Politische Bildung in Schule und Wissenschaft – unter vermeintlichem Neutralitätsgebot

Dossier

#wirsindnichtneutral - Kampagne von schule-ohne-rassismusDas Rechtsgutachten der Cellex Stiftung bestätigt: „Politische Bildung und Demokratiearbeit sind stets auf ethische Werte und Verfassungsziele gerichtet und deshalb nie ,neutral‘.“ Das bestärkt die wichtige Arbeit vieler zivilgesellschaftlicher Vereine. Jetzt ist es an allen anderen, klar Position zu beziehen: Neutrale Zivilcourage gibt es nicht! Immer wieder üben Politik und Behörden Druck auf Vereine aus, sich politisch „neutral“ zu verhalten. Das hat eine Streuwirkung: Viele Vereine sind verunsichert und scheuen davor zurück, sich zu positionieren – gegen extrem rechte Ideologien und vor allem gegen extrem rechte Strukturen und Parteien wie die AfD. Das neue Gutachten der Cellex Stiftung externer Link macht jedoch klar: „Politische Bildung und Demokratiearbeit sind stets auf ethische Werte und Verfassungsziele gerichtet und deshalb nie ,neutral‘…“ Kommentar von Hannah Eitel und weitere Infos zum Gutachten am 15. August 2024 externer Link („Politische Bildung ist nie neutral!“) bei der Heinrich-Böll-Stiftung – siehe weitere Argumente und Initiativen:

  • „Die Forderung, nicht politisch zu sein, ist politisch“: Tut sich Wissenschaft einen Gefallen damit, dem Ideal der Wertfreiheit zu entsprechen? New
    Im Interview von Annette Leßmöllmann vom 2. Dezember 2024 bei Wissenschaftskommunikation.de externer Link erklärt die Wissenschaftlerin Amrei Bahr, an welchen Punkten sie die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland in Gefahr sieht – und was prekäre Arbeitsverhältnisse damit zu tun haben: „Wissenschaftsfreiheit ist die Basis unserer Arbeit, weil sie uns als grundgesetzlich verbrieftes Recht erlaubt, Themen, Methoden und Inhalte frei zu wählen und darüber frei ins Gespräch zu kommen. Sie soll Interventionen von außen verhindern, mit denen der Versuch unternommen wird, aus wissenschaftsfremden Gründen auf Wissenschaft Einfluss zu nehmen. (…) In Deutschland gibt es zwei Gründe, weshalb wir uns um Wissenschaftsfreiheit Sorgen machen müssen. Der erste Grund trat eindrücklich in der so genannten Fördergeld-Affäre zutage. Hier stand zumindest der Verdacht im Raum, dass Fördergelder auch aufgrund von politischen Einstellungen vergeben oder entzogen werden könnten. Ich halte das für ein symptomatisches Problem für die Förderung von Forschung über Drittmittel, weil die grundsätzlich eine Steuerungsmöglichkeit eröffnet, die man bei einer in die Breite gestreuten Grundfinanzierung nicht hat. Drittmittel-Förderung ermöglicht es, thematisch Schwerpunkte zu setzen oder sich aufgrund von anderen Kriterien auszusuchen, wen man fördert – und das kann problematisch sein. (…) Der zweite Grund, aus dem ich glaube, dass wir uns in Deutschland Sorgen um die Wissenschaftsfreiheit machen müssen, ist, dass die Arbeitsverhältnisse der meisten Wissenschaftler*innen prekär sind. Sie sitzen in der Regel auf befristeten Arbeitsverträgen, die sich, zum Teil mit Lücken, aneinanderreihen. Für die meisten ist nach zwölf Jahren Schluss, da greift die Höchstbefristungsdauer des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG). Dann müssen sie die Wissenschaft verlassen, was dazu führt, dass man einiges unternimmt, um die minimale Chance zu erhalten oder gar zu vergrößern, dass man im Wissenschaftsbetrieb bleibt. Das führt wiederum dazu, dass man sich manches nicht traut. Etwa, dass man manche Dinge wissenschaftlicher oder politischer Art nicht sagt, weil man Angst hat, dass einem das später zum Nachteil wird. Die Anpassung führt dazu, dass Wissenschaftler*innen nicht in der Weise frei sind, wie es eigentlich wünschenswert wäre. (…) Wir können exemplarisch beobachten, was diese Kultur der Angst anrichtet, wenn wir uns die Diskussion um die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus Anfang dieses Jahres ansehen. In den Sozialen Medien kam häufig die Frage, ob man als Wissenschaftler*in eine solche Demonstration besuchen und sich öffentlich äußern dürfe. Wohlgemerkt ging es dabei nicht darum, sich zu einer einzelnen Partei, sondern zur Demokratie zu bekennen, die die Basis unserer Arbeit darstellt. Insofern finde ich es bestürzend, dass sich viele Kolleg*innen, sowohl in den sogenannten früheren und mittleren Karrierestufen als auch Verbeamtete, gefragt haben, ob man öffentlich Stellung beziehen dürfe. (…) Ich denke, man muss sehen, dass Begriffe wie Neutralität und Wertfreiheit ihrerseits politisch sind. Die Forderung, nicht politisch zu