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Arg muss sich der Bauer quälen. Agrarkrise, Höfesterben und Bauernproteste

Bauernproteste im Januar 2024: Die AfD Stinkt mehr als unsere Gülle (Transpi auf einem Traktor)„… Die Konzentrations- und Kapitalisierungsprozesse in der Landwirtschaft, die in dem Slogan »Wachsen oder weichen« zum Ausdruck kommen, haben die Zahl der Familienbetriebe in den letzten Jahrzehnten drastisch schrumpfen lassen, immer größer sind die Tierbestände und die bewirtschafteten Flächen geworden. Gleichzeitig ist die Industrialisierung der Landwirtschaft an ökonomische und ökologische Grenzen gestoßen. Eine radikale Kehrtwende wäre notwendig (…) Eine Subventionsvergabe nach sozialen und ökologischen Kriterien wäre ein wichtiger Schritt voran, ebenso eine stärkere Regulierung des Handels mit landwirtschaftlichen Flächen. Über kurz oder lang steht darüber hinaus eine gesellschaftliche Neuordnung der Lebensmittelproduktion und -verarbeitung sowie des Agrarhandels an. Das freilich erfordert den Mut, sich gegen diejenigen Interessengruppen zu positionieren, die von dem bisherigen ökologischen Raubbau und ökonomischen Verdrängungswettbewerb profitiert haben.“ Artikel von Gregor Kritidis erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – Ausgabe 2/2024:

Arg muss sich der Bauer quälen

Agrarkrise, Höfesterben und Bauernproteste – von Gregor Kritidis*

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitIn der alten, westdeutschen Bundesrepublik galten die Lobbys der drei B – Beamte, Bergleu­te, Bauern – als besonders durchsetzungsstark. Das ist, von den Beamt:innen einmal abgese­hen, lange passé. Längst ist auch die Lobby der Bäuer:innen durch den Strukturwandel hin zum Agrarkapitalismus in die Defensive geraten. Die Konzentrations- und Kapitalisierungs­prozesse in der Landwirtschaft, die in dem Slogan »Wachsen oder weichen« zum Ausdruck kommen, haben die Zahl der Familienbetriebe in den letzten Jahrzehnten drastisch schrump­fen lassen, immer größer sind die Tierbestände und die bewirtschafteten Flächen geworden. Gleichzeitig ist die Industrialisierung der Landwirtschaft an ökonomische und ökologische Grenzen gestoßen. Eine radikale Kehrtwende wäre notwendig.

Etwa 250.000 landwirtschaftliche Betriebe bilden gegenwärtig die wirtschaftliche Grundla­ge für etwa eine halbe Million Menschen, wobei die Familienangehörigen mitgezählt sind. Ende der 1960er waren es allein in Westdeutschland noch über 3,5 Millionen. Dabei verfügen mittlerweile 14 Prozent der Landwirtschaftsbetriebe über 62 Prozent der genutzten Agrarflä­che. Seit den 1980er Jahren sind die Landwirt:innen in vielen Dörfern zu einer Minderheit ge­worden und müssen sich gegenüber den zugezogenen Städter:innen für ihr Tun und Unterlas­sen rechtfertigen. Dies ist ein allgemeiner, in der Tendenz weltweiter Prozess, der im Zuge der Globalisierung der Märkte an Dynamik gewonnen hat. Nicht zufällig haben in den letzten Jahrzehnten die Proteste von Bäuer:innen und Landwirt:innen zugenommen, und zeitgleich zu den Protesten in Deutschland demonstrieren sie auch in Italien, Frankreich oder Griechenland.

Mit der Via Campesina ist in den 1990er Jahren sogar – historisch erstmalig – eine welt­weit agierende Bauernorganisation gegründet worden. Denn betroffen sind vor allem, wenig überraschend, die Kleinbäuer:innen bzw. in den Industrieländern die kleineren Betriebe, die von den Großkonzernen verdrängt und aufgekauft werden.

Auch wenn die Landwirtschaft sich in dieser Hinsicht prinzipiell nicht von anderen Wirt­schaftsbereichen unterscheidet, so gibt es doch eine Besonderheit der landwirtschaftlichen Produktion: Zum einen sorgt die Abhängigkeit vom Wetter für erhebliche, wenig vorausseh­bare Ertragsschwankungen, zum anderen ist die Produktion von Lebensmitteln eine herausra­gende gesellschaftliche Aufgabe, die im Zuge der ökologischen Krisenphänomene noch an Bedeutung gewonnen hat. Aus diesem Grund haben alle industrialisierten Staaten die Land­wirtschaft weitgehend reguliert.

