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Frankreichs umkämpfte Arbeitsrechts-„Reform“, Teil 20 – und 1. Mai 2016 (Stand: 02.05.2016)
Artikel von Bernard Schmid vom 2. Mai 2016
„Strategie der Spannung“ von Polizei & Regierung in Frankreich geht weiter (mit und ohne Hilfe durch die Glasbruch-Fraktion) / Befürchtungen werden laut, es könne „Tote“ geben / Erstmals seit 1979: gewaltförmige Auseinandersetzungen bei 1. Mai-Demonstration Frankreich / Doch Aufspaltung misslingt / Am Abend: Die besetzte Place de la République in Paris wird polizeilich geräumt / Protestbewegung wird jedoch fortgesetzt, Platzbesetzung wohl auch…
Gewaltförmige Zusammenstöße und polizeiliches Vorgehen bei 1. Mai-Demonstrationen sind von manchen Ländern her bekannt. Etwa aus der Türkei (1977, 2013…) oder aus dem Iran. Mit Frankreich hingegen würde man sie wohl eher nicht spontan in Verbindung bringen. Es wird Zeit, diese Meinung zu ändern. Jedenfalls in diesem Jahr, in welchem die seit Ende Februar/Anfang März 2016 anhaltenden Konflikte um das geplante „Arbeitsgesetz“ (Loi Travail) auch die 1. Mai-Mobilisierungen prägten, sieht es da völlig anders aus.
Der Präsidentschaftskandidat der französischen Linkspartei (Jean-Luc Mélenchon) erklärte soeben öffentlich, wenn es so weitergehe, fürchte er „einen Toten“ bei den anhaltenden Demonstrationen in Frankreich respektive ihrer polizeilichen Behandlung. (Vgl. u.a. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2016/05/01/97001-20160501FILWWW00085-manifestations-melenchon-craint-un-deces.php oder http://www.lexpress.fr/actualites/1/politique/melenchon-sur-la-violence-dans-les-manifs-au-rythme-ou-on-va-quelqu-un-va-mourir_1788011.html ) Er ist nicht der Erste und nicht der Letzte, der dieser Befürchtung Ausdruck verleiht. Bereits früher war, in den Demonstrationen und anderswo, Ähnliches geäußert worden. (Vgl. bspw. https://www.facebook.com/jeanpierre.anselme.7/posts/552103404950588 , unter Bezugnahme auf Malik Oussekine – im Dezember 1986 zu Tode geprügelt – und Rémi Fraisse, den letzten Demo-Toten in Frankreich; er wurde in der Nacht vom 25. zum 26. Oktober 2014 an der damaligen Staudamm-Baustelle im südwestfranzösischen Sivens durch eine Schockgranate tödlich getroffen, in den unteren Rückenbereich und als er mit erhobenen Händen auf dem Platz stand, wie man inzwischen weiß. Vgl. bspw. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2016/03/25/97001-20160325FILWWW00128-mort-de-remi-fraisse-il-avait-les-mains-levees-lors-du-lancer-de-la-grenade.php )
Am gestrigen 1. Mai in Paris – dem internationalen Kampftag der Arbeiterklasse… oder am „Tag der Arbeit“ respektive an der fête du travail, wie man in Deutschland und Frankreich respektive seit Adolf Hitler und Philippe Pétain von offizieller Seite sagt – kam es erneut zu gewaltförmigen Auseinandersetzungen. („Erneut“ in Bezug auf die vergangenen Wochen, spätestens seit dem 17. März dieses Jahres). Dies ist eine Premiere an einem 1. Mai seit dem Frühjahr 1979, also dem Jahr, in dem heftige Konflikte um Massenentlassungen in der französischen Stahlindustrie die Maidemonstrationen prägten. Also vor nunmehr 37 Jahren.
In der französischen Hauptstadt wäre die 1. Mai-Demonstration beinahe auseinander gerissen worden. „Beinahe“, denn zum Glück spielten die wichtigsten Gewerkschaften, die bei der Demonstration vertreten waren – insbesondere die CGT und Solidaires – bei dem Versuch einer Aufspaltung der Demonstration nicht mit.
