[Sickout am Beispiel TUI Fly] Krank oder Streik? Krankheit als Kampfmittel?

Dossier

ver.di-aktiv (Berliner Verkehrsbetriebe): DGB-Kongress: Protest gegen Bedrohung des StreikrechtsDie Gesellschaft TUI Fly strich am 7.10.2016 über 100 ihrer Flüge. Damit mußte sie praktisch ihren gesamten Flugbetrieb einstellen. Grund: Es hatten sich zu schnell und unerwartet zu viele Mitarbeiter krank gemeldet. (…) die vor allem zuständige Gewerkschaft der Flugbegleiter UFO hat völlig glaubhaft eine gezielte Organisierung dieser Krankmeldungen verneint. In der Tat waren und sind individuelle Krankmeldungen kein kollektives Kampfmittel der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften. Allerdings sollte dieses Phänomen einmal Anlaß für die Unternehmen aber auch und gerade für die „Leitmedien“ sein über die sonst übliche Hetze gegen Gewerkschaften wie UFO oder GDL bei der Durchführung von Streiks nachzudenken und sich künftig mit solchen Kampagnen zurückzuhalten: Die Gewerkschaften haben ihre Streiks stets rechtzeitig angekündigt sofern es nicht kurzfristige Warnstreiks waren. Sie haben auch nie völlig „unerwartet“ und fast nie flächendeckend gestreikt. Die massenhaften Krankmeldungen aber können tatsächlich das bewirken, was man den Gewerkschaften stets zu unrecht unterstellt hat: Das beschleunigte „Aus“ für das ganze Unternehmen. Das ist keine Kritik am Vorgehen der einzelnen Beschäftigten. Im Gegenteil. (…) Der Krankenstand in der deutschen Wirtschaft ist seit 2007 kontinuierlich angestiegen. Er ist in diesem Jahr so hoch wie seit 16 Jahren (!) nicht mehr. Eine Zeit lang war der Krankenstand gesunken, aber nicht etwa deshalb weil es den Beschäftigten „besser“ gegangen wäre, sondern weil sie angesichts der Angst um den Arbeitsplatz weiter arbeiteten, obwohl sie eigentlich krank waren. Diese Art der Reaktion der Beschäftigten auf wachsende Arbeitsplatzangst hat jedoch Grenzen. Sie sind da erreicht, wo die Arbeitsüberlastung und der psychische Druck am Arbeitsplatz einfach z u groß werden, um ihn durch bloße Anpassung und ein einfaches „Weitermachen“ auffangen zu können…“ Kommentar von Rolf Geffken vom Oktober 2016 externer Link (ohne genaues Datum). Siehe dazu:

  • Unerforscht, aber wirkungsvoll: Erneut melden sich Piloten kollektiv krank. An der Kampfform zeigen Gewerkschaften wenig Interesse, denn sie stellt ihre Lenkungsfunktion in Frage New
    „In Deutschland macht eine überwunden geglaubte Aktionsform von sich reden: der wilde Streik durch kollektives Krankfeiern. Am Dienstag, 12. September, meldeten sich 200 von insgesamt 1.500 Piloten der insolventen Air Berlin kurzfristig krank. Mehr als 200 Flüge fielen an diesem und den darauffolgenden Tagen bundesweit aus. Ab Donnerstag ebbte die Welle stark ab, am Freitag endete das Bieterverfahren um die Pleitelinie offiziell. Das Hugo-Sinzheimer-Institut (HSI), das der IG Metall nahesteht, widmete sich 2012 den sogenannten »atypischen Arbeitskampfformen«. Die kollektive Krankmeldung – im Englischen Sick-out genannt –, wird in Band 1 der HSI-Schriftenreihe mit vier mageren Sätzen abgehandelt. Raphaël Callsen schreibt lapidar: »Neuere Beispiele lassen sich nicht finden, nachdem der BGH diese Aktion für sittenwidrig erklärt hatte.« Das Urteil vom 31. Januar 1978 (Az. VI ZR 32/77) bedroht Gewerkschaften seither mit drakonischen Schadensersatzforderungen, falls sie Krankfeiern, Bummelstreiks und Dienst nach Vorschrift (Slow-down) propagieren. Damit war die Kampfform für das HSI erledigt. (…) Ob das Sick-out wieder ansteckend wirkt? Ich vermute, dass ähnliche Phänomene in deutschen Betrieben viel öfter vorkommen, als wir ahnen. Sie werden von Unternehmen und unternehmensnahen Medien ausgeblendet und von gewerkschafts- und parteinahen Stiftungen nicht erforscht, weil sie die Lenkungsfunktion von Unternehmern wie Gewerkschaftsfunktionären in Frage stellen. Dabei könnte passive Resistenz in homöopathischen Dosen durchaus belebend auf den Gesamtorganismus der arbeitenden Klasse wirken.“ Beitrag von Elmar Wigand bei der jungen Welt vom 19. September 2017 externer Link
