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“Rettet die Würde der Demokratie”. Zeitungen voll von Jürgen Habermas`ens 85. Geburtstag – aber nur Italien erweist ihm die angemessene Referenz

Kommentierte Presseschau von Volker Bahl vom 18.6.2014

Mit Italien eine europäische Hommage an Jürgen Habermas

Bei all dieser Würdigung von Habermas kommt nur keiner auf die Idee, dass Italien in einer interessanten “Dialektik” eine neue – demokratische – Legitimationsgrundlage für Europa sich entwickeln konnte – sozusagen als eine politisch praktische “Hommage” für Jürgen Habermas zum 85… Aber nur so kann es gelingen, vielleicht doch noch sich dieser für das “Geistesleben” in Deutschland so wichtigen Person – vielleicht auch noch kritisch – in einer dem europäischen Gegenstand angemessenen Weise zu nähern – seiner ganz großen Leidenschaft.

Er war immer ein leidenschaftlicher Verfechter der Demokratie – z.B. in der Auseinandersetzung mit Frank Schirrmachers “Verramschter Demokratie” am Beispiel des “abgesagten” Referendums in Griechenland zur diktierten Sparpolitik der Troika (http://www.faz.net/-gqz-6uv53 externer Link), aus dem ich noch kurz zitiere: Es geht um das wieder abgesagte Referendum in Griechenland: Dort schreibt er unter der Überschrift “Rettet die Würde der Demokratie” – vor den von den Märkten kujonierten politischen Klasse.
Seine (= Schirrmachers) Interpretation der kopflosen Reaktion unserer politischen Eliten auf die Absicht Papandreous, das griechische Volk über die trostlose Alternative zwischen Pest und Cholera selbst entscheiden zu lassen, trifft ins Schwarze. Was hätte die dramatische Lage einer von “den Märkten” kujonierten politischen Klasse besser entlarven können als die pompöse Aufregung des Chefpersonals von EU und Internationalem Währungsfonds über den unbotmäßigen Kollegen aus Athen?” – und weiter noch: “Natürlich liegen ideologische Beruhigungspillen, die die Vorstellung hervorrufen, das kurzfristige Wohl der Banken und der Shareholders sei eins mit den langfristigen Interessen der Bürger und Stakeholder immer bereit. Aber heute dürfte sich kein verantwortlicher Politiker mehr etwas vormachen. Die Politiker,die die Bankenkrise den überschuldeten Staaten in die Schuhe schieben und dem ganzen Europa ohne Rücksicht auf Verluste Sparprogramme aufnötigen, sehen nur auf einem Auge. Sie erkennen, dass der Mechanismus der öffentlichen Kreditaufnahme an seine Grenzen gestoßen ist, aber sie fragen nicht nach den Gründen für den Legitimationsbedarf, den der Gesetzgeber auf diese Weise befriedigt hat.”
Und: “Papandreou hat das Verdienst, den zentralen Konflikt, der sich heute in die unangreifbaren Arkanverhandlungen zwischen Euro-Staaten und Banklobbyisten verschoben hat, für eine Schrecksekunde ins Licht jener Arena zurückgeholt, wo aus Betroffenen Beteiligte werden können.”

So verhinderte z.B. den “Grexit” (Rausschmiss von Griechenland aus der Eurozone) dann das Brüsseler Gekungele nur aus zwei Gründen: China und der Schaden, der nicht nur Griechenland treffen könnte. (vgl. die Seite 1 in der Mitte bei https://www.labournet.de/?p=54334)

Die ins Elend gestoßene griechsische Bevölkerung brauchte ja dabei keine Rolle zu spielen. (vgl. Armes Griechenland“ von Niels Kadritzke (http://www.nachdenkseiten.de/?p=21212 externer Link)

Und zuletzt habe ich diese Leidenschaft für Europa auf dem Cover des “Euro-Krisen-Behandlungsberichtes von Cerstin Gammelin und Raimund Löw “Europas Strippenzieher” gefunden: “Ein spannender Krisenbericht von zwei kompetenten Brüsseler Journalisten. Dieser Wirtschaftskrimi öffnet deutschen Lesern die Augen über die problematischen Seiten des Krisenmanagements ihrer Regierung” (siehe das Merkel`sche “Chacun sa merde!) (siehe dazu auch die Rede von Habermas vor dem SPD-Parteivorstand, wo er dringend vor einem “weiter so” in der Europapolitik warnt: https://www.labournet.de/?p=54334 – auf der Seite 2 die erste Hälfte)