Am heftigsten begann es zunächst an einer ähnlichen Stelle, wo es in Paris bereits bei den Demonstrationen vom vergangenen Donnerstag, den 28. April 16 „gerappelt“ hatte. Also kurz vor und kurz nach der Einbiegung von der Avenue de Daumesnil in den Boulevard Diderot, welcher zur Place de la Nation – dem Abschlussort beider Demonstrationen – führt. Die erneut zahlreich auftretende Polizei zeigte sich (einmal mehr) provokant und versperrte dem Zug zunächst bei dem Versuch, geradeaus voran zu kommen, den Weg. Dies war wiederum der Augenblick, auf den bestimmte Demonstrantengruppen nur gewartet hatten, um in Aktion zu treten. Tausende von Menschen waren mit Taucherbrillen, Masken oder Tüchern, mit Zitronen und Augenserum (aus destilliertem Wasser) ausgerüstet, Hunderte waren auch mehr oder minder „voll“ vermummt. Dies ist zum Teil die Antwort auf seit mindestens anderthalb Monaten – seit den Demonstrationen vom 17., 24. und 31. März anhaltenden – polizeilichen Strategie der Spannung. Es war auch eine Reaktion auf die staatsoffizielle Herausforderung, welche Premierminister Manuel Valls am Vorabend ausgesprochen hatte. In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai „verwarnte“ er offiziell die casseurs (wörtlich „Kaputtmacher“, französisches Äquivalent zum deutschen Ausdruck „Chaoten“) und kündigte ein rigoroses Vorgehen gegen dieselben an (http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2016/05/01/97001-20160501FILWWW00008-valls-adresse-une-mise-en-garde-aux-casseurs.php ). Wenn ein solch energischer Ausspruch von SO EINEM kommt – also von einem kriminellen Aas wie dem Rechtsaußen-Sozialdemokraten Valls, welcher als sein politisches Vorbild Georges Clemenceau angibt, den damaligen Innenminister und späteren Regierungschef, der 1906 (und nochmals 1908 als Premierminister) auf streikende Arbeiter schießen ließ (Vgl. http://www.lemonde.fr/politique/article/2014/04/03/michel-winock-l-autorite-et-la-fermete-de-clemenceau-un-modele-pour-valls_4394658_823448.html und http://www.lefigaro.fr/politique/le-scan/coulisses/2014/07/04/25006-20140704ARTFIG00235-manuel-valls-interviewe-dans-le-bureau-de-clemenceau-son-modele.php im Zusammenhang mit http://www.jaures.eu/ressources/de_jaures/violence-patronale-violence-ouvriere-jaures-et-clemenceau-1906/ sowie https://fr.wikipedia.org/wiki/Grève_de_Draveil-Villeneuve-Saint-Georges ) -, dann muss das wirklich wie eine Einladung wirken, genau das zu tun, was SO EINER als das Übel schlechthin darstellt.
Nun ist das Gegenteil von falsch nicht unbedingt und immer richtig. Und, ja, es stimmt: Unter den Motiven für das Auftreten von militant agierenden Demonstrant/inn/en mischen sich unterschiedliche Beweggründe. Der Wille zum Widerstand gegen eine autoritär agierende Regierung und ihre Polizei, aber auch Abenteuerlust bei manchen jüngeren Leuten, bei manchen Grüppchen vom „harten Kern“ auch ein dem Hooligantum vergleichbares soziales Phänomen. Aber auch die Präsenz von polizeilichen Agenteurs provocateurs und Zivilpolizisten darf nicht immer vernachlässigt werden.
Dennoch: Die bebrillt, vermummt oder sonst wie ausgestattet auftretenden Demonstrant/inn/en sind weniger denn je isoliert. Die massive polizeiliche Gewalt, die seit Wochen vorherrscht und das Klima prägt, hat für nicht geringe Solidarisierungseffekte gesorgt. Was zu beobachten ist, ist einerseits, dass der Staatsmacht eine „Entmischung“ unter den aktiv Protestierenden immer weniger gelingt. Dies ist zum einen positiv, weil eine Aufspaltungsstrategie, die Protestpotenziale in „gut“ und „böse“ aufzuteilen und aufzufächern versucht, nicht greift.
Auf der anderen Seite ist aber eben auch einer der Effekte, dass die Demonstrationen zunehmend von Aktiven (unterschiedlicher politischer und gewerkschaftlicher Strömungen) sowie handlungswilligen respektive tatendurstigen jungen Leuten geprägt werden – aber weniger Anziehungskraft auf „Normalos“ unter den Lohnabhängigen entwickeln können. Letztere bleiben tendenziell eher weg, auch wenn 71 Prozent der französischen Bevölkerung in Umfragen erklären, gegen das geplante „Arbeitsgesetz“ zu sein.
Auf quantitativer Ebene ist die Mobilisierung in den letzten Wochen, nimmt man den Aktionstag vom 31. März 16 als Ausgangspunkt, rückläufig. Damals demonstrierten in Paris laut polizeilichen Angaben rund 27.000, laut gewerkschaftlichen Zahlen um die einhunderttausend Menschen. Nun gibt die Polizei für den gestrigen 1. Mai in Paris eine Teilnehmer/innen/zahl von „16.000“ an (vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2016/05/01/97001-20160501FILWWW00150-1er-mai-de-16000-a-70000-manifestants-a-paris.php ), die CGT hingegen von „70.000“ (vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2016/05/01/97001-20160501FILWWW00135-1er-mai-la-cgt-annonce-70000-manifestants-a-paris.php ). Und das Problem dabei ist, dass laut eigenen Beobachtungen des Verfassers dieser Zeilen die Wahrheit auf rein quantitativer Ebene – natürlich nicht bei den Inhalten – in diesem Falle näher beim Innenministerium liegt. Jedenfalls, was jene Demonstrant/inn/en betrifft, die gegen 18 Uhr auch auf der Place de la Nation eintrafen, liegt die reale Zahl zwischen 15.000 und 20.000, überstiegt die letztgenannte Obergrenze aber auf keinen Fall. An einem festen Punkt (der Einmündung des Boulevard Diderot auf den Platz) dauerte das Vorbeiziehen des eintreffenden Demonstrationszug ziemlich genau dreißig Minuten – die hinten laufenden Tamil Tigers, türkischen und kurdischen K-Gruppen und den Latino-Block eingerechnet. Es ist jedoch nicht plausibel, dass mehr als rund 600 Menschen pro Minute (bei einer Breite von rund zwanzig Personen pro Reihe) hätten durchlaufen können. Das ist über doppelt so viel wie bei der – von Griesgrämigkeit und der Abwesenheit von Kampfperspektiven geprägten – gewerkschaftlichen Maidemonstration vom 01.05.2015. Doch es ist weniger als bei manchen der letzten „Aktionstage“ gegen das geplante „Arbeitsgesetz“ aus den letzten Wochen.
Sicherlich, nicht alle mitlaufenden Demonstrant/inn/en gingen auch bis zur Place de la Nation mit. Nach anderthalbstündiger Verzögerung, entstanden u.a. durch das Einkesseln und Eingasen eines vorderen Teils der Demonstration (in welchem sich u.a. auch der Verfasser dieser Zeilen befand), konnte der Protestzug auf dem Boulevard Diderot erst gegen 17 Uhr fortgesetzt werden.
Es hat sich in den letzten Wochen allmählich „einzubürgern“ begonnen, dass eine wachsende Anzahl von Menschen – meist mehrere Tausende Mitlaufende – sich vor den sonst immer ganz vorne laufenden „Prominentenblock“ mit den Gewerkschaftsvorsitzenden setzt. Und damit aber auch außerhalb der Reihen des Ordnerdienst, der zunächst den Prominentenblock und danach mitunter Außenreihen bildet, abschirmt, setzt. Dies ist hauptsächlich dem Anliegen geschuldet, zu verhindern, dass die Blöcke der etablierten Gewerkschaften sich entsolidarisieren, falls jüngere und radikalere Teile der Demonstration weiter hinten im Zug durch die Polizei aufgehalten werden – in der Vergangenheit hat man in solchen Fällen schon erlebt, dass die Orderdienste dann das Signal zum Weitermarschieren geben und die Jugend hinten alleine zurückbleibt. Deswegen laufen viele, wirklich viele Studierende, Prekäre, jüngere Protestierende und andere nun lieber selbst „vorne“.
Vor diesem Hintergrund befand sich ein „Pulk“ von wahrscheinlich rund dreitausend Menschen ziemlich an der Spitze der Demonstration, als um ihn ein Kessel gebildet wurde: Die Polizei stand weiter vorne und weiter hinten auf dem Boulevard Diderot, und zusätzlich an mehreren Kreuzungen in den Seitenstraßen. (Ein kleinerer Pulk, Berichten zufolge von rund 800 Leuten, wurde noch weiter vorne eingekesselt.) In dieser größeren Gruppe befanden sich Jüngere wie Ältere, Vermummte und Unvermummte, Gewerkschafter/innen, Linkspartei-Leute und eher autonom wirkende junge Menschen. Er wurde mehrfach ordentlich mit Tränengas eingedeckt, wobei gruppenübergreifend Zitronensaft, getränkte Tücher und Augenserum ge- und verteilt wurden, so dass die Eingekesselten in ihrer Gesamtheit die Sache erstaunlich unbeeindruckt überstanden. Anflüge von Panik konnten bewältigt werden. (In der Schlussphase der Demonstration ergab sich ein Bild, das sich dadurch auszeichnete, dass die Leute nicht einmal mehr loszulaufen begannen, wenn Tränengaswolken heranzogen, sondern einfach weiterliefen, als wäre nichts…)
In dieser Phase erwiesen sich auch die dort anwesenden Vermummten in ihrer Mehrheit als vernünftig. Einige von ihnen suchten eher aktiv Auseinandersetzungen mit der Polizei – deren Kontakt andere eher zu vermeiden versuchten -, aber es kam jedenfalls an der Stelle zu keinen kontraproduktiv-dummen Aktionen wie sinnlosem Glasbruch. In einem Moment schickte sich ein tiefvermummter junger Mann an, mit einem Holzknüppel auf ein Auto einzuschlagen, wurde jedoch von mehreren Anwesenden (auch dem Autor dieser Zeilen) erfolgreich davon abgehalten. Einige wenige der Anwesenden protestierten dagegen, dass man sie von ihrem Tun abhalte, darunter ein besonders vehemente junge Frau mit einer Art Gesichtsschleier und einem derart penetranten englischen Akzent, dass der Verfasser es sich erlaubt, sie für eine Krawall-Touristin und nicht für eine Einwohnerin der Stadt zu halten. Die Argumente, wonach es sinnvollere Aktionen als das Zerdeppern von Autos gebe – wie die Blockade des Hafens von Gennevilliers oder der Stadt Le Havre am vorigen Donnerstag – wurde von dieser kleinen Gruppe beantwortet mit: „Es gibt keine Bewegung! Wir sind alle nur Individuen, und wir machen, was wir wollen!“ Es handelte sich also entweder um strohdumme individual-anarchistische Arschlöcher, die nur an ihren Bauchnabel denken, oder aber um pure Randaletouristen. Jedenfalls konnten sie an der Stelle nicht wirken, wie sie beabsichtigt hatten.
CGT nicht unsolidarisch
Das Bemerkenswerteste an jenem Nachmittag war jedoch, dass auch die etablierten Gewerkschaften eine unüberbrückbare Spaltung nicht mitmachten. Zu einem Zeitpunkt ging die Nachricht (oder das Gerücht?) die Runde, wonach die Polizei die CGT – mit dem stärksten Block, vielleicht die Hälfte der Demonstration – aufgefordert hatte, eine andere Route einzuschlagen und auf einem alternativen Weg zum Abschlussort zu gelangen. Ihr Ordnerdienst, so ging die Nachricht (oder das Gerücht?) weiter, habe sich auch bereit erklärt, sich darauf einzulassen. Nicht jedoch die Masse der Teilnehmenden in den CGT-Blöcken? Wahr oder falsch – das ist an dieser Stelle und im Augenblick schwer zu beurteilen, da die Entscheidungsbildung im Ordnerdienst der CGT sich der Kenntnis des Verfassers entzieht. Fakt ist jedenfalls: Zu keinem Zeitpunkt wichen die nach Bezirken und Branchen aufgestellten Blöcke der CGT, welche hinter den Eingekesselten standen, von der Stelle. Während des über einstündigen Verharrens waren die Fesselballons, die ihren Blöcken als Sichtfänger dienen, stets zu sehen.
Kaum war die ganze Demonstration gegen 18.30 Uhr auf der Place de la Nation eingetroffen, wurde auch bereits der gesamte Platz großflächtg geräumt. Sicherlich, es gab kleine Gruppe von Vermummten, die über den Platz zogen und die Polizei herauszufordern suchten. Doch diese reagierte, indem sie sofort und ohne Umstände den gesamten Platz eingaste und alle Anwesenden abräumte. Zu dem Zeitpunkt kreiste auch ein Polizeihubschrauber über der Menge, den man zuvor an diesem Tag (anders als etwa am Donnerstag, den 28. April) nicht gesichtet hatte.
Vollversammlung gesprengt, Platz abgeräumt
Am Sonntag Abend nahmen auf der Pariser Place de la République erneut rund 2.000 Menschen an einer Vollversammlung teil, wie bereits am Vorabend (am Samstag jedoch eher im Spätabendprogramm, aufgrund der massiven Teilnahme an dem zuvor stattfindenden Platzkonzert, diese Mal u.a. mit Beethovens Neunter Symphonie). Nur am Freitag, wo rund 300, vielleicht 400 Menschen zur Vollversammlung kamen, war aufgrund des anhaltenden Regens ein Rückgang zu verzeichnen. Doch die Kontinuität riss nicht ab.
Stärker, als es zum Teil in den Wochen zuvor der Fall war – wo mitunter ökologische Themen dominierten, aber auch krude Thesen von militanten Veganerinnen oder von manchen Bürgerrechtsideologen, die etwa die Demokratie mit Wahlverfahren durch die Auslosung von politisch Verantwortlichen ersetzen wollen wie die Fans von Etienne Chouard -, ging es am Sonntag um soziale Themen, Betriebe, Klassenkampf, Gewerkschaften. Das Hauptthema des Abends war „Demokratie in den Unternehmen“. Die Thesen reichten von „Das gibt es im Kapitalismus nicht“ bis zu „gewählte Personalvertretungen in Unternehmen stärken“.
Doch zwischen 22 und 22.30 Uhr wurde das Ganze jäh unterbrochen. Schon den halben Abend über hatten am Rande des Platzes, wo die Vollversammlung tagte, Reibereien mit der Polizei stattgefunden. Unter anderem, weil Pulks von Vermummten und von Menschen, die nach dem Geschehenen vom Nachmittag noch auf einem hohen Adrenalinspiegel waren und nunmehr gerne mit der Polizei abrechnen wollten, vom Auflösungsort der Demonstration (Place de la Nation) eintrafen. Aber gegen 22 Uhr eskalierte das Ganze. Eine Kleingruppe von circa dreißig Personen griff nun das riesige Sportgeschäft Go Sport, das unmittelbar an den Platz angrenzt, an – respektive versuchte es, weil sie es nicht schaffte, die Doppelglasscheiben zu zerdeppern. Es ist unklar, ob diese Gruppe überhaupt irgend etwas mit dem Sozialprotest zu tun hatte, oder aber rein als Trittbrettfahrer unterwegs und auf Plündern aus war. Fakt scheint jedenfalls zu sein, dass nur eine Abteilung des Geschäfts angegriffen wurde, nämlich das Schaufenster, hinter dem sich die T-Shirts des Pariser Fußballclubs PSG befanden. Trifft es zu – wie es den Anschein hat – dass es nur darum ging, sich Devotionalien des (längst vom Golfstaat Qatar eingekauften) arroganten Drecksvereins zu angeln, so hat dies jedenfalls mit einem irgendwie gearteten progressiven Anliegen NICHTs zu tun.
Die Polizei aber nutzte die Gunst der Stunde, um die Ränder des Platzes zu attackieren. Alsbald zogen Tränengasnebel herüber. Daraufhin sprang ein Teil der Vollversammlung auf, um nachzusehen, was da los sei. Um 22.15 Uhr war die Vollversammlung dadurch abrupt beendet worden. Kurz darauf flogen Schockgranaten und feuerwerkskörperähnliche Geschosse, die in steilem Bogen abgeschossen werden, über den Platz. Nach einer knappen halben Stunde war dieser, bis auf kleine Gruppe von 200 bis 300 entschlossen wirkenden Personen, weitestgehend leergefegt. Kleinere Gruppen sammelten sich noch auf deN Trottoirs der einmündenden Straßen rundherum. Die Polizei bezog mit martialischen Monturen Stellung, eine Vertreterin der Pariser Polizeipräfektur (d.h. ihrer politischen Leitung) – erkennbar an einer Schärpe in den Fahnen der Trikolorefahne – verlas eine Auflösungsverfügung und sprach eine letzte Warnung aus. Zugleich flogen rote Leuchtgeschosse, die ebenfalls als Warnsignal und definitive Aufforderung zur Auflösung dienen, über den Platz.
Es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass eine Auflösung erfolgte. Am Abend des Donnerstag, den 28. April war ebenfalls zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh eine gewaltsame Auflösung erfolgt. Dabei zielte die Polizei auf den als „Schloss“ bezeichneten, festen Aufbau aus Holz, der im Laufe des Abends – mit einigem künstlerischen Talent – errichtet worden war, da die Staatsmacht keine Festaufbauten auf dem besetzten Platz (sowie keine Lagerfeuer) mehr toleriert. Doch erstmals ist es an diesem 1. Mai gelungen, eine Vollversammlung zu sprengen und den Platz nicht zu vorgerückter räumlicher Stunden, sondern noch vor 23 Uhr zu räumen.
Kein gutes Omen. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass auch die Platzbesetzerbewegung dennoch weitergeht.
Beginn der parlamentarischen Beratung
Am morgigen Dienstag, den 03. Mai beginnt die Parlamentsdebatte um das geplante „Arbeitsgesetz“ in der französischen Nationalversammlung. Laut dem Vorsitzenden des sozialpolitischen Ausschusses der Nationalversammlung, dem Sozialdemokraten Christophe Sirugue, sollen bislang rund vierzig Stimmen aus dem Regierungslager für den Entwurf fehlen. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2016/05/02/97001-20160502FILWWW00031-loi-travail-il-manque-pres-de-40-voix.php ) Jedoch sollte man sich von den sozialdemokratischen Abgeordneten, auch vom – hüstel, hüstel – so genannten linken Flügel, wenig erhoffen. (Als „linker Flügel“ wird ja inzwischen selbst die Ex-Arbeitsministerin von 1997 bis 2002, Martine Aubry, mit gezählt. Zu Regierungszeiten war sie jedenfalls mitnichten so etwas wie „linker Flügel“, ebenso wenig wie zu ihrer Zeit als Parteivorsitzende zwischen 2008 und 2012 – sicher, sicher, Andere sind mittlerweile rechts an ihr vorbeigezogen…)
Und man muss auch wissen, dass die sozialdemokratischen Abgeordneten im sozialpolitischen Ausschuss der Nationalversammlung, welcher vom 05. bis 07. April dieses Jahres zu dem Gesetzesvorhaben tagten, den Entwurf sogar zum Teil verschlimmert haben, obwohl von ihnen eine Abmilderung erwartet worden war. Ein Beispiel: Seit dem Arbeitszeitgesetz der damaligen Arbeitsministerin Aubry – vgl. oben – vom 19. Januar 2000 kann ein Arbeitgeber einseitig die Länge der Arbeitswochen über die Dauer eines Monats variieren lassen (und mit Zustimmung eines Teils der Gewerkschaften sogar bis zu einem Jahr, der Gesetzentwurf will bis auf drei Jahre hochgehen). Der ursprüngliche Regierungsentwurf wollte die Bemessungsperiode, innerhalb derer ein Arbeitgeber per einseitigen Beschluss unterschiedlich lange Arbeitswochen festlegen kann, auf 16 Wochen anheben. Im Rahmen der „Abschwächung“ des Entwurfs am 14. März dieses Jahres – zuliebe einer Einbindung des Gewerkschaftsdachverbands CFDT, der daraufhin seine Zustimmung zu dem Entwurf erteilte – wurde der Zeitraum jedoch auf neun Wochen reduziert. Nun hoben die sozialdemokratischen Abgeordneten in dem Ausschuss ihn jedoch wieder auf zwölf Wochen an! Und sie erleichterten betriebsbedingte Kündigungen, gegenüber dem Regierungsentwurf, in „kleinen“ Unternehmen mit bis zu 300 Beschäftigten. Mehr dazu und zum Inhalt des Entwurfs wieder demnächst…