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Broschüre des AK Malaboca: “Whats next for Greece?” / „Was nun? Soziale Bewegungen in Griechenland nach dem Regierungswechsel“
„In der Nacht des 25. Januar 2015 kam es im „Detention Center Amygdaleza“ nahe Athens zu vorher unbekannten Szenen. Die dort eingesperrten Geflüchteten und andere Gefangene sangen „Tsipras! Tsipras!“ in die Gesichter ihrer Aufseher*innen. Es war die Nacht nach dem Wahlsieg der linken Partei SYRIZA und in den Rufen lag die große Hoffnung auf Veränderung: auf ein Ende der Austeritätspolitik, auf ein Ende der menschenverachtenden Behandlung Tausender Refugees, auf ein Ende der humanitären Katastrophe mitten in der EU. Knapp drei Wochen später kommen wir in Athen an: als eine Gruppe von 14 Aktivist*innen aus Frankfurt/M, Berlin, Bremen und Prag, die vor allem das große Interesse an konkreten Eindrücken von vor Ort antreibt und die viele Fragen mitbringt. Wie ist es um die sozialen Bewegungen Griechenlands bestellt? Mit welchen, auch historischen, Bedingungen für den Kampf um eine freie und solidarische Gesellschaft müssen sie sich arrangieren? Welche Strategien erwachsen aus ihren Analysen? Welche Erfolge konnten sie in der Vergangenheit verbuchen und mit welchen Niederlagen und Rückschlägen mussten sie umgehen? Und was macht man als linke Fundamentalopposition, wenn sich die Regierung auf einmal als potentielle Partnerin anbiedert? Welche Chancen ergeben sich daraus – was sind mögliche Gefahren? Insgesamt trafen wir 20 Aktivist*innen aus den unterschiedlichsten Projekten…“ Broschüre “Whats next for Greece?” des AK Malaboca (aus der BRD) die am 04. April 2015 beim roarmag dokumentiert ist und nun bei uns auf Deutsch vorliegt: „Was nun? Soziale Bewegungen in Griechenland nach dem Regierungswechsel“ . Siehe als Hintergrund den Artikel „Skeptisch, aber hoffnungsvoll. Einschätzungen griechischer Aktivist_innen zum Regierungswechsel“ von Diego Malaboca und Dominique Vicente aus dem ak 603 vom 17.3.2015
Was nun?
„Wir haben wieder Luft zum Atmen“ sagt Makis, Kunstlehrer und Streetart-Künstler aus Athen. Makis ist seit mehr als zwanzig Jahren in anarchistischen Gruppen und Initiativen aktiv und wirklich niemand, dem man eine naive Euphorie für die neue Regierung Griechenlands unterstellen könnte. Wie so viele, die wir drei Wochen nach dem Wahlsieg der SYRIZA-ANEL-Koalition in Athen treffen, benutzt er die Atemluft-Metapher, wenn er über den Regierungswechsel spricht. Die direkte Repression gegen Mitglieder sozialer Bewegungen hatte ab der Wiederwahl der rechten Regierung unter Ministerpräsident Samaras Anfang 2012 einen Grad erreicht, den auch erfahrene Aktivist*innen so vorher nicht kannten: hemmungslose Polizeigewalt auf der Straße, rassistische Hetzjagdten und politische Morde durch Faschisten, unzählige Anzeigen und Gerichtsverfahren, Räumung besetzter Gebäude. Die neue Regierung hat als eine der ersten Amtshandlungen die Absperrgitter rund um das Parlament demontiert und die ständig um den linken Stadtteil Exarchia stationierten Bereitschaftspolizisten abgezogen. Es sind erste Schritte, weitere Reformen des Polizeiapparats sind angekündigt, aber die erleichternde Wirkung ist spürbar: „Ich kann mich seit Jahren das erste Mal wieder in meiner eigene Stadt bewegen, ohne dabei Angst zu haben“, sagt Ferenici, die sich seit Jahren gegen die Privatisierung des ehemaligen Flughafen „Ellinikon“ einsetzt.
Dass sich SYRIZA auf eine Koalition mit ANEL eingelassen hat, wird von den allermeisten hier mit relativer Gelassenheit betrachtet. Wirtschaftspolitisch gab es keine Alternative für das Linksbündnis regierungsfähig zu werden, die Unabhängigen Griechen sind eine unerfahrene und deshalb wenig professionelle Partei und liefern in Endeffekt auch nur zwei der 151 für eine Parlamentsmehrheit notwendigen Stimmen. „Bei kontroversen Gesetzesvorlagen lassen sie das Parlament nach ihrer Überzeugung abstimmen. SYRIZA kann ihre Mehrheit so auch außerhalb der Regierungsparteien suchen.“, meint Achim, der im antirassistischen Netzwerk „Diktyo“ aktiv ist und keine große Gefahr durch ANEL beispielsweise für SYRIZAs Flüchtlingspolitik. In der deutschen Linken ertönte tagelang ein lauter „Querfront“-Schrei, der hier eher mit Verwunderung aufgefasst wird. Die harsche Kritik spiegelte vor allem die Enttäuschung derer wieder, die offen oder insgeheim das Linksbündnis für den umstürzlerischen Heilsbringer gehalten hatten.