Die EU ist dafür ein gutes Beispiel. Die historischen Wurzeln der europäischen Agrarpoli­tik liegen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Mit der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) sollte seinerzeit die Produktivität gesteigert werden, um den Nahrungsmittelbedarf dauerhaft zu sichern. Die Bevölkerung sollte mit günstigen Lebensmitteln versorgt, den Bau­ern ein stabiles Einkommen garantiert und die Preisschwankungen auf den Agrarmärkten ab­gefedert werden. Das wichtigste Instrument der GAP waren und sind Subventionen an die Landwirte, die gut ein Drittel des EU-Haushaltes ausmachen.

Die grundlegenden, marktförmig bestimmten Produktionsbedingungen wurden und werden dadurch zwar abgemildert, aber nicht aufgehoben. Lange Zeit war die GAP auch an den Inter­essen der bäuerlichen Familienbetriebe ausgerichtet, die nolens-volens die Politik der Intensi­vierung der Produktion und der Produktionssteigerungen mitmachten. Die landwirtschaftliche Überproduktion – in den 1980er Jahren dominierten die »Butterberge« und »Milchseen« die Diskussion – führte jedoch zu einer Umorientierung. Die landwirtschaftlichen Überschüsse der EU-Länder sollten exportiert werden, gleichzeitig wurden die Märkte zunehmend deregu­liert.

Eine Folge davon ist die zunehmende Abhängigkeit von den globalen Preisentwicklungen und den damit verbundenen Spekulationen auf landwirtschaftliche Waren. Ob es eine Miss­ernte in Brasilien gibt oder in China ein Sack Reis umfällt, hat mittlerweile Auswirkungen auf die Preisbildung an den Warenterminbörsen. So heißt es auf der Seite des Bundesministeri­ums für Ernährung und Landwirtschaft: »Durch die schrittweise Liberalisierung wirken sich Veränderungen auf den Weltmärkten für Milch und Milcherzeugnisse seither direkter und stärker auf die heimischen Märkte aus. Dies führte zu verschiedenen Milchmarktpreiskrisen in den Jahren 2009, 2012 und 2015/16. […] Die Entwicklungen auf dem EU- und dem Welt­markt schlagen sich in den Milchauszahlungspreisen der deutschen Molkereien nieder. […] Rund die Hälfte der in den Molkereien in Deutschland verarbeiteten Milch geht in den Export, sodass die überwiegenden Ausfuhren in andere Mitgliedstaaten der EU, aber auch in Dritt­staaten eine enorme Bedeutung für die gesamte Milchwirtschaft haben.«[1] Im Gegensatz dazu wird mehr als 60 Prozent des in Deutschland konsumierten Gemüses und fast 80 Prozent des Obstes importiert. Die Landwirtschaft in Deutschland hat jenseits der Fleischproduktion nur noch einen kleineren Anteil an der deutschen Lebensmittelversorgung. Gleichzeitig ist Deutschland nach den USA und den Niederlanden das Land mit den weltweit größten Aus­fuhren von Agrargütern.

Dieses von den konservativen Parteien und den Bauernverbänden propagierte Exportmo­dell ist in den letzten Jahren aufgrund sinkender Erlöse ökonomisch und aufgrund der ökolo­gischen Folgewirkungen zunehmender Intensivierung wie Bienensterben oder hoher Nitrat­werte im Trinkwasser in eine tiefe Krise geraten. Im Zuge der Bauernproteste 2019 wurde da­her eine Zukunftskommission Landwirtschaft gebildet, in der alle Interessengruppen von den Bauernverbänden über Vertreter:innen der Ernährungsindustrien bis zu Umweltverbänden vertreten waren.[2] Diese Kommission verabschiedete einen Bericht, dessen Empfehlungen al­lerdings kaum eine Rolle spielten.

Stattdessen haben sich die Konflikte im Agrarsektor weiter zugespitzt. So heißt es in der Süddeutschen Zeitung nicht ganz unzutreffend: »Höhere Umweltstandards treiben die Kosten nach oben. Bei Milch auf Absatzmärkte wie China zu setzen, gleicht einem Vabanquespiel. Das Land baut derzeit massiv seine eigene Milchindustrie aus. Ein Kräftemessen mit den Massenproduzenten aus Amerika, Asien oder Osteuropa können deutsche Erzeuger auf Sicht also nur verlieren. Stattdessen sollten sie sich auf ihre wahren Stärken besinnen, und die lie­gen nicht in der Masse, sondern in der Klasse« (SZ, 11. Januar 2024).