sein, ist politisch. Ich glaube, dass wir uns als Wissenschaft keinen Gefallen damit tun, wenn wir versuchen, diesem Ideal des Nicht-Politischen, Wertfreien zu entsprechen. Auch wenn ich nichts sage, mich enthalte, ist das politisch. Man kann in dieser Situation nicht anders, als sich zu positionieren. Das sollte ich dann auch offenlegen, anstatt zu versuchen, es Leuten recht zu machen, die ihrerseits häufig mit der Forderung nach Wertfreiheit und politischer Neutralität eine politische Agenda verfolgen und denen wir damit in die Karten spielen. (…)Ich glaube auch, dass in der Wissenschaft noch nicht alle verstanden haben, dass es fünf vor zwölf ist und wir uns große Sorgen machen müssen. Ich hoffe, dass auch anderen klar wird, an welcher Stelle wir gerade stehen und dass wir etwas tun müssen, damit es nicht noch schlimmer kommt. Ich glaube, Demokratie muss beispielsweise auch in den Gremien von Hochschulen gelernt werden. Dort sitzen prekär Beschäftigte einer auf Lebenszeit verbeamteten Professor*innenschaft gegenüber. In den Gremien gibt es die Professorenmehrheit und andere Einschränkungen dafür, Demokratie wirklich zu leben. Das zu ändern wäre ein sinnvoller Schritt von vielen, um sicherzustellen, dass sich an den Hochschulen Demokratieverständnis und -verantwortung weiterentwickeln. Auch dafür sollten Abhängigkeitsverhältnisse reduziert werden, damit die Leute sich nicht aus Angst zurückhalten.“
  • Politische Bildung: Demokratie kann man nicht „beibringen“
    Um unsere Demokratie zu festigen und zu verteidigen, soll im Fach Politik gelehrt werden, wie das politische System „verfasst“ ist. Was ist aber tatsächlich notwendig, damit Schule diesen Auftrag einlösen kann?
    In der Schule selbst ist im Alltag des Unterrichts wenig Demokratie zu erleben. Eine Mitverantwortung der Schülerinnen und Schüler bleibt in der Regel randständig. Im Unterricht ist fraglos das zu lehren und zu lernen, was die in demokratischen Wahlen (von Erwachsenen) legitimierten Parlamente, Regierungen und deren Administration in eher traditionellen Curricula festgelegt und auferlegt haben. Das mag alles richtig und sinnvoll sein, aber die Heranwachsenden haben fast keinen Einfluss darauf, welche Schwerpunkte sie setzen würden und wie sie ihr Lernen gestalten möchten. (…) Die Spannung zwischen Individualität und Sozialität ist als demokratisches Prinzip immer wieder offen und konstruktiv auszubalancieren. Da reicht es nicht, dies als Unterrichtsstoff zu vermitteln! Es sollte bereits im Alltag der Schule ‒ in angemessener Weise ‒ erfahren und verinnerlicht werden. In den gängigen Formen des Unterrichts ist das aber nur begrenzt möglich. Das kann man als „in Ordnung“ und „alternativlos“ einschätzen, aber man wird die Heranwachsenden kaum dafür gewinnen, sich aktiver und verantwortungsbewusst in die Arbeit an aktuellen Herausforderungen einzubringen. (…) Konsequent wäre es, wenn die Schülerinnen und Schüler individuell nach eigenen Lernplänen arbeiten dürfen, die sie gemeinsam mit Lehrenden und Eltern in unterschiedlichen Zeitperspektiven erarbeiten. Die etablierten jahrgangsbezogenen Lehrpläne wären zu „Kompetenz-Aufbau-Modellen“ weiterzuentwickeln: Die Lernenden sollten erst dann zur nächsten thematischen Einheit fortschreiten, wenn sie die dafür erforderlichen Kompetenzen erfolgreich und verlässlich (und nicht nur im „sozialen“ Vergleich „ausreichend“) erarbeitet haben. Diese individuelle Lernarbeit müsste eingebunden sein in heterogene Gruppen, in denen die individuelle Arbeit vorbereitet, unterstützt und auch als soziale Verpflichtung eingefordert wird. Diese Gruppen sollten mit Vorhaben arbeiten, die sie für sich (oder gemeinsam mit anderen Gruppen) entworfen und gewählt haben. Erforderliche oder wünschenswerte Teilaufgaben sollten von einzelnen Schülerinnen und Schülern bearbeitet und in die gemeinsame Arbeit eingebracht werden. Als „demokratisch“ ist diese Arbeit zu verstehen, wenn beziehungsweise weil zum einen das Freiheitsversprechen der individuellen Entfaltung so weit wie möglich eingelöst wird (oder zumindest glaubhaft erscheint), und zum anderen die Lernarbeit als eine gemeinsame erlebt werden kann, zu der alle den ihnen möglichen Beitrag einbringen müssen. Erfahren werden kann dabei, dass Demokratie nicht nur als öffentlich-politisches Verfahren sinnvoll ist, sondern als Prinzip in alltäglichen Lebensbereichen bedeutsam werden soll…“
    Artikel von Jörg Schlömerkemper bei der GEW am 12. November 2024 externer Link aus der E&W 11/2024
  • Demokratieverantwortung der Wissenschaft: Jetzt erst recht!