SYRIZA hat nie behauptet revolutionär zu sein…
Aber SYRIZA ist keine revolutionäre Partei – im besten Fall eine fortschrittlich sozialdemokratische. Wer aber die griechische Bevölkerung und speziell die griechische Linke nun mit Reformismus-Vorwürfen überzieht, verkennt die Auswirkungen der katastrophalen ökonomischen Situation vor Ort. „Die Ablehnung SYRIZAs als sozialdemokratisches Projekt war ein Luxus, den wir uns nicht leisten konnten“, stellt Makis mit Blick auf diese Art der Kritik fest. Natürlich berge diese Entwicklung nicht unerhebliche Gefahren für die seit Ausbruch der Krise gewachsenen Initiativen, aber in den letzten Jahren waren es eben vor allem die materiellen Verhältnisse, die die Bewegung erheblich geschwächt haben. „Wenn du deinen Job verlierst, deine Krankenversicherung verlierst, wenn du und deine Familie verschuldet sind, dann ist es sehr schwer ein selbstorganisiertes Projekt zu unterstützen, auch wenn du das willst.“
Konkrete Verbesserungen erhoffen sich die meisten Aktivist*innen vor allem im Bereich der Flüchtlingspolitik. Die Öffnung der Lager, in denen wahrscheinlich zwischen 5000 und 6000 Geflüchtete unter unwürdigsten Bedingungen festgehalten werden, ist von einer jahrelangen Forderung antirassistischen Initiativen nun zu einem Versprechen der Regierung geworden. Ein Großteil der polizeilichen Arrestzellen, in denen ebenfalls hunderte Geflüchtete monatelang ohne eine Minute Freigang eingepfercht wurden, sind bereits geleert. Eine Gesetzesinitiative, die allen in Griechenland geborenen Kindern die griechische Staatsbürgerschaft garantieren soll, ist in Vorbereitung. Das alles sind kleine Schritte, aber sie sind überlebenswichtig.
…und wird früher oder später scheitern
Doch jenseits einer Veränderung der Situation Geflüchteter und dem Nachlassen der exzessiven Repression sind die Erfolgsaussichten, die der SYRIZA-ANEL-Regierung von vielen Aktivist*innen eingeräumt werden, gering. Der Einfluss, den die Troika auf die griechische Wirtschaftspolitik hat, ist enorm und die möglichen Optionen rar: eine Fortführung der Austeritätsmaßnahmen, wie von der EU gefordert, wären fatal – ein Austritt aus dem Euro hätte wahrscheinlich noch verheerendere ökonomische Folgen. Darüber, dass der Konfrontationskurs der neuen Regierung auf lange Sicht scheitern wird, herrscht relative Einigkeit und die Frage, die in diesen Tagen viel diskutiert wird, ist die der Art dieses Scheiterns. Solange SYRIZA der Troika Paroli bietet – selbst wenn zu einem enorm hohen Preis – wahren sie ihre Glaubwürdigkeit und sichern sich die Unterstützung ihrer Wähler*innen. Knickt die neue Regierung allerdings ein und stellt sich als unglaubwürdig heraus, hätte dies fatale Konsequenzen. Innerhalb Griechenlands wäre das Ansehen der Linken auf Jahre beschädigt und die rechten Parteien, vielleicht sogar die faschistische „Goldene Morgenröte“, würden wieder erheblichen Aufwind bekommen.
Deshalb: die Chance nutzen – alternative Institutionen aufbauen!
Aus dieser Gemengelage entsteht die skeptisch distanzierte, aber doch nicht hoffnungslose Stimmung dieser Tage. Niemand wünscht sich ein Scheitern des Projekts SYRIZA, aber an grundlegende Veränderungen glaubt auch keine*r. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist die Konzentration auf die Räume, die die neue Regierung lässt um die eigenen Strukturen auszubauen. Und neben den beeindruckenden Initiativen, die die konkreten Auswirkungen der Austeritätspolitik eindämmen, wie zahlreiche „Foodbanks“ und Sozialkliniken, ist vor allem eins bemerkenswert: die Menschen reden über den weiteren Ausbau alternativer ökonomischer Strukturen – und arbeiten praktisch daran. Viele Kooperativen sind in den letzten Jahren entstanden, Produzent*innen-Konsument*innen-Netzwerke etablieren sich, Erzeuger*innen-Märkte entstehen. Manche aus der Not heraus, aber viele in dem Bewusstsein, dass es ohne alternative Ökonomie auch keine grundlegende Veränderung geben wird. Danea, aktiv in der antifaschistische Gruppe „Alpha Kappa“, beschreibt welche Chance die neue Atemluft für Bewegungen bietet: „Das ist ein guter Moment über unsere gewohnte Praxis von Solidaritätsbekundungen und symbolischen Aktion hinauszugehen. Wir können uns jetzt auf den Aufbau von Strukturen eines solidarischen Wirtschaftens konzentrieren, die eine Perspektive jenseits des kapitalistischen Marktes bieten. Die Leute haben nichts davon, wenn man ihnen seit Jahrzehnten große Geschichten über die Gesellschafts- und Produktionsverhältnisse in einer Zukunft erzählt, die für sie nicht greifbar ist. Sie wollen Verbesserungen – hier und jetzt – und deshalb müssen wir zeigen, dass es Wege gibt, die im hier und jetzt funktionieren.“