Das ist freilich nur ein kleiner und nicht einmal entscheidender Teil der Wahrheit, denn die landwirtschaftlichen Betriebe sind ökonomisch von zwei Seiten massiv unter Druck gekom­men. Die Betriebsmittel produzierenden und handelnden Sektoren – Saatgut, Düngemittel, Herbizide, aber auch Landmaschinen und veterinärmedizinische Leistungen – sind hochgra­dig zentralisiert und verfügen über ein Vielfaches an Marktmacht. Gleiches gilt für die Le­bensmittel verarbeitenden Industrien und den Einzelhandel. Durchgängig stehen die landwirt­schaftlichen Betriebe auf der Zulieferer- und Abnehmerseite Monopol- und Oligopolstruktu­ren gegenüber. Exemplarisch dafür ist die Zuckerindustrie, die in Deutschland durch die Ge­bietsmonopolisten Nord- und Südzucker sowie Pfeffer & Langen repräsentiert wird. Zwar ste­hen die Zuckergiganten in globaler Konkurrenz mit anderen Konzernen um Marktzugänge und -anteile, gegenüber der Marktmacht als Abnehmer von Zuckerrüben haben die Bäuer:in­nen aber keinen preislichen Gestaltungsspielraum. Mehr noch gilt das in Bezug auf die Ein­zelhandelskonzerne. »Im Lebensmitteleinzelhandel stehen die vier größten Händler ca. 6.000 Unternehmen der Lebensmittelverarbeitung und Ernährungsindustrie sowie etwa 263.500 landwirtschaftlichen Betrieben gegenüber. Dies führt nicht in allen, aber in einigen Waren­gruppen zur Abhängigkeit der Landwirtschaft von den Vorgaben der Industrie oder des Han­dels«,[3] heißt es im Bericht der Zukunftskommission Landwirtschaft lapidar. Hinzu kommt, dass seit den 2000er Jahren die landwirtschaftliche Nutzfläche zunehmend zu einem Spekula­tionsobjekt geworden ist. Rund 60 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe wirtschaften auf gepachtetem Boden, so dass zunehmend Kapital in andere, finanzstärkere Sektoren fließt. Da etwa 70 Prozent der Subventionen für die Landwirtschaft flächenbezogene Prämien sind, flie­ßen erhebliche Mittel mittelbar nicht-landwirtschaftlichen Investoren zu.

Während der ökonomische Druck auf die Agrarwirtschaft immer größer geworden ist, wur­den die ökologischen Anforderungen immer drängender. Das wiederum hängt auch damit zu­sammen, dass die Intensivierung der agroindustriellen Produktion immer größere ökologische Schäden verursacht. Grundsätzlich ist dieses Problem unstrittig, und allen Beteiligten dürfte bewusst sein, dass eine weitere Intensivierung der Landwirtschaft ausgeschlossen ist. So kommt die Zukunftskommission zu der Einschätzung, »dass die Landwirtschaft immer weni­ger in der Lage ist, in ökologisch verträglichen Stoffkreisläufen innerhalb der Belastungsgren­zen der natürlichen Ressourcen zu wirtschaften.«[4] Der Transformationsprozess hin zu einem nachhaltigen Landwirtschafts- und Ernährungssystem müsse »die Beanspruchung dieser na­türlichen Ressourcen auf ein mit ihren Belastungsgrenzen verträgliches Maß reduzieren«.[5] Wie das aber unter den gegebenen Bedingungen und Strukturen möglich sein soll, bleibt das Geheimnis der Kommission. Denn die Profitinteressen der vor- und nachgelagerten Industrien und des Groß- und Einzelhandels sollen im Wesentlichen nicht angetastet werden. Anstatt sich dieser Frage in aller Konsequenz zu stellen, gehen die Überlegungen in Richtung regio­nale Vermarktung, verändertes Verbraucherverhalten oder direkte Preisaufschläge wie eine Tierwohlabgabe. Die Konsument:innen sollen also zur Milderung der Preisdiktate durch Han­del und Industrie herangezogen werden, damit »die Lebensmittelpreise die tatsächlichen Pro­duktionskosten wieder besser abbilden und der Wettbewerb um Prozess- wie Produktqualitä­ten gegenüber bloßem Mengenwettbewerb an relativem Gewicht gewinnt.«[6]

