Nur Erneuerung schafft Fortschritt! Und wie 2015 dafür ein verlorenes Jahr war: Der Finanzkapitalismus würgt demokratische Entwicklung ab
Kommentierte Presseschau von Volker Bahl vom 4.1.2016
Das muss sich ändern, Demokratie muss wieder gestärkt werden – so fordert es Nils Heisterhagen (http://www.fr-online.de/gastbeitraege/geldpolitik-der-wille-der-mehrheit-muss-gesetz-werden,29976308,33035644.html ).
Was von der Griechenlandpolitik der Europäischen Union im Bewusstsein bleibt, ist nicht das durchaus berechtigte Anliegen der internationalen Geldgeber, sondern dass man in Griechenland beweisen will, wie eine – marktkonforme – Demokratie auszusehen habe.
Insoweit war die Nacht vom 12. auf den 13. Juli für Europa ein Debakel. (vgl. „Der Bruch in Europa in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli 2015 durch die manifest gewordene Hegemonie Deutschlands mit der Forderung nach einem Grexit“: https://www.labournet.de/?p=84385)
So bleibt von der Griechenlandpolitik nur der Eindruck eines außenpolitischen Neoliberalismus übrig und zudem die Vermutung, dass man gegen die Alternativlosigkeit der Austeritätspolitik – in diesem Europa – kaum etwas ausrichten kann. (Vgl. noch einmal „Griechenland ist ein Ort, wo der Finanzkapitalismus die Demokratie bekämpft.“: https://www.labournet.de/?p=85379)
Dennoch kann Gustav Horn in dieser Krise von Europa, die vor allem eine Krise der Europäischen Währungsunion auch ist, auch eine Chance sehen, weil das bisherige Unverständnis dessen, was eine gemeinsame Währungsunion ausmacht, jetzt durch die Krise gelernt werden könnte – um doch noch zu einer vertieften und stabilen „gemeinsamen“ Währungsunion zu gelangen. (https://www.labournet.de/?p=91008)
Insoweit war das Zusammentreffen von Flüchtlingskrise und Eurokrise in seinen Folgen ein interessantes Phänomen – oder wie Ulrike Guerot das diagnostiziert: „Von der deutschen „Normalität“ zur deutschen Übermacht („Grexitkrise“) und zur deutschen Ohnmacht („Flüchtlingskrise“) war nur ein kurzer Weg. Wer erst Solidarität – für Griechenland – verweigert, kann sie später nicht erwarten.
Europa leidet daher wieder an multiplen Organversagen!
Deshalb müsste sich die EU jetzt in der Krise entscheiden, endlich das zu werden, was sie sein sollte: eine politische Einheit! (Vgl. Ulrike Guerot, „Europa – Du schöne, wie bist du zugerichtet!“ in der TAZ vom 31. Dezember 2015)
Genau das aber scheint ihr just im Moment diese Krise unmöglich – und so werden alle Probleme in „nationalen Containern“ verhandelt – d.h. z.B. für Griechenland: Es darf Geld für Flüchtlinge ausgeben, muss jedoch Wohnungseigentümer, die ihre Kredite – wegen der drastisch gestiegenen Arbeitslosigkeit infolge der aufgezwungenen Austeritätspolitik (vgl.den Überblick zur Austerität aus den „WSI-Mitteilungen“ bei http://stephan.schulmeister.wifo.ac.at/fileadmin/homepage_schulmeister/files/wsimit_2015_06_buchbesprechung_schulmeister.pdf ) – nicht bezahlen können, aus ihren Wohnungen werfen.
Dennoch wird es für Deutschland – sozusagen auf der „Speckseite“ der Eurokrise gelagert – trotz der allgemeinen Krise der Eurozone schwierig, diesem Dilemma des europäischen Versagens zu entkommen: Deutschland ist eine Wohlstandinsel – mit Blick auf die Konjunktur 2016 – und das fühlt sich für die Deutschen gut an, ist aber gefährlich. Denn blöd sind unsere europäischen Nachbarn auch nicht. Denn inzwischen fällt ihnen so deutlich auf, dass nur die Deutschen vom Euro profitieren können.
So sieht es Ulrike Herrmann klar, dass dieser Aufschwung für Deutschland nur geborgt ist. Er ist nämlich die Kehrseite der Eurokrise. (http://www.taz.de/kommentar-zur-Konjunktur-2016/!5260439/ )
Und wenn jetzt ein Land nach dem anderen in der Eurozone sich gezwungen sieht das von Deutschland mit der „Agenda 2010“ begonnene Experiment eines gezielten Exportüberschusses durch Lohnduming – jeweils für sich in der Zone der gemeinsamen Währung – fortzusetzen, indem sie die Lohnstückkosten senken – durch diese „Struktur-Reformen“: Zunächst Finnland (oder doch gleich den Euro verlassen?), dann Österreich, Niederlande, Frankreich und Italien… Jedes Land will sich in die Armut sparen – um durch Exportüberschüsse reich zu werden.
Und wieder einmal erklärt Ulrike Herrmann dieses – völlig aus dem Zusammenhang „gerissene – Unverständnis einer Währungsunion: es kann einfach nicht funktionieren.
So ist dieses ökonomische Versagen schon dramatisch genug für Europa, aber noch viel besorgniserregender ist das politische Versagen dieser Geldgeber von EU und IWF mit diesem Vorgehen, was sie politisch mit der Demokratie machen. Denn wenn das Volk gar nicht mehr das Sagen hat und die Demokratie bloß noch marktkonform ist, dann wird die Macht der Erneuerung verhindert, die das innere Zentrum der Besonderheit der Demokratie ausdrückt. Diese demokratische Macht der Erneuerung wird zurzeit verhindert, weil die europäische Politik und die Nationalregierungen der EU-Länder sich in einem Regelfetischismus verlieren, der mit der Attitüde des Dompteurs Gefügigkeit erwartet.
Und diese von der EU so strikt geübte politische Praxis der Hörigkeit – noch dazu zum Schaden so vieler – stärkt den Rechtspopulismus. Dieser baut sich als Alternative der Befreiung aus dieser „postdemokratischen“ Praxis auf – und das mit großem Erfolg, wie man in Europa beobachten kann. Und so entsteht das Paradox, dass der heutige europäische Rechtspopulismus suggerieren kann, die Demokratie und die Freiheit zu verteidigen. Nur der weitere Aufstieg des Rechtspopulismus wäre – und das ist das Paradoxe daran – aber erneut der Einstieg in den Ausstieg aus der Demokratie.
Zu diesem Aufstieg des Rechtpopulismus hält Joschka Fischer, der frühere deutsche Außenminister, auch eine weitere Erklärung – sozusagen aus globaler Sicht – bereit: Diese Rechtspopulisten leben von der Angst, dass der Westen – allen voran Europa – der Verlierer der Globalisierung wird. Dabei gibt es – neben den Unterschieden – auch Gemeinsamkeiten bei diesen europäischen Rechtspopulisten: Alle sind sie gegen das „System“, gegen die aktuelle „Politische Klasse“ und gegen Europa. Die Finanzkrise in ihrer ganzen, auch sozialen Dimension (siehe vor allem die südeuropäischen Länder, wobei dort am allermeisten nach einer demokratischen Antwort noch gesucht wird.) sowie der Aufstieg Chinas haben eine neue Welt geschaffen, die u.a. auch die für den Westen den Verlust seiner globalen Vorherrschaft gebracht hat. (Siehe „die Angst vor dem Niedergang des weißen Mannes“: http://www.sueddeutsche.de/politik/aussenansicht-der-niedergang-des-weissen-mannes-1.2798078 )
Günter Verrheugen – auch ein alter EU-Politiker – sieht es zunächst noch in dem Näherliegenden: „Wir sehen in Europa eine tiefgehende politische und wirtschaftliche Spaltung“ (http://www.deutschlandfunk.de/europa-in-der-krise-wir-sehen-eine-tiefgehende-politische.694.de.html?dram:article_id=341202 ), die nur diese politischen Eliten in Deutschland nicht wahrnehmen wollen.
Speziell die Dominanz der Finanzmärkte mit der Herrschaft des Fiskalpaktes in Europa sieht Stephan Schulmeister als die Ursachen – Konstellation, die wieder geändert und durch Finanzmarktregulierung a la Roosevelt in den 30-er Jahren rückgängig gemacht werden müsste. (http://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft/interview-mit-wirtschaftsforscher-stephan-schulmeister–das-kapital-ist-ein-nimmersattes-tier-,10808230,32958186.html )
Nils Heisterhagen von der IG Metall (siehe den ersten Link oben) setzt daher zunächst noch die Chancen darin, dass die progressiven Parteien aktiv selbst wieder das Primat der Poitik einfordern – gegenüber diesem marktkonformen Regelfetischismus. (= siehe den „Annex“ unten zur aktuellen Lage bei der SPD)
Ulrike Guerot dagegen erklärt – etwas tiefer schürfend noch: Es geht nicht – allein – darum Staaten zu integrieren, sondern die europäischen Bürger zu vereinen. Deshalb muss das europäische Projekt auf der Gleichheit aller europäischer Bürger beruhen. Europa muss also vom Gleichheitsgrundsatz aller europäischer Bürger neu gedacht werden. (Zu Ulrike Guerot siehe auch http://eutopiamagazine.eu/de/ulrike-guérot/speakers-corner/das-neue-europa-oder-die-wiedererfindung-der-politischen-ästhetik )
Was könnte dazu aktuell mehr dazu beitragen als die Auseinandersetzung um ein bedingungsloses Grundeinkommen – finanziert aus den Gewinnen der großen – vor allem Internet – Konzerne, wie es just zum Jahresende 2015 der Telekomchef in die Diskussion gebracht hat? (https://www.labournet.de/?p=91139). So könnte auch die so dringend erforderliche Verteilungs-Auseinandersetzung – der 99 Prozent gegen die 1 Prozent – wieder ein demokratisches Fundament gewinnen.