    „Selten haben sich politische Ereignisse mit Demokratierelevanz derart überschlagen wie am 6. November 2024. Morgens die Nachricht, dass Trump in den USA die Wahl gewonnen hat; nachmittags die Info, dass die Sondierungen für eine Brombeer-Koalition in Sachsen gescheitert sind; und abends dann konnten wir live dabei zusehen, wie sich die Ampelregierung aufgrund der unsäglichen Dauerblockadehaltung von Lindner et al. endgültig zerlegt hat. (…) Stell Dir vor, die Feind_innen der Demokratie stehen vor der Tür und erbitten Einlass. Sie sagen: „Hallo, wir sind gekommen, um Eure Demokratie abzuräumen und mit ihr all die Grundrechte, auf die ihr Euer Zusammenleben gründet — können wir reinkommen?“ An der Tür stehen einige Wissenschaftler_innen, sie schauen verwundert. „Wir können uns jetzt nicht für die Demokratie positionieren und denen verbieten, hier einzutreten: Wissenschaft sollte doch neutral sein!“, gibt ein_e Wissenschaftler_in zu bedenken. „Und woher wissen wir überhaupt, ob die Demokratie die beste Staatsform ist? Für die die besten Argumente sprechen? Das sollten wir erst einmal in Ruhe ausdiskutieren! Denn die einzige Autorität, die ich anzuerkennen bereit bin, ist das bessere Argument — Ihr wisst schon, Habermas! (…) Ist das eine zynische Beschreibung des Status quo? Überspitzt? Nun: Es sind exakt solche Diskussionen, die ich dieser Tage immer und immer wieder führe, an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Kontexten. Es ist kein Geheimnis, dass ich mich wiederholt dafür ausgesprochen habe, dass Wissenschaft Haltung zeigen sollte für unsere Demokratie. (…) Gleichwohl ist es schlicht ein Missverständnis, dass wir es hier mit Wissenschaft zu tun haben und dass dementsprechend auch die innerwissenschaftlichen Diskursregeln zur Anwendung kommen sollten (oder auch nur können). Der Kontext, in dem wir uns bewegen, ist der der Politik. Und Politik funktioniert nun einmal anders als Wissenschaft. Damit will ich keineswegs nahelegen, dass in der Politik die Güte von Argumenten nichts zählt. (…) Es ist zudem einigermaßen bezeichnend, dass von Wissenschaftler_innen ausgerechnet das Erfordernis einer Ergebnisoffenheit der Diskussion über den Status der Demokratie ausgerufen wird. Denn dass wir ergebnisoffene Diskussionen führen können, ist ja überhaupt erst ein Resultat der demokratischen Strukturen, innerhalb deren wir uns aktuell bewegen. (…) Keine Frage: Es gibt vieles an unserer Demokratie, das sich mit guten Gründen kritisieren lässt. Aber diese Demokratie ist die einzige, die wir haben. So unperfekt sie ist: sie ermöglicht es uns, produktiv über sie zu streiten. Und: Was einmal zerstört ist, lässt sich auch nicht mehr neu gestalten. Es ist daher auch an uns Wissenschaftler_innen, jetzt für diese Demokratie einzutreten. (…) Und es gibt noch etwas, das Wissenschaftler_innen ebenso wie wissenschaftliche Institutionen für die Demokratie tun können — sofern nicht schon längst geschehen: Sie können sich endlich von der Plattform X zurückziehen. Wer die Plattform weiterhin nutzt, trägt zu ihrer Relevanz und Legitimierung ebenso bei wie zur Normalisierung der sie überschwemmenden antidemokratischen Inhalte. (…) Was wir als Wissenschaftscommunity für die Demokratie tun können, fängt im Kleinen an — X verlassen ist ein guter Anfang. Fortsetzung folgt!“ Beitrag von Amrei Bahr vom 12. November 2024 auf ihrem Blog ‚Arbeit in der Wissenschaft‘ externer Link
  • #wirsindnichtneutral
    Welche Rolle soll und darf Politik im schulischen Alltag, im Unterricht spielen? Immer wieder hören wir von Verunsicherung; erst recht, seit die AfD das Neutralitätsgebot instrumentalisiert. Doch dieses bedeutet nicht, dass Unterricht politisch neutral sein muss.
