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Nach der Amtsenthebung Dilma Rousseffs: Wohin soll Brasilien über die „Brücke zur Zukunft“ gesteuert werden?

Plakat Volksbrigaden gegen den Rechtsputsch in Brasilien April 2016Am Sonntag, 17. April hat das brasilianische Abgeordnetenhaus mit 2/3 Mehrheit für ein Verfahren zur Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff gestimmt – die noch ausstehende Zustimmung des Senats dürfte eher Formsache sein, wenn nicht noch Unerwartetes passiert. Helmut Weiss sprach für das LabourNet Germany in der Nacht nach der Parlamentsabstimmung mit Aktivistinnen und Aktivisten diverser progressiver Gruppierungen und Organisationen darüber, was das ihrer Meinung nach für sie, ihre Arbeit und diejenigen Menschen in Brasilien, die von bescheidenen sozialdemokratischen Maßnahmen der bisherigen Regierung profitiert hatten,  bedeuten wird – oder in Zukunft bedeuten kann. Gewerkschaftliche und progressive Aktive aus verschiedenen Regionen und Bereichen geben erste Antworten auf die Frage „Wohin soll Brasilien über die Brücke zur Zukunft gesteuert werden?“

„Wohin soll Brasilien über die Brücke zur Zukunft gesteuert werden?“

Wie ist Eure erste Reaktion auf die Parlamentsmehrheit für die Amtsenthebung?

Mercedes Sales, 46, Arbeitsmedizinerin in Campinas (Bundesstaat Sao Paulo) und im linksoppositionellen Gewerkschaftsbund Intersindical organisiert: „Das ist nur ein Etappensieg der Rechten, jetzt geht es erst richtig los: Wir werden eine Regierung haben, der eine Pappfigur des Paulistaner Unternehmerverbandes vorsteht, der gekaufte Temer und mit ihm der Betrüger und evangelikale Hetzer Cunha – das wird nicht regierungsfähig sein, es ist jetzt an der Zeit, Zurückhaltung aufzugeben, Widerstand zu organisieren in jeder denkbaren Form – möglichst auch in undenkbaren Formen

Vicente Trindade, 63, Vorstand der Datenverarbeitungsgewerkschaft in der CUT im Bundesstaat Minas Gerais: „Sie haben, mit massiver Hilfe des Unternehmerverbandes FIESP – aber auch der FIEMG hier in Minas – in ihrer Schmutzkampagne zum Einen versucht, und das ist ihnen gelungen, die Petrobras – Affäre maximal auszuschlachten: Hin zum Korruptionsvorwurf an die Regierung und hin zur Privatisierung der Petrobras. Sie haben zum Zweiten alles getan, um die Medienhoheit wieder zu erlangen, die sie dabei waren zu verlieren und das von der Diktatur geschaffene Monster TV Globo war das Flagschiff dieser antidemokratischen Kampagne“.

Carina Alves, 23, Aktivistin einer Radiobrigade in Anápolis im Bundesstaat Goiás: „Da hat sich bitter gerächt, dass die PT in den ganzen Jahren nichts, aber auch gar nichts unternommen hat, die Medienlandschaft zu demokratisieren, im Gegenteil, all ihre Initiativen haben die Vielzahl alternativer Medien eingeschränkt und die Profitmedien gestärkt, das war jetzt das Dankeschön dafür. Wie sie überhaupt keinen einzigen wesentlichen Schritt zur Demokratisierung des Landes unternommen haben: Wie es beispielsweise die Auflösung der Militärpolizei gewesen wäre. Oder ein ziviles Oberkommando, will sagen einen zivilen Minister für die Armeebereiche – Fehlanzeige. Und ich rede jetzt noch lange nicht von der Agrar-Reform oder einem Schuldenmoratorium, nichts davon auch nur zu sehen. Sie waren, so hat man den Eindruck, sogar von den Initiativen vieler Menschen, aus verschiedenen Parteien, auch ihrer eigenen PT, die auf die Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur abzielten, eher „peinlich berührt“.

Der Kern des PutschesPlakat Volksbrigaden gegen den Rechtsputsch in Brasilien April 2016

Pedro Otoni, 38, Koordinator der Volksbrigaden aus Florianópolis im südlichen Bundesstaat Santa Catarina: „Man hat jetzt gesehen, wieder gesehen, dass die PMDB der Herren Temer und Cunha eine zentrale Stütze der Herrschaft des Kapitals in unserem Land ist. Sie war immer, ist und wird es bis zu ihrem hoffentlich baldigem Ende die Partei der Gekauften sein, die immer dahin gehen, wo es zu gewinnen gibt, die immer dafür sorgen, dass nichts gegen das Kapital passiert. Die an jeder Regierung beteiligt waren und es weiterhin sein werden. Es gab darin einige prominente Figuren, die aufrechte Demokraten waren – und stets eine kleine Minderheit. Das stimmt für den leider schon so lange gestorbenen Ulysses Guimaraes ebenso, wie für den sehr alten Senator Pedro Simoes. Ansonsten ist das einfach die Schaltzentrale – die gut finanzierte Schaltzentrale. Ohne großes politisches Profil – aber die Partei mit den mit Abstand meisten Bürgermeistern im Lande, vielen Gouverneuren und Ministern, ja, da kann man was werden. Das ist das Eine, und ich glaube nicht, wenn man den Wahlzirkus akzeptiert, dass die PT mit ihrem Stimmanteil viele andere Möglichkeiten hatte, als mit der PMDB zu regieren. Das Zweite, noch Wichtigere: Was der Temer publiziert hat, diesen Wunschkatalog der Unternehmerverbände, den sie Brücke in die Zukunft nennen, wo es doch eine Brücke in die Vergangenheit ist, der hat ja Eckpunkte. Das ist zum Einen das, ausführlich aufgeschlüsselt, was die Kapitalisten überall wollen, brauchen, auch bei Euch: Arbeitskraft muss billiger werden.  Vor allem aber ist es, und erst recht aktuell: Wir wollen endlich die Petrobras. Und da tauchen die Geister aus der Vergangenheit auf, die Ölmultis: Seitdem sie bei den Versteigerungen der Explorationserlaubnis für bestimmte Felder gegenüber dem chinesischen Kapital dem Kürzeren gezogen haben machen sie alles Mögliche, um dies zu verändern. Ich meine, niemand im Ausland macht sich eine Vorstellung, was die Petrobras, dieser weltführende Hightechbetrieb der Mammutgröße für Brasilien bedeutet. Nicht nur, weil da fast 300.000 Menschen arbeiten, davon fast 50.000 Ingenieure. Nein, auch als Symbol brasilianischer Unabhängigkeit – wir haben die Petrobras, der hecheln die Amikonzerne auf ganz vielen Gebieten hinterher“.

Was kommt nach dem „legalen Putsch“ des Unternehmerverbandes?Plakat Volksbrigaden gegen den Rechtsputsch in Brasilien April 2016

Also meinst Du jetzt, es sei sozusagen ein sogenannter „legaler Putsch“ der Amis, wie in Honduras und Paraguay? Über die „Brücke zur Zukunft“ in eine neue Diktatur?

Pedro Otoni: „Das wäre jetzt zu einfach. Die Antwort ist: Ja, auch. Aber natürlich haben wir längst auch brasilianisches globales Kapital – und das meine ich jetzt bewusst im Gegensatz zur früheren Definition einer nationalen Bourgeosie durch die Kommunistischen Parteien – das aber logischerweise dieselbe Strategie hat, wie die Kapitalisten anderer Länder auch. Und die Brücke zur Zukunft – das ist einfach der Wunschkatalog des Unternehmerverbandes nach billiger Arbeitskraft“.

