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Keine Pause in Sicht: »Unberechenbar bleiben« – ein Gespräch mit Mechthild Middeke über die Streiks der Amazonier
Interview mit Mechthild Middeke, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 07-08/2013
»Make History«, diesen Slogan haben die Beschäftigten des weltgrößten Online-Versandhändlers Amazon sich zueigen gemacht und neu interpretiert.
Für keinen der mittlerweile acht bundesdeutschen Standorte mit jeweils 1 200 bis 1 500 Beschäftigten gibt es bislang einen Tarifvertrag. Amazon bezahlt die Beschäftigten nach einem eigenen ›Amazon-Vergütungssystem‹, das – je nach Standort – unterschiedlich ausfällt, überall aber deutlich unter dem Tarifentgelt liegt, das für den Einzel- und Versandhandel gilt. Das soll sich ändern, wenn es nach den Beschäftigten in den Werken bei Bad Hersfeld und in Leipzig geht: In Hessen beträgt der Einstiegslohn bei Amazon 9,83 Euro, nach Tarif müssten es 12,18 Euro sein – in Leipzig wären es 10,66 statt der bislang gezahlten 9,30 Euro. Darüber hinaus geht es um ein tarifliches Urlaubs- und Weihnachtsgeld, das Amazon bislang gar nicht zahlt, und einen einheitlichen Beginn für die Zahlung von Nachtarbeitszuschlägen ab 20 Uhr.
Amazon dagegen ist bestenfalls bereit, einen Anschluss an den niedrigeren Logistik-Tarif herzustellen. Für Verhandlungen mit ver.di sieht das Unternehmen derzeit »zu wenig Gemeinsamkeiten«. Was die Durchsetzung der Forderungen für die Beschäftigten und ver.di darüber hinaus zu einer Herausforderung macht: Jeder Standort bildet eine eigenständige GmbH mit eigener Unternehmensführung. Interessenvertretungs-strukturen und Arbeitskampffähigkeit müssen also Standort für Standort entwickelt – und unter Beweis gestellt werden. Immerhin: An allen acht Standorten haben die Beschäftigten mittlerweile Betriebsräte gewählt. In Bad Hersfeld und Leipzig haben sie zudem bereits mehrfach gestreikt. »Das hat es weltweit noch nicht gegeben bei dem Marktführer im Versandhandel«, schreibt ver.di im Amazon-Blog. Wir sprachen mit Mechthild Middeke, Gewerkschaftssekretärin im Fachbereich Handel und zuständig für die beiden Werke bei Bad Hersfeld, über Voraussetzungen und Perspektiven dieses Arbeitskampfes.
express: Rund 50 Prozent der Betriebe und Beschäftigten im Handelsbereich fallen nicht mehr unter die Tarifbindung, viele Unternehmen wählen eine Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifbindung, treten ganz aus den Arbeitgeberverbänden aus oder waren noch nie Mitglied. Angesichts der Vielzahl möglicher Kandidaten für verstärkte gewerkschaftliche Organizing-Bemühungen stellt sich die Frage, wieso Amazon von Euch als ein Schwerpunktbetrieb für gewerkschaftliches Engagement ausgewählt wurde. Gab es spezielle Kriterien und Gründe dafür?
Mechthild Middeke: In Hersfeld gibt es Amazon schon seit 1999. Wir sind recht früh in den Betrieb reingegangen und haben dort auch die Gründung eines Betriebsrats unterstützt. Immer wieder haben wir dann versucht, neue Mitglieder zu gewinnen und den Organisationsgrad zu erhöhen. So haben wir u.a. die Bildung eines Aktivenkreises angeregt, der seit 2007 regelmäßig zusammenkommt. Aus dem Aktivenkreis heraus wurde dann auch das Bedürfnis formuliert, mehr zu tun. Die Einschätzung war, dass wir mit der bisherigen Arbeitsweise an unsere Grenzen stoßen. Eine Handvoll Aktiver reicht einfach nicht aus, um in einem Betrieb dieser Größe weiter zu kommen. Um Amazon zu ›knacken‹, müsste das Unternehmen stärker in den Fokus genommen werden, so die Überzeugung der Aktiven. Daraus entstand 2009 die Idee eines Organizing-Projekts, für das wir Mittel beim Landesbezirk beantragt haben. 2011 wurde das Projekt dann ins Leben gerufen mit zwei hauptamtlichen Organizern, die sich um Amazon kümmerten. Der Zeitpunkt für die organisationspolitische Entscheidung, Amazon zum Schwerpunktbetrieb zu machen, passte gut, denn er fiel zusammen mit einer enormen Expansion des Unternehmens. Von einer strategischen Entscheidung zu sprechen, wäre aber vielleicht doch etwas übertrieben. Amazon ist zwar der weltgrößte Versandhändler, aber letztlich auch nur eines von vielen Unternehmen, das unsere Aufmerksamkeit braucht. Gleichwohl erhoffen wir uns natürlich eine Signalwirkung von den Aktivitäten bei Amazon in die boomende Branche des Online-Versandhandels. Ab 2012 hat ver.di auch auf Bundesebene Mittel freigemacht, um weitere Niederlassungen von Amazon anzugehen.