    Schon auf dem Bundeskongress 2018 gaben Vertreter*innen der Bundeskoordination und der Landes- und Regionalkoordinationen eine Erklärung unter dem Motto #wirsindnichtneutral ab. Darin heißt es: „Wir sind überparteilich, aber nicht wertneutral, denn unsere Haltung basiert auf Artikel 1 des Grundgesetzes: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar.’ Sie ist gegründet auf den allgemeinen Menschenrechten und den Schulgesetzen der Bundesländer. Dem Beutelsbacher Konsens entsprechend setzen wir uns für eine humane Bildung und für eine diskriminierungsfreie Schulkultur ein, die sich aktiv gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit wendet.“
    Die Bundeskoordination freut es, wenn Lehrkräfte aktiv ihrer Verpflichtung nachkommen, demokratische Werte zu vermitteln, und die Bundesländer ihnen den Rücken stärken.
    Kultusministerium in Sachsen
    Dafür, was im Unterricht konkret möglich ist, gibt es ein aktuelles Beispiel aus Sachsen. Dort hatte die AfD in einer Kleinen Anfrage eine Lehrkraft diskreditiert. Diese hatte zum Thema Wahlen eine Grafik mit der Stimmverteilung von 18- bis 24-jährigen verteilt und die Bundeskoordinatorin zitiert: Als „dramatischsten Rechtsruck unter jungen Menschen, den die Bundesrepublik seit 1949 innerhalb einer Wahlperiode jemals erlebt hat“, hatte Direktorin Sanem Kleff die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen vom 1. September bezeichnet. Eine Testaufgabe für die 10. Klasse lautete laut der Anfrage: „Werte die Statistik zur Landtagswahl aus, indem du a) mögliche Ursachen für das Wahlverhalten erläuterst b) auf deren Grundlage ein Konzept entwirfst, um diesem Trend entgegenzuwirken.”
    Von der AfD nach dem „Erwartungsbild der Lehrerin“ gefragt, listete das Sächsische Kultusministerium eine Reihe Punkte auf, die mit einer solchen Frage thematisiert werden können: etwa die aktuelle Flüchtlings- und Migrationspolitik, Ost-West-Unterschiede und der Einfluss der Sozialen Medien. Das Ziel sei gewesen, Schüler*innen die Möglichkeit zu geben, Argumentations- und Diskursfähigkeit nachzuweisen und sie zur Reflexion anzuregen: „Diese Zielrichtung war für alle Schülerinnen und Schüler offensichtlich, die an den Unterrichtseinheiten zum Thema teilgenommen haben.“ Eine Reihe weiterer AfD-Fragen nach dem „eigentlichen Anliegen“ und inwieweit einer Lehrerin, die „zur Bewertung von Schülerleistungen politische Meinungen einer ihr genehmen Richtung ins Kalkül zieht, die Erziehung von jungen Menschen zu selbst denkenden, mündigen Bürgern zugetraut werden“ beantwortet das Ministerium nicht: „Das Fragerecht dient nach Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nicht dazu, die Staatsregierung zu einer Bewertung anzuhalten.“ (…)
    Von einer „Kampagne“ der AfD – in diesem Fall mit einem Meldeportal „Neutrale Lehrer“ – „dürfen sich Schulen, Schülerinnen und Schüler sowie Erziehungsberechtigte nicht irritieren und nicht einschüchtern lassen.““ Beitrag vom 11. November 2024 bei Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage externer Link
  • Der Campus als Schlachtfeld: Wie faschistische Politik den öffentlichen Diskurs zersetzt
    „… Indem sie den Wert von Bildung und Expertenwissen ablehnen, beseitigen faschistische Politiker auch jegliche Voraussetzung für eine anspruchsvolle Debatte. Ohne Bildung mit Zugang zu unterschiedlichen Perspektiven, ohne Respekt vor dem Fachwissen anderer, wenn der eigene Sachverstand nicht mehr ausreicht, und ohne eine Sprache, die hinreichend differenziert ist, um die Realität präzise zu beschreiben, wird eine vernünftige Diskussion unmöglich. Sobald aber Bildung, Fachwissen und Sprache unterminiert sind, bleiben nur noch Macht und Gruppenzugehörigkeiten übrig. Dies bedeutet keineswegs, dass Universitäten und Schulen für die faschistische Politik keine Rolle spielen. Aber sie dürfen im Kontext der Ideologie nur einen legitimen Standpunkt vertreten: den der dominanten Nation. Entsprechend sollen die Schulen ihre Schüler mit der herrschenden Kultur und ihrer mythischen Vergangenheit vertraut machen. So stellt die Bildung für den Faschismus entweder eine ernste Bedrohung dar oder sie wird zu einem Stützpfeiler der mythischen Nation. Kein Wunder also, dass Proteste und kulturelle Auseinandersetzungen auf dem Campus einem regelrechten politischen Schlachtfeld gleichkommen und landesweit Aufmerksamkeit erregen. Es steht schließlich eine Menge auf dem Spiel. (…)