Fulgêncio Amaral, 24, von der Kleinbauernbewegung Contag in Quartel Geral, Minas Gerais: „Natürlich haben die US-Ölmultis ihre ewigen schmutzigen Finger dabei im Spiel, wie überall auf der Welt, wo politische und soziale Verbrechen passieren, immer noch und immer wieder, aber: Selbstverständlich möchte auch das brasilianische Kapital seine Vampirfinger auf die Petrobras legen. Wenn Pedro sagt, die US Multis wieder, dann sage ich jedenfalls, ja – auch. Wenn Du Unternehmen siehst wie Odebrecht oder Correia Camargo, dann hast Du natürlich brasilianische Global Players, die halt nicht nur in lusitanisch Afrika Profite wollen, sondern erst recht hierzulande. Und: Wenn Du die ganze Bande der FIESP siehst, das ist ein ganzes Konglomerat, da sind auch deutsche Unternehmen dabei, alle die eben in dieser kriminellen Vereinigung Mitglieder sind, eine Vereinigung, die sich öffentlich – eben: öffentlich – anmaßt, politische Entscheidungen zu fällen“.

Ja, und wie seht Ihr jetzt die unmittelbare weitere Entwicklung?

Vicente Trindade: „Also, ich halte jetzt alles für möglich, weißt Du. Wenn es tatsächlich so werden sollte, dass diese illegaitime Regierung, die es jetzt vielleicht gibt, nicht funktionieren sollte, dann werden Banditen wie die FIESP nach einem neuen Militärputsch schreien. Also: Wenn der „legale Putsch“ nicht funktioniert, dann wird die Rechte einen traditionellen Putsch wollen. Und denke immer daran: 1964 sind nicht die Mitglieder der gestürzten Regierung gestorben, sondern die, um die es wirklich ging: Die Kämpfer und Kämpferinnen der Ligas Camponesas in Pernambuco und anderen Bundesstaaten des Nordostens, die wurden massakriert, die wurden ermordet, gefoltert, geschunden. Und heute wird es dasselbe sein: Es gilt nicht dieser Regierung, die steht nur als Symbol, es geht gegen alles, was progressiv ist in diesem Land, Du siehst doch, wie schon wieder täglich auf MST-Aktive geschossen wird von der Mörderbande

Mercedes Sales: „Es ist doch klar, dass es gegen die Aktiven geht und nicht gegen die Regierung, die soll nur weg, um freie Bahn zu haben für Mord und Totschlag. Schau nur, was der Höhepunkt – der unbekannte kleine Höhepunkt – der aktuellen Situation ist: Da haben sie einen Pater verhaftet, einen Pater, die Militärpolizei, warum? Weil er eines der Flugblätter des Unternehmerverbandes FIESP zerknüllt und weg geworfen hat, stell Dir das mal vor, jetzt muss man die reaktionäre Scheiße der Unternehmer lesen, Pflicht!

Carina Alves: „Ich finde, das ist noch nicht stabil – wir hatten heute Abend im konservativen Anapolis eine Demonstration mit über 10.000 Leuten, das gab es noch nie hier, unter dem Motto „FIESP, Hände weg von Brasilien“ – daran müssen wir weiter machen, weiter arbeiten, es geht doch auch darum, die Auseinandersetzung, die im Prinzip 1988 mit der neuen Verfassung begann, weiter zu führen, sie wollen jetzt alles, was soziale Republik ist wieder kappen, sie wollen zurück zu Vorgestern, das werden wir nicht erlauben

Pedro Otoni: „Wir werden jedenfalls mit aller Kraft mobilisieren – und hoffen auch darauf, dass dies alle progressiven und auch die sozialdemokratischen Kräfte tun. Und da kann – musss nicht, aber kann – sich Einiges bewegen. Wir von den Volksbrigaden hatten unseren sozusagen Durchbruch 2013 als wir in Belo Horizonte 50.000 Menschen mobilisiert haben, um gegen die Vertreibung wegen der Fußball-WM zu protestieren, seitdem sind wir eine Kraft geworden, die ein bisschen etwas bewegt, und wenn andere das auch tun, kann das durchaus klappen, diese Regierung, die keiner gewählt hat, wieder zu stürzen, das ist noch lange nicht entschieden“.

Fulgêncio Amaral: „Was Mercedes am Anfang gesagt hat: Jetzt geht es erst richtig los. Selbst in einem Flecken wie Quartel Geral, wo ich lebe, wo keine 5.000 Menschen leben, werden wir heute Abend noch eine Demonstration machen – die erste überhaupt in der Geschichte der Stadt – und ich wette alles, was ich habe – ist zugegeben nicht viel – darauf, dass das 1.000 Leute werden“.

Könnt ihr kurz zusammenfassen, worum es Eurer Meinung nach bei diesem Kampf gehen wird?

Die aktuellen Ziele des Widerstands gegen den PutschPlakat Volksbrigaden gegen den Rechtsputsch in Brasilien April 2016

Pedro Otoni: „Meiner Meinung nach geht es zum einen natürlich darum, diese Regierung zu stürzen. Aber das ist genau so, wie es umgekehrt war: Beim Putsch ging es ja nicht um die PT-Regierung, sondern um die Volksbewegungen, die die PT nicht so unterdrücken konnte, wie es Unternehmer und Rechte wollen. Und so geht es auch nicht vor allem um den Sturz eines billigen Banditen wie Temer, sondern darum, dem Kern des Klassenfeindes, der FIESP, dem Unternehmerverband von Sao Paulo eine Niederlage zu bereiten: Ihr werdet Euer reaktionäres, menschenfeindliches Programm nicht durchkriegen, _Basta! Brasilien gehört dem Volk und nicht Euch – Finger weg! Die Petrobras werdet Ihr nicht kriegen, die Rentenkasse werdet Ihr nicht kriegen, den Mindestlohn werdet Ihr nicht senken, die Besetzungen werdet Ihr nicht stoppen – Ihr werdet verlieren, das Volk wird gewinnen, verzieht Euch!

Vicente Trindade: „Hui, jetzt weiß ich, warum alle sagen, Pedro ist ein Volkstribun: Wenn der in der Favela redet, kommen Tausende. Hoffentlich weiterhin. Ansonsten teile ich das, was er sagt, rundherum. Es geht nicht darum, eine Neuauflage der PT-PMDB-PCdoB-Regierung zu machen, die war zwar dem Kapital nicht neoliberal genug – den Menschen aber viel zu neoliberal. Wenn jetzt die „PT Familie“ nicht bremst, nicht alles tut, um den Widerstand in legalen Bahnen zu halten (was aber wahrscheinlich ist) dann ist alles möglich, denn die Menschen sind wütend, und das hat gerade in den letzten Wochen zugenommen, als nicht mehr die Rechte die Straßen beherrscht hat. So einfach, wie es auf unserer Gewerkschaftsversammlung am Samstag eine Kollegin gesagt hat, eigentlich eine typische junge Frau der heutigen Generation, der wir alten Linken immer mit einem gewissen, nicht gerechtfertigten, Misstrauen gegenüberstehen: Wir wollen diese kapitalistische Scheiße nicht länger. Ersetzt jedes Parteiprogramm, finde ich“.

Carina Alves: „Die PT interessiert uns nicht besonders – und schon gar nicht das Argument, es handele sich um eine gewählte Regierung. Also ehrlich: Es gibt Tausend gewählte Regierungen, die ich lieber heute als morgen stürzen sehen würde, nur um das klar zu sagen. Es geht um die Inhalte, um die Politik, das ist eine reaktionäre Offensive des Kapitalismus, des Kapitals und seiner Knechte, gegen die sind wir, die wollen wir am Boden sehen, endlich, jetzt: Paulo Skaf, der Chef der FIESP, dem der Mindestlohn zu hoch ist – der soll 20 Jahre für Mindestlohn arbeiten müssen, dann kann er ja sagen, ob er ihn immer noch zu hoch findet, der Hurensohn“.

Fulgêncio Amaral: „Ja, was soll ich da noch sagen – ich unterschreibe bei meiner Vorrednerin“.

Mercedes Sales: „Wir müssen es schaffen, nicht mehr auf der Straße die „Roten gegen die Grüngelben“ zu haben, sondern klar machen, dass der Feind weder rot trägt noch grüngelb, sondern Maßanzug – und dass er nicht auf der Avenida Paulista spazieren geht, sondern auf den Champs Elysees

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