  • [Nun am Bsp. Air Berlin] Wilder Streik: Warum ein „Sickout“ gefährlich sein kann
    Mit massenhaften Krankschreibungen sind die Piloten von Air Berlin zurzeit in den Schlagzeilen. Möglicherweise sind sie wirklich krank. Möglicherweise bedienen sie sich aber auch einer Arbeitskampfmaßnahme, die unter Fachleuten „Sickout“ genannt wird. Was bedeutet das genau? (…)Die Arbeitgeberverbände wollen nicht über den wilden Streik sprechen und verweisen an das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Hier heißt es,  Arbeitgeber hätten keine Handhabe gegen diese Form des wilden Streiks. Was wolle man schon gegen ein ärztliches Attest machen? Hagen Lesch vom DIW erklärt weiter: „Das Einzige, was dem Unternehmen bleibt, ist, die Ursachen eines solchen Protests zu erkennen und mit den Beschäftigten, insbesondere auch den Betriebsräten oder Gewerkschaften, die im Unternehmen sind, über die Ursachen und konstruktive Lösungsmöglichkeiten zu reden. Das führt dann hoffentlich dazu, dass die Leute eben nicht diesen stillen Protest wählen, sondern das Protestieren wirklich ihrer Gewerkschaft überlassen.“ Auch die Gewerkschaften sehen die organisierte Krankschreibung kritisch….“ [genau deshalb? Weil sie keine Kontrolle darüber haben?] Beitrag von Anne-Marie Kriegel vom 14.09.2017 bei MDR AKTUELL externer Link. Siehe dazu:

    • Krankmeldung als Waffe in einer „kranken Arbeitswelt“?
      „Viele Beschäftige in Deutschland könnten sich an den Piloten ein Beispiel nehmen. Sie sollten eher auf ihre Gesundheit achten, als krank zur Arbeit zu gehen. (…) Sie hätten fehlenden Anstand, seien feige und könnten sich nicht auf das Arbeitsrecht berufen. So wurden im Deutschlandfunk die Air-Berlin-Piloten beschimpft, die sich in den vergangenen Tagen vermehrt krank gemeldet hatten. Der Wirtschaftsjournalist Thomas Weinert machte auch gleich deutlich, warum er sich so darüber echauffiert. „Jeder Investor wird sich fragen, ob er sich so ein Betriebsklima leisten kann.“ (…) Der Leiter der des Bremer Forschungsbüros für Arbeit, Gesundheit und Biographie Wolfgang Hien hat im VSA-Verlag unter dem Titel Kranke Arbeitswelt eine engagierte Streitschrift verfasst, die die vielgerühmte neue Arbeitskultur als Angriff auf die Gesundheit der Beschäftigten begreift.(…) Natürlich bräuchte es mehr Basisgewerkschaften und solidarische Initiativen, damit sich die Devise „lieber krank melden als krankschuften“ verbreitet. Sie gehörte seit jeher zu den Grundsätzen von Beschäftigten, die wussten, dass sie nicht mit den Firmen identisch waren, bei denen sie ihre Arbeitskraft verkauften. Das Problem fängt dort an, wo Opelarbeiter tatsächlich mit Parolen wie „Wir sind Opel“ schon deutlich machen, dass sie zu fast allen Opfern bereit sind, um nur weiter beim Unternehmen zu bleiben. Genau diesen Eindruck haben die Air-Berlin-Piloten nicht hinterlassen und das ist nicht zu unterschätzen. (…) Es ist schon erstaunlich, dass wir jetzt eine Nation von Hobbyärzten haben, die ganz genau wissen, dass es aber auch gar keinen Grund für die Krankschreibung der Piloten. Mittlerweile haben sich fast alle Piloten wieder an die Arbeit zurückgemeldet. Doch ihr kurzer Moment des Ausbruchs aus dem gesellschaftlichen Konsens in Deutschland sollte Schule machen…“ Kommentar von Peter Nowak vom 15. September 2017 bei Telepolis externer Link
  • Illegal zum Erfolg: Nachdem ihnen ein Ausstand erschwert wurde, sammelten Tuifly-Beschäftigte Krankheits- statt Streiktage. Den Konzern zwangen sie so zum verhandeln