Dieser Gedanke ist angesichts der Dumpingpreise bei vielen Lebensmitteln nicht ganz falsch, ändert aber am grundsätzlichen Strukturkonflikt nichts. Denn auf das ver­änderte Kon­sumverhalten haben die Unternehmen der Lebensmittelindustrie und die Einzelhandelskon­zerne durchaus reagiert. Mittlerweile gibt es überall Angebote diverser Bio-Produktlinien un­terschiedlicher Qualität, auch vegane Produkte sind fast überall zu haben. An den grundlegen­den Strukturen und Tendenzen hat dies aber nichts geändert, im Gegenteil: So bieten die Un­ternehmen des »Wurstkartells« inzwischen auch vegane Produkte an, etwa The Family But­chers (TFB), nach Tönnies das größte fleischverarbeitende Unternehmen in Deutschland. Und der Bio-Zucker kommt ebenfalls von denselben Unternehmen wie der Zucker aus konventio­nell angebauten Rüben, wobei die gleichen ökonomischen Abhängigkeiten wirksam sind. Da das maßgebliche Motiv darin besteht, bei möglichst niedrigen Kosten möglichst hohe Gewin­ne zu erzielen, vermindert sich der Druck, möglichst hohe Erträge zu erwirtschaften, keines­falls – der Druck, Kosten zu externalisieren und auf die Allgemeinheit abzuwälzen, einge­schlossen. Abgesehen davon bergen höhere Lebensmittelpreise erheblichen sozialen Spreng­stoff. Viele Menschen würden durchaus höhere Preise für qualitativ hochwertigere Lebens­mittel bezahlen, wenn sie dazu in der Lage wären. Davon kann aber bei breiten Teilen der Be­völkerung angesichts des gegenwärtigen Lohngefüges sowie der Höhe der Transfereinkom­men keine Rede sein.

Die Subventionierung der Landwirtschaft hat bisher den ökonomischen Druck auf die Landwirte und damit das Höfesterben verlangsamt, aber nicht aufgehoben. Aus Sicht der landwirtschaftlichen Familienbetriebe gibt es also gute Gründe, gegen eine Streichung der Subventionen für den Agrardiesel und die KFZ-Steuerbefreiung für landwirtschaftliche Fahr­zeuge zu protestieren. Die Proteste der Bäuer:innen in den vergangenen Jahren haben immer­hin die Diskussionen über die Zukunft der Landwirtschaft befeuert. Nach den Protesten 2019 war die Zukunftskommission Landwirtschaft eingerichtet worden. Jedoch sind deren zaghafte Ansätze, die zudem kaum den Problemen der Familienbetriebe nachhaltig Abhilfe verschaffen können, nicht in die politische Praxis übersetzt worden. Stattdessen haben die großen Player aus dem Agrobusiness, die vom gegenwärtigen Verdrängungswettbewerb profitieren, auf Zeit gespielt. Schon 2019 hatte sich die Basis der Bauernverbände verselbständigt und mit »Land Schafft Verbindung« eigene Organisationen geschaffen. Bei den Protesten im Winter 2023/24 hatten und haben die etablierten Bauernverbände ebenfalls große Mühe, den verbreiteten Un­mut zu kanalisieren. Das ist kein Zufall: Der Deutsche Bauernverband (DBV) repräsentiert die großen Agrarunternehmen und ist zudem mit zahlreichen Unternehmen des Agrarhandels und der Lebensmittelindustrie verflochten. Der Naturschutzbund (NABU) hat 2019 eine Stu­die veröffentlicht, in der die enge Verflechtung zwischen dem DBV mit den vor- und nachge­lagerten wirtschaftlichen Bereichen und deren Verbänden, etwa der Agrar- und Ernährungs- sowie Finanzwirtschaft, analysiert wird. Der Vorsitzende des DBV, Joachim Rukwied, steht repräsentativ für diese Verflechtungen. So sitzt der oberste Agrarlobbyist in zahlreichen Auf­sichtsräten von Unternehmen der Agrar- und Finanzwirtschaft, etwa bei Südzucker, der Bay­Wa AG und der R&V-Versicherung.[7] Die Existenzsorgen kleiner und mittlerer Bäuer:innen sind für diese Interessengruppe kaum von Relevanz. Die gegenwärtige Revolte und Verselb­ständigung seiner Basis mag dem DBV lästig sein, untergräbt seine Machtposition aber nicht, solange sich die Forderungen nur gegen die Kürzung der Subventionen richten, von denen die großen Unternehmen überproportional profitieren. Über ein eigenes, darüber hinaus reichen­des Programm verfügt die Bewegung allenfalls in Ansätzen. Von einem Kampf gegen den agrarindustriellen Komplex und die Konzerne der Lebensmittelindustrie und des Einzelhan­dels kann kaum die Rede sein.