    Derzeit wirft eine Kampagne von rechter Seite den Universitäten Scheinheiligkeit in Sachen Meinungsfreiheit vor. Ihr zufolge beteuern die Hochschulen zwar, diese in höchsten Ehren zu halten, gleichzeitig unterdrückten sie aber alle Positionen, die nicht links seien, indem sie auf dem Campus Demonstrationen gegen sie zuließen. In jüngster Zeit haben die Kritiker sozialer Gerechtigkeitsbewegungen eine wirksame Methode gefunden, um sich selbst als Opfer des Protests zu inszenieren: Sie behaupten schlicht, dass die Demonstrierenden ihnen ihre persönliche Meinungsfreiheit verweigern wollen. Diese Anschuldigungen dringen bis in die Seminarräume vor. (…)
    Faschisten nehmen an den Universitäten Professoren ins Visier, die sie für zu politisch – typischerweise für zu marxistisch – halten, und denunzieren dabei ganze Fachrichtungen. Sobald faschistische Bewegungen in liberal-demokratischen Staaten aufkommen, greifen sie bestimmte akademische Disziplinen bevorzugt an. So stehen zum Beispiel die Gender Studies weltweit seitens rechtsextremer Nationalisten unter Beschuss. Den Professoren und Lehrern in diesen Bereichen wird vorgeworfen, die nationalen Traditionen geringzuschätzen. Wann immer der Faschismus droht, denunzieren seine Vertreter und Förderer Universitäten und Schulen als Quellen „marxistischer Indoktrination“, des klassischen Schreckgespenstes faschistischer Politik. In der Regel verwenden sie diese Bezeichnung ohne jeglichen tatsächlichen Bezug zu Marx oder dem Marxismus; er dient lediglich als Mittel zur Verunglimpfung des Konzepts der Gleichheit. Aus diesem Grund werden Universitäten, die versuchen, auch marginalisierten Perspektiven einen gewissen intellektuellen Raum zu geben, als Brutstätten des „Marxismus“ verschrien. (…)
    In dem Maße, in dem der Faschismus über alle Grenzen hinweg auf dem Vormarsch ist, wächst gleichzeitig die Zahl derer, die fordern, Schulen und Universitäten mit Lehrkräften zu besetzen, die den nationalistischen oder traditionalistischen Idealen mehr Sympathie entgegenbringen. Die Vorgänge in Ungarn sind hierfür ein gutes Beispiel: Unmittelbar nachdem Viktor Orbán an die Macht gekommen war, verurteilte er die Schulen als Orte liberaler Indoktrination. In der Folge zentralisierte er das Bildungssystem, das zuvor unter der Kontrolle lokaler Behörden gestanden hatte, und führte einen Berufsverband ein, dem alle Lehrer beitreten mussten und der sie verpflichtete, „im Interesse der Nation“ zu wirken. (…)
    Ob Trump oder Orbán oder Erdog˘an: Unsere Universitäten dürfen sich nicht, weder wissentlich noch unwissentlich, an der Verbreitung derartiger nationaler oder faschistischer Mythen beteiligen. Worauf es dagegen ankommt: Bei einem Prozess, den man gelegentlich tendenziös als „Entkolonialisierung“ des Lehrplans bezeichnet, sollten ganz bewusst auch vernachlässigte Perspektiven einbezogen werden, um so sicherzustellen, dass Schülerinnen und Studierende einen umfassenden Blick auf die Akteure der Geschichte erhalten. Im Kampf gegen den Faschismus bedeutet eine derartige Anpassung nicht nur angebliche „politische Korrektheit“. Vielmehr leistet die Berücksichtigung der Stimmen all derjenigen, deren Existenz die Welt, in der wir leben, geformt und gestaltet hat, einen wichtigen Beitrag zur Erkenntnis der Welt – und damit auch zum wirksamen Schutz vor faschistischen Mythen
    .“ Artikel von Jason Stanley in den Blättern vom Oktober 2024 externer Link
  • Immer noch falsche Annahmen über das Neutralitätsgebot für Lehrkräfte im Umlauf: Die AfD (und andere) darf im Unterricht als rechtsextreme Partei thematisiert werden
    • Die AfD im Unterricht als rechtsextreme Partei thematisieren