Das Engagement der SPD in der Großen Koalition für Europa hat bisher nur – allenfalls marginal – etwas von Habermas “Intervention für Europa“ aufgenommen. (siehe noch ganz unten)

Und in einem jüngsten Interview in der Frankfurter Rundschau meinte er noch: “Vor allem dürfen die öffentlichen Kommunikationskreisläufe nicht von aller inhaltlicher Substanz entleert und von den tatsächlichen Entscheidungsprozessen abgekoppelt werden. Diese beiden Aspekte ließen sich anhand der europäischen Krisenpolitik der letzten Jahre gut illustrieren.” (nur leider brach der Interviewer an dieser spannenden Stelle zum “Strukturwandel der Öffentlichkeit” ab, um auf “anderes” (das Internet) hinzuschwenken)(= Fr vom 14. Juni 2014 – “Im Sog der Gedanken” – Ein Gespräch mit Jürgen Habermas: http://fr-online.de/kultur/juergen-habermas-im-sog-der-gedanken,1472786,27478968 externer Link). Aber vielleicht kommt doch eine/r noch einmal darauf, diesen – auch für die Medien selbst – kritischen Faden mit ihm wieder aufzunehmen.

So war es eine – schon wieder etwas ältere – Kritik von mir an Habermas, dass er mit seinem starken – und durchaus berechtigten “Fokus” auf die politischen Prozesse die ökonomischen Ursachen dieser Krise in ihrer Komplexität und auch in ihrem Verlauf (sozusagen “Krise trifft Demokratie” als Prozess) weitgehend ausblende. (= auch mit Wolfgang Streeck das Lohndumping aus Deutschland)(http://www.nachdenkseiten.de/?p=9994 externer Link) – auch das müsste weitergedacht werden – entsprechend dem Weiter Denken von Jürgen Habermas auch (sozusagen die Krise als “Lehrmeisterin”)

Und mit Hilfe der “Piketty-Hype” könnte es dann auch substantiell tiefer gehen und das Problem der Gleichheit nicht nur für die Menschen, sondern auch als Bedrohung für die Demokratie noch als Thema auf die Tagesordnung setzen. (vgl. “…. die Ungleichheit bedroht unsere demokratische Gesellschaft” auf der Seite 1 ff. bei https://www.labournet.de/?p=56871)

Italien ist das einzige Land, in dem die systematische Enttäuschung zu einer “Revolte” zur radikalen Umgestaltung der politischen Landschaft gerade für Europa geführt hat: Eine bald mehrheitliche demokratische Regierung gegen das Spardiktat von Europa

Wenn man auf dieses von Habermas konkret behandelte griechische Beispiel blickt, dann würden dann weiter ganz konkret jetzt auch Perry Anderson Überlegungen zu den italienischen “Fünf-Sternen” in der New Left Review dazu gehören. (http://www.lrb.co.uk/v36/n10/perry-anderson/the-italian-desaster externer Link)

Für Perry Anderson liegt der Grund für die Bewegung der “Fünf-Sterne” weniger national begründet – wo alle Welt sie gerne hinschieben möchte – als im europäischen Kontext: “Referenden werden regelmäßig außer Kraft gesetzt, wenn sie dem Willen der Regierenden entgegenlaufen. Die Wähler, deren Willen von den Eliten missachtet werden, weichen der Versammlung aus, die sie nominell repräsentiert, indem sie nicht wählen. Bürokraten, die nie gewählt wurden, kontrollieren nationale Parlamente souveräner Nationen, denen sogar das Recht, über den eigenen Haushalt zu entscheiden, entzogen wurde.”

Deshalb entsteht für Perry Anderson bei seinen Reflektionen (Überlegungen) über die meist so gescholtenen italienischen Verhältnisse das Bild eines demