Erstürmung von Aufsichtsratssitzungen. Am letzten Stahlaktionstag, dem 10. Dezember 1987, traten 90 000 Stahlbeschäftigte kurzzeitig in den Ausstand. Die Region schien an der Schwelle eines Generalstreiks. Ikonisch wurde die »Brücke der Solidarität«, als Tausende die Rheinbrücke zwischen den Duisburger Stadtteilen Rheinhausen und Hochfeld besetzten. Doch die Krise, die den Protest hervorgebracht hatte, sorgte auch für sein Ende. (…)
    Eine Ausweitung der Mitbestimmung sollte durch das Parlament erfolgen, womit man sich der zögernden SPD auslieferte. Alleingänge der Belegschaften dagegen aktivierten eine in der Gewerkschaft verankerte Furcht vor »Betriebsegoismus« oder »Syndikalismus«. Während Teile des Funktionärskörpers für Vergesellschaftung kämpften, klammerten sich andere an die »halbe Macht« der erodierenden Montanmitbestimmung. Die »Montanmentalität« blockierte den Versuch, andere Lösungen aus der Krise zu finden. Trotzdem kann der Aktionsausschuss von 1986 als Vorläufer späterer Konzepte von »Organizing« und Mitgliederbeteiligung verstanden werden. Die Paradoxie der Stahlkrise lag aber darin, dass sie Radikalität hervorrief und zugleich die Bedingungen der Radikalisierung untergrub…“
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