      „Wie mit verfassungsfeindlichen Parteien im Unterricht umgehen? Diese Frage stellen sich derzeit viele Lehrkräfte und sind mit Blick auf die AfD verunsichert, ob das Gebot der parteipolitischen Neutralität einer kritischen Thematisierung entgegensteht.“ Der Rechtsexperte Hendrik Cremer macht im Interview vom 9. August 2024 beim Deutschen Institut für Menschenrechte externer Link deutlich: „Schulen müssen über die Gefahren verfassungsfeindlicher Positionen aufklären. (…) Maßgeblich ist, dass Lehrer*innen fundiert und sachlich über die Positionen von Parteien aufklären und sprechen. Dazu gehört im Fall der AfD auch, über ihre national-völkische Ideologie und ihre tatsächlichen Ziele aufzuklären. Die AfD darf insbesondere nicht verharmlost werden. Es muss vielmehr deutlich werden, dass sich die AfD zu einer rechtsextremen Partei entwickelt hat. Politische Bildung muss ihren Adressaten vermitteln, wofür die AfD steht und dass sie sich von demokratischen Parteien grundsätzlich unterscheidet. (…) Die AfD ist zwar demokratisch gewählt. Daraus zu schlussfolgern, es handele sich um eine demokratische Partei, greift aber deutlich zu kurz. Die Partei zielt auf die Abschaffung der freiheitlichen rechtstaatlichen Demokratie ab. Das Neutralitätsgebot besagt keinesfalls, dass Lehrkräfte sich nicht kritisch mit rechtsextremen Parteien auseinandersetzen dürfen. Vielmehr gehört es zum Bildungsauftrag, rassistische, antisemitische oder andere menschenverachtende Positionen als solche zu benennen und zu hinterfragen, auch wenn diese von demokratisch gewählten Parteien vertreten werden. Lehrkräfte dürfen sich nicht hinter dem Neutralitätsgebot verstecken. (…) Politische Bildung fußt auf der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes. Dies betonen auch die Schulgesetze der Länder und die Kultusministerkonferenz. Daher ist es geboten, Positionen, die die freiheitliche demokratische Grundordnung und damit die Menschenrechte angreifen, als solche einzuordnen. Das ist ein wesentlicher Bestandteil des Bildungsauftrags. Gerade die deutsche Geschichte hat gezeigt, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung eines Staates zerstört werden kann, wenn menschenverachtende Grundhaltungen nicht rechtzeitig auf energischen Widerstand stoßen und sich so verbreiten und durchsetzen können. (…) Es braucht mehr fächer- und formatübergreifende politische Bildung, zum Beispiel mit Projekttagen und Workshops zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Lehrkräfte sollten den Mut haben, sich kritisch mit Parteien, die menschenverachtende Ziele verfolgen, auseinanderzusetzen. Eines ist allerdings auch klar: Die AfD und andere rechtsextremistische Gruppierungen im Umfeld der Partei in ihrem Angriff auf die freiheitliche rechtsstaatliche Demokratie zu stoppen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Daher sollten sich sämtliche Akteure, insbesondere auf der lokalen Ebene, an der Aufklärungsarbeit über die AfD beteiligen. Die Zeit dafür drängt.“
    • Rechtsextremismus und Schulen: „Viele gehen fälschlicherweise davon aus, dass für Lehrer ein Neutralitätsgebot gilt“
      Vor den Landtagswahlen in Ostdeutschland diskutieren auch die Schulen über Demokratie und Rechtsextremismus. Ein Lehrer aus Thüringen hat eine „AG gegen rechts“ gegründet. Im Interview erklärt er, wie politisch es im Klassenzimmer zugehen darf – und wie er mit Schülern umgeht, die mit der AfD sympathisieren…“ Interview von Kathrin Müller-Lancé vom 12. August 2024 in der Süddeutschen Zeitung online externer Link – ab da hinter paywall
  • Debatte um „Beutelsbacher Konsens“ und „Neutralität“ im Klassenzimmer: Lehrkräfte müssen nicht politisch neutral sein – im Gegenteil