    „… Sickout: Kollektives Krankfeiern als Revolte der unteren Mittelklasse: Der wilde Streik durch Massenkrankmeldungen ist für die deutsche Gewerkschaftskultur im Allgemeinen untypisch, was aber nicht für Beschäftigte im Transportsektor und im öffentlichen Dienst gilt. Der US-Autor Mark Hamill schrieb im April 1969 einen einflussreichen Aufsatz, in dem er Phänomen des “sickout” als Teil einer “Revolte der weißen unteren Mittelklasse” charakterisierte. Zunächst wurde die Aktionsform unter Polizisten als “blue flu” (blaue Grippe) und Feuerwehrmännern als “red rash” (rote Krätze) populär. Am 18. Mai 1969 begann die US-Fluglotsengewerkschaft PATCO erfolgreich mit dieser Kampfform zu experimentieren, sie sollte das “sickout” in den 1970ern perfektionieren. Die systematische Zerschlagung von PATCO durch die Reagan-Administration verwundert daher im historischen Rückblick nicht. (…) Bereits 1973 war die Kampfform  des Sickout auch in Westdeutschland angekommen – durch renitente Fluglotsen, die sie Hand in Hand mit der Methode des “Bummelstreiks” (Dienst nach Vorschrift) einsetzten. Der Spiegel titelte im Juli 73: “Lotsenstreik – Diktatur der Spezialisten?” (12) Der Bundesgerichtshof verbot solche Aktionsformen in Deutschland mit einem Urteil vom 31.1.1978 (Az. VI ZR 32/77) als sittenwidrig und bedrohte Gewerkschaften fortan mit drakonischen Schadensersatzforderungen…“ Aus dem Artikel von Elmar Wigand vom 13. Oktober 2016 bei Arbeitsunrecht externer Link
  • Sick-out – ein Streik ohne Streik
    Melden sich Mitarbeiter aus Protest geschlossen krank, sprechen Experten von Sick-out. Die Teilnahme an einem illegalen Mittel des Arbeitskampfs ist nicht ohne Risiko. (…) Zwar sind Erkrankungen der Beschäftigten normalerweise Umstände höherer Gewalt, also etwas, wofür der Arbeitgeber nichts kann. Der Verdacht liegt aber nahe, dass die Krankmeldungen der Piloten und Crewmitglieder eine Reaktion auf die geplanten Umstrukturierungen und die bisherige Kommunikation mit den Beschäftigten bei der Airline sind. „Sick-out“ wird so eine Maßnahme genannt – und sie ist streng genommen illegal. (…) Denn auch wenn Wettbewerb und Preiskampf unter den Airlines hart sind: Der TUI-Gruppe geht es gut. Im vergangenen Jahr erwirtschaftete der Touristikkonzern ein Konzernergebnis von 379,6 Millionen Euro, über 40 Prozent mehr als im Vorjahr. Mit der Marke verbinden die Kunden Qualität – und das bedeutet eben auch, dass die Mitarbeiter anständig bezahlt werden. Hinzu kommt, dass sich das Management über die Verhandlungen und die Zukunft der Airline verschlossen gibt – auch den eigenen Mitarbeitern gegenüber. Wie sollen sich Mitarbeiter also fühlen, wenn sie aus den Medien erfahren, dass ihre Jobs gefährdet sind? (…) Arbeitskampfexperten wissen, dass Aktionen am Rand der Legalität nicht aus dem Nichts hereinbrechen, sondern ihnen ein langer, nervenaufreibender Prozess vorausgeht von Hoffen und Bangen und vielen Fehlinformationen – bis eine kritische Masse unter den Mitarbeitern das Gefühl hat: Jetzt reicht es. Und: Wir können nicht anders…“ Artikel von Tina Groll vom 7. Oktober 2016 bei der Zeit online externer Link. Darin – neben arbeitsrechtlichen Hinweisen – auch ein Stück Aufklärung: „… Tatsächlich kommt es immer wieder zu wilden Streiks oder Maßnahmen, die wie ein Streik ohne Streik wirken. Dazu gehören beispielsweise kämpferische Mittagspausen, bei denen die Beschäftigten gemeinsam ihre Arbeit niederlegen und ihren Protest kundtun, und stundenlange Betriebsversammlungen, zu denen die gesamte Belegschaft zusammenkommt. Vorstellbar ist auch kollektiver Dienst nach Vorschrift. Manch einer mag sich noch gut an die „Bummelstreiks“ von Fluglotsen in den sechziger und siebziger Jahren erinnern. Schon damals kam es zu kollektiven Krankmeldungen: Im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen meldeten sich 1972 – zu den Olympischen Spielen in München – ganze Teams geschlossen krank. Seinerzeit fielen in Westdeutschland 40.000 Flüge aus, rund 80.000 starteten mit Verspätung. Dass in der Luftfahrt Sick-outs benutzt werden, liegt in der Besonderheit der Branche…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=105414
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