Wie ist es mit dem Organizing-Projekt bei Euch in Bad Hersfeld weitergegangen?
Das Projekt lief letztes Jahr aus. Danach ist die Betreuung der beiden Werke wieder in die reguläre Betreuung des Fachbereichs Handel übergegangen. Zur Zeit arbeiten wir hier mit zwei SekretärInnen, die für den Handel in Nordhessen zuständig sind. Einer der Organizing-Sekretäre steht uns aber wegen seiner engen Verbindungen zur Amazon-Belegschaft auch weiterhin als Ansprechpartner im Hintergrund zur Verfügung.
Organizing und Arbeitskampffähigkeit müssen nicht identisch sein. Wie ist es gelungen, in diesem Unternehmen streikfähig zu werden? Was waren die wichtigsten Schritte auf dem Weg dahin, was die größten Schwierigkeiten?
Das Fundament für die aktuellen Streiks ist durch das Organizing gelegt worden. Nach dem Auslaufen des Schwerpunktprojekts haben wir dann im vergangenen Jahr damit begonnen, betriebliche Strukturen zu entwickeln: Wir haben Vertrauensleute gebildet und einen Vertrauensleutekörper aufgebaut, aus dem heraus dann auch die Tarifkommission und entsprechende Forderungsdiskussionen entstanden sind. Die Tarifkommission hat Sondierungsgespräche mit dem Arbeitgeber geführt, aber der wollte nicht. Am Anfang der folgenden Auseinandersetzung standen zunächst niedrig niederschwellige Aktionen, z.B. Warnstreiks von zwei Stunden und die Aktion »Outdoor-Meeting« – eine Anspielung auf den Jargon von Amazon –, bei der die Belegschaft von ver.di informiert wurde. Die Beteiligung von rund 300 Beschäftigten hat Mut gemacht, weiter zu gehen und auch ganztätige Streiks zu probieren. Derzeit nehmen an den Streiks zwischen 600 und 800 Beschäftigte teil – von insgesamt rund 3 500 Beschäftigten an den beiden Hersfelder Standorten.
Das klingt nach Minderheit. Wie ist denn die Stimmung in Belegschaft gegenüber den streikenden bzw. streikbereiten KollegInnen? Gibt es Spaltungen?
Amazon wird ganz unterschiedlich wahrgenommen – je nach Erfahrungshintergrund der ArbeiterInnen. Die Beschäftigtenstruktur ist insgesamt sehr heterogen, es gibt die Gruppe der Älteren, dann die Langzeitarbeitslosen oder auch Menschen, die bisher nur prekär beschäftigt waren. Bei vielen von ihnen steht Amazon als Arbeitgeber hoch im Kurs. Neulich lag auch eine Unterschriftensammlung gegen die Aktivitäten von ver.di auf den Tischen, von der wir nicht genau wissen, wie es um die Urheberschaft bestellt ist.
Allerdings gibt es in der Belegschaft auch viele, die einen anderen Background haben und vorher bei Unternehmen, hier in der Region z.B. bei Babcock, gearbeitet haben, wo sie besser bezahlt wurden und auch gewerkschaftliche Erfahrungen gesammelt haben. Ein Problem bleibt, dass Amazon – für viele attraktive – Vollzeitarbeitsplätze anbietet, zugleich aber alle Möglichkeiten des Teilzeit- und Befristungsgesetztes nutzt. Die Beschäftigten befinden sich also bei Ausschöpfung aller Befristungsmöglichkeiten in einer bis zu zweijährigen ›Probezeit‹ und sind damit erpressbar. Die Geschäftsführung selbst betont immer, dass das Recht auf Streik respektiert werde – umgekehrt müsse aber auch das Recht, nicht zu streiken, respektiert werden. Gezielte Repressalien gegenüber den organisierten Beschäftigten, etwa Versetzungen auf schlechtere Arbeitsplätze, ließen sich bislang nicht nachweisen.
Im Frühjahr hat die ARD-Dokumentation »Ausgeliefert« über Leiharbeit bei Amazon für Furore gesorgt. Wie ist diese Sendung bei den Beschäftigten aufgenommen wurden? Hat Euch die öffentliche Empörung Rückenwind gegeben?