Die einzige Organisation, die programmatische Ideen für eine soziale und ökologische Transformation der Landwirtschaft entwickelt hat, ist die Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft (ABL), deren Einfluss unter den Bäuer:innen jedoch begrenzt ist. Aus diesen Gründen ist es der AfD und anderen, weiter rechts stehenden Organisationen zumindest teil­weise gelungen, sich als Verteidiger bäuerlicher Interessen in Szene zu setzen, obwohl dies ihren programmatischen Überzeugungen vollkommen widerspricht. Inwieweit die AfD inhalt­lich überhaupt etwas zur Agrarfrage beisteuern kann, steht auf einem gänzlich anderen Blatt.[8]

Verschiedentlich ist der Vergleich der gegenwärtigen Bauernbewegung mit der Landvolk­bewegung der späten 1920er Jahre gezogen worden, die ebenfalls als Revolte ohne Programm begonnen hatte und unter dem Einfluß der von den Großagrariern geförderten völkischen Ver­bände in deren Fahrwasser geriet. Hans Fallada hat in seinem 1931 erschienenen Roman »Bauern, Bonzen, Bomben« diese Ereignisse reflektiert.[9] In einer zustimmenden Rezension schreibt Kurt Tucholsky dazu: »Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig. Daß nun dieses richtige Grundgefühl heute von den Schreihälsen der Nazis miß­braucht wird, ist eine andre Sache.«[10] Auch wenn in Schleswig-Holstein Bäuer:innen auf die Symbolik der Landvolkbewegung positiv Bezug genommen haben: Zahlenmäßig und ökono­misch haben die Landwirt:innen nicht mehr das Gewicht, das sie noch in den 1920er Jahren hatten. Anstatt sich in der Kritik der Bauernbewegung vorrangig auf die Formen und die Sym­bolik der Proteste zu kaprizieren, wäre es sinnvoller, an die Forderungen der ABL anzuknüp­fen, die etwa die Deckelung der Agrardiesel-Rückvergütung auf 10.000 Liter und damit eine Umverteilung zu den Familienbetrieben vorschlägt.[11] Eine Subventionsvergabe nach sozialen und ökologischen Kriterien wäre ein wichtiger Schritt voran, ebenso eine stärkere Regulie­rung des Handels mit landwirtschaftlichen Flächen. Über kurz oder lang steht darüber hinaus eine gesellschaftliche Neuordnung der Lebensmittelproduktion und -verarbeitung sowie des Agrarhandels an. Das freilich erfordert den Mut, sich gegen diejenigen Interessengruppen zu positionieren, die von dem bisherigen ökologischen Raubbau und ökonomischen Verdrän­gungswettbewerb profitiert haben.

Artikel von Gregor Kritidis erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – Ausgabe 2/2024

*Gregor Kritidis ist Historiker und lebt in Hannover.

Anmerkungen:

1) »Entwicklungen am deutschen Milchmarkt – ein Überblick«, online: https://www.bmel.de/DE/themen/landwirtschaft/agrarmaerkte/entwicklungen-milchmarkt-de.html externer Link

2) https://de.wikipedia.org/wiki/Zukunftskommission_Landwirtschaft externer Link

3) »Zukunft Landwirtschaft. Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Empfehlungen der Zukunftskommission Landwirtschaft«, S. 99. Online: https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/abschlussbericht-zukunftskommission-landwirtschaft.pdf externer Link

4) Ebd., S. 3

5) Ebd., S. 84.

6) Ebd., S. 5.

7) IAW im Auftrag des NABU: »Verflechtungen und Interessen des Deutschen Bauernverbandes«, Bremen 2019. https://www.nabu.de/natur-und-landschaft/landnutzung/landwirtschaft/agrarpolitik/26321.html externer Link

8) Das Sofortprogramm nimmt die Forderungen der Bäuer:innen nach Rücknahme der Streichungen auf und deutet sie in Steuersenkungen um, sodass sie in ihre neoliberale Agenda passen: https://www.afd.de/sofortprogramm-landwirtschaft/  externer Link

9) Auf youtube ist die fünfteilige Verfilmung des Romans von Egon Monk aus dem Jahr 1973 frei verfügbar.

10) Ignaz Wrobel: »Bauern, Bonzen und Bomben«, Die Weltbühne Nr. 14 vom 7. März 1931, S. 496.

11) https://www.abl-ev.de/apendix/news/details/agrardieselverguetung-kappen-statt-streichen externer Link

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=218307
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