    „… Ein Irrglaube hält sich hartnäckig in Debatten rund um die Themen im Klassenzimmer: politische Neutralität. Viele rechte Influencer*innen versuchen in den sozialen Medien immer wieder über ein für Lehrerinnen und Lehrer vermeintlich geltendes Gebot der Neutralität, die kritische Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus im Unterricht zu verhindern. Dabei müssen Lehrkräfte gar nicht politisch neutral sein – im Gegenteil. „Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland müssen nicht politisch neutral sein. Es ist ihre durch das Grundgesetz und die Landesschulgesetze festgelegte Aufgabe, Schüler*innen demokratische Werte wie Menschenrechte und Toleranz zu vermitteln“, erklärt der stellvertretende Vorsitzende der GEW, Andreas Keller. Eine strikte Neutralität könne wichtige Diskussionen verhindern und die Bildung der Schüler*innen beeinträchtigen, da politische Themen zur Entwicklung der Schüler*innen beitragen, erklärt der GEW-Vize. „Es ist daher entscheidend, dass Lehrkräfte in der Demokratieerziehung politische Werte vermitteln, um Schüler*innen auf eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft vorzubereiten.“ (…) Das gilt auch für die Thematisierung der AfD im Unterricht. Maike Finnern, die Vorsitzende der GEW, hatte Lehrkräfte im Interview mit der Stuttgarter Zeitung dazu aufgerufen, sich mit der AfD im Unterricht zu beschäftigen. „Die AfD ist eine Partei mit verfassungsfeindlichen Tendenzen. Das dürfen und sollen Lehrerinnen und Lehrer auch im Klassenraum so sagen“, sagte Finnern. „Am besten tun sie das, indem sie konkrete Aussagen und Vorgänge analysieren und mit den Schülerinnen und Schülern besprechen.“ (…) Wenn über (Politik-)Unterricht in der Schule diskutiert wird, ist oft vom Beutelsbacher Konsens die Rede. Dessen Empfehlungen sind aber nicht mit politischer Neutralität zu verwechseln! Der Beutelsbacher Konsens besagt, dass kontroverse Themen auch kontrovers behandelt werden müssen. Lehrkräfte dürfen ihre eigene Sicht ausdrücken, aber nicht als allgemeingültig darstellen. Sie müssen die unterschiedlichen Perspektiven und alle wichtigen Argumente vorstellen, damit sich die Schüler*innen ein eigenes Urteil bilden können. Der Beutelsbacher Konsens ist ein in den 1970er-Jahren formulierter Minimalkonsens für den Politikunterricht in Deutschland, der folgende drei Prinzipien festlegt: das Überwältigungsverbot (keine Indoktrination), das Gebot der Kontroversität (Beachtung kontroverser Positionen in Wissenschaft und Politik im Unterricht) und die Schülerorientierung (Befähigung der Schüler*innen, in politischen Situationen ihre eigenen Interessen zu analysieren)…“ GEW-Pressemitteilung vom 25. April 2024 externer Link („Lehrkräfte müssen nicht neutral sein“)
  • Debatte um „Neutralität“ im Klassenzimmer: Lehrkräfte müssen nicht neutral sein
    Lehrkräfte haben in Deutschland die gesetzliche Pflicht, Schüler*innen demokratische Werte wie Menschenrechte und Toleranz zu vermitteln – sie müssen nicht politisch neutral sein. Doch dieser Irrglaube hält sich hartnäckig…“ Ein Faktencheck vom 25.04.2024 bei der GEW externer Link
  • GEW fordert kritischen Umgang mit AfD im Unterricht – andere rufen sofort nach dem Hufeisen
    • GEW: Lehrergewerkschaft fordert kritischen Umgang mit AfD im Unterricht
      „… Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat die Lehrkräfte in Deutschland zu einem kritischen Umgang mit der AfD im Schulunterricht aufgerufen. „Die AfD ist eine Partei mit verfassungsfeindlichen Tendenzen. Das dürfen und sollen Lehrerinnen und Lehrer auch im Klassenraum so sagen“, sagte GEW-Chefin Maike Finnern der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten. Dies gelinge am besten, wenn Lehrerinnen und Lehrer „konkrete Aussagen und Vorgänge“ rund um die AfD analysierten und mit den Schülerinnen und Schülern besprächen. „Ich ermuntere Lehrkräfte nicht nur dazu, die Auseinandersetzung mit der AfD auch im Klassenraum zu suchen. Ich rufe sie auch ausdrücklich dazu auf“, sagte Finnern. Sie fügte hinzu: „Lehrerinnen und Lehrer schwören auf die Verfassung – und darauf, diese zu verteidigen.“ (…) Finnern äußerte sich auch zur Angst vieler Lehrkräfte vor Konsequenzen, wenn sie auf Demonstrationen gegen Rechtsextremismus gingen. Derartige Folgen seien aber nicht zu befürchten, sagte sie. Lehrkräfte hätten, wie andere Staatsbürger auch, das Recht, gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren, sagte die GEW-Chefin. „Aus unserer Sicht haben sie sogar mehr als andere die Pflicht, sich für Demokratie und Vielfalt starkzumachen sowie ihre Stimme gegen Rechtsextremismus und verfassungsfeindliche Umtriebe zu erheben.“…“ Agenturmeldung vom 29. März 2024 in der Zeit online externer Link
    • Was Lehrer sollen: Debatte über Umgang mit AfD im Unterricht
      „… Vom Deutschen Lehrerverband kam teilweise Zustimmung. Er plädierte aber für einen „breiten Blick“: „Wir haben Verfassungsfeinde links, wir haben sie rechts, wir haben sie im religiösen Bereich. Das muss man auch ganz offen mit den Schülern besprechen“, sagte Verbandspräsident Stefan Düll am Freitag der Deutschen Presse-Agentur. Er nannte es normal für den unterrichtlichen Kontext, wenn bestimmte Gruppierungen genannt würden, wenn diese wie Teile der AfD vom Verfassungsschutz als gesichert extremistisch eingestuft seien. Ähnlich äußerte sich der CDU-Bildungspolitiker Thomas Jarzombek, der jedoch auch Bedenken deutlich machte…“ Beitrag vom 01.04.2024 im Migazin externer Link
  • Politische Neutralität in gesellschaftlichen Krisensituationen? Zur Verantwortung von Schulen und Lehrkräften
    Der Beitrag beleuchtet die Rolle der politischen Bildung und die Verantwortung von Schulen und Lehrkräften in Zeiten gesellschaftlicher Krisen. Dabei geht er zunächst auf die psychischen Konsequenzen von Diskriminierung und anti-demokratischen Einschüchterungsstrategien ein und darauf, was das für den schulischen Kontext bedeutet. Anschließend wird diskutiert, wie Schulen als politische Bildungsorte fungieren können, ohne dabei ihre Neutralität im politischen Wettbewerb zu verletzen; wie sie aktiv demokratische und menschenfreundliche Werte fördern und gleichzeitig ihrem Schutzauftrag gegenüber den Schüler:innen nachkommen können. Der Text hebt hervor, dass politische Bildung sich stetig neuen gesellschaftlichen Herausforderungen stellen und demokratiefördernde Methoden entwickeln muss, um Schüler:innen auf die mündige Teilnahme am demokratischen Prozess vorzubereiten. Auftrag von Schulen und Lehrkräften ist es, sich gegen menschenfeindliche und anti-demokratische Äußerungen und Bestrebungen klar zu positionieren im Sinne der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.“ Abstract zum Beitrag von Hannah Maschong, Phillip Gutberlet, Nora Oehmichen, Felix Peter und Antonia Schuschke vom 7.3.2024 in PsychArchives externer Link

Grundinfos:

  • #nichtneutral – Schule unter Druck. Wertebildung am Pranger?
    Broschüre externer Link  beim Netzwerk für Demokratie und Courage
  • Demokratie braucht Politische Bildung, keine Neutralität!
    Dossier externer Link der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung e. V.
  • #nichtneutral – Es gibt kein Neutralitätsgebot                       
    Flyer externer Link der Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten Sachsen e.V.
  • Warum wir nicht neutral sein dürfen
    Handreichung beim Netzwerk für Demokratie und Courage externer Link zur Einordnung wertegeleiteter Bildung und Erziehung
  • Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage externer Link (Projekt von Aktion Courage e. V. externer Link)
  • Repeat after me: Das sogenannte Neutralitätsgebot für Lehrkräfte ist ein MYTHOS, der politisch instrumentalisiert wird und kritisch hinterfragt werden muss
    Das sogenannte Neutralitätsgebot für Lehrkräfte wird häufig als rechtliche Verpflichtung dargestellt, existiert jedoch in dieser Form nicht. Es ist nirgendwo gesetzlich verankert, sondern wird aus allgemeinen Prinzipien wie der staatlichen Neutralität interpretiert. Ein wichtiger Bezugspunkt ist der Beutelsbacher Konsens, der für die politische Bildungsarbeit formuliert wurde, aber rechtlich nicht bindend ist…“ Work in Progress auf google-docs externer Link (ohne Autor)

Siehe auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=225593
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