Die mediale Aufmerksamkeit und die öffentliche Empörung haben schon geholfen. Viele wurden dadurch bewegt, sich mit ihrem Arbeitgeber intensiver auseinandersetzen. Allerdings bezog sich die Dokumentation hauptsächlich auf die Situation der Leiharbeiter, deren Unterbringung und die Sicherheitsfirma, die die Leiharbeitskräfte kontrolliert.
In der Praxis von Amazon spielen Saisonkräfte jedoch ‚nur‘ im Vorweihnachtsgeschäft eine Rolle. Die Beschäftigungsverhältnisse sind wesentlich stärker vom Problem der Befristungen geprägt. Zudem hat Amazon in Hersfeld angekündigt, künftig ganz auf LeiharbeiterInnen verzichten zu wollen.
Der Konflikt bringt ver.di offenbar einige Erfolge in der Mitgliedergewinnung. Wie sind die Neumitglieder auf die verschiedenen Beschäftigtengruppen verteilt? Ist auch eine nennenswerte Zahl von befristet Beschäftigten darunter?
Wir haben nicht erfasst, wer von den neuen Mitgliedern befristet ist und wer nicht. Es lässt sich aber sagen, dass je nach Schicht und Werk durchaus auch viele Befristete dabei sind. Das wichtigste ›Instrument‹ dabei sind persönliche Kontakte und die kollegiale Vernetzung im Betrieb: Beschäftigte selbst sprechen andere an, diskutieren mit ihnen und versuchen, sie für die Auseinandersetzung und den Eintritt in die Gewerkschaft zu gewinnen.
Das Unternehmen hat sich bislang hartnäckig geweigert, mit ver.di zu verhandeln. Ist auf Seiten der Geschäftsleitung trotzdem Bewegung zu erkennen, und wie schätzt Ihr die Aussichten ein, dass noch Verhandlungen über einen Tarifvertrag zustande kommen?
ver.di hat Amazon nach den drei aufeinander folgenden Streiktagen am 22. Juli nochmals aufgefordert, sich zu bewegen – wenn das Unternehmen eine weitere Eskalation vermeiden wolle. Amazon sieht aber auch nach dem insgesamt neunten Streiktag zu wenig Gemeinsamkeiten mit ver.di, um über den geforderten Tarifvertrag zu verhandeln. Neben dieser Abwehrhaltung bestand die Reaktion darin, den Beschäftigten ein Weihnachtsgeld anzubieten. Das soll bei 400 Euro für die »Picker«und andere auf diesem Level, also das Gros der Versandbeschäftigten, liegen und bei 600 Euro für sog. »Leads«, d.h. Vorgesetzte. Laut Tarifvertrag Versandhandel müssten die Picker 1.240 Euro erhalten – man sieht an der enormen Differenz, die ja auch für die Löhne gilt, was von diesem großzügigen »Angebot« zu halten ist.
In Bad Hersfeld hattet Ihr am 19. Juli zu einer großen Streikversammlung eingeladen, um die Situation gemeinsam mit allen Aktiven zu besprechen. Man hat den Eindruck, dass hier eine neue Offensive gestartet wurde, ablesbar etwa an den von Dir erwähnten aufeinanderfolgenden Streiktagen. Wie ist die Stimmung unter den KollegInnen, und habt Ihr Beschlüsse zum weiteren Vorgehen gefasst?
Eigentlich war für den 19. Juli nur eine Streikversammlung angesetzt, bei der wir gemeinsam auswerten wollten, welche Resonanz wir in der Öffentlichkeit haben, wie die Einschätzung der KollegInnen zu den bisherigen Erfahrungen ist, wo wir stärker werden müssen etc. Daraus ist aber eine Stimmung entstanden, die dazu geführt hat, weitere Streiktage dran zu hängen: den Samstag und dann auch den darauf folgenden Montag. Die Beschäftigten sind, auch nach dem »Angebot« von Amazon bereit, weiter zu streiken – und wir setzen dabei auf das Überraschungsmoment. Der Arbeitgeber kann sich nicht auf Ruhe einstellen, und er kann nicht kalkulieren, wann und wie wir weiter machen. Wir haben beschlossen, unberechenbar zu bleiben.
Ein anderes wichtiges Thema der Streikversammlung war die Frage, wie wir weiter daran arbeiten können, den innerbetrieblichen Zusammenhalt zu stärken.
Wie steht es denn um die Unterstützung durch Öffentlichkeit, soziale Bewegungen oder Politik, gibt es sie überhaupt? Nordhessen ist ja eher als strukturschwache Region bekannt und Amazon ein Arbeitgeber, der für die kommunale Politik und für die Angehörigen der Amazonier durchaus Relevanz hat…
Der Einzugsbereich, aus dem Amazon Beschäftigte rekrutiert, ist sehr groß. Viele kommen nicht von hier, sondern wohnen 60, 70 Kilometer entfernt und pendeln jeden Tag. Das lokale Erpressungspotenzial ist insofern nicht so hoch. Andererseits bedeutet das auch, dass die Belegschaft sehr weit verstreut lebt, was z.B. Konsequenzen für die Streikorganisation hat. Schon die beiden Werke in Hersfeld liegen ziemlich weit auseinander, und man muss den Kontakt und die Verständigung zwischen den beiden Belegschaften organisieren. Bislang ist das aber ganz gut gelungen: Bei den Streiks bilden sich Fahrgemeinschaften, wir organisieren Tagesstreiks mal vor dem einen, mal vor dem anderen Werk, und mit der »Schildehalle« haben wir ein zentrales Streiklokal gefunden, das einen Treffpunkt bildet, um sich auszutauschen. Darüber hinaus haben wir auch Kundgebungen in Hersfeld organisiert, und ich hatte den Eindruck, dass unser Anliegen in der Öffentlichkeit schon ankommt. Nichts gehört haben wir bislang allerdings vom Bürgermeister der Stadt, der zur CDU gehört.
Auch Amazon bemüht sich allerdings um die Politik und um das Image des Unternehmens. Im Mai hat die PR-Abteilung der Luxemburger Zentrale zu einem Tag der Offenen Tür in Hersfeld eingeladen und dabei auch ein paar Politiker organisiert. ver.di hatte das zum Anlass genommen, parallel zu einem zweistündigen Warnstreik aufzurufen. Vertreter von SPD, den Grünen und der Linken haben dabei auch mit den Streikenden gesprochen und ihre Unterstützung für deren Anliegen signalisiert. Der FDPler hat die Streikenden zwar begrüßt, sah sich aber nicht zu einer Stellungnahme in der Lage – und der CDUler hat sich durch die Hintertür ins Werk geschlichen.
Was erwarten die Belegschaften und ver.di denn an Unterstützung durch die Öffentlichkeit?
Es gab schon früher, aber insbesondere nach der Ausstrahlung der Dokumentation breitere Diskussionen über einen Boykott von Amazon. ver.di selbst ruft dazu nicht auf. Es schadet aber auch nichts, dem Unternehmen zu schreiben, dass man als Kunde bessere Arbeitsbedingungen, weniger Stress und Leistungskontrolle oder faire Tarife für die Beschäftigten fordert. Darüber hinaus hatten wir vor einer Weile einen Versand-Beileger entwickelt – eine Idee, die wir wieder aufgreifen könnten.
Eine letzte Frage: Gibt es Verbindungen zwischen den streikenden Belegschaften in Leipzig und Bad Hersfeld – oder gar zu anderen Niederlassungen? Wenn es gelänge, den Anschluss an den ver.di-Tarifvertrag Handel herzustellen, wäre dies doch sicher auch für die derzeit nicht streikenden Belegschaften attraktiv, oder?
Ja, aber so weit sind wir noch nicht. Das hängt damit zusammen, dass die Logistikzentren in Graben, Werne, Rheinberg, Pforzheim und Koblenz alle erst seit zwei bis drei Jahren ›am Netz sind‹ – nur die erste Niederlassung in Hersfeld und das Zentrum in Leipzig haben eine längere Tradition. Diese beiden Belegschaften haben sich auch wechselseitig während der Streiks besucht. Darüber hinaus und jenseits der Treffen von Tarifkommis¬sions¬mitgliedern gibt es auch direkte kolle¬giale Verbindungen zu den Beschäftigten anderer Werke, es gab ein gemeinsames Wochenende und mittlerweile auch ein werksübergreifendes Facebook-Forum. Aber wir haben das erwähnte Problem, dass es sich um jeweils selbstständige Unternehmen handelt, dass die neuen Vertriebszentren noch nicht lange existieren und dass die Mehrzahl der Beschäftigten nur befristete Verträge erhält.
Am 14. Juli fand ein Vernetzungstreffen statt, an dem Tarifkommissionsmitglieder beider Streikstandorte und VertreterInnen der anderen Niederlassungen teilgenommen haben. Deutlich wurde, dass wir eine bundesweite Vernetzung brauchen und die Tarifbewegung in die anderen Standorte tragen wollen. Daran wollen wir arbeiten. Bis die Belegschaften dort soweit sind, werden wir die Geschichte von Amazon in Hersfeld und Leipzig noch ein bisschen umschreiben und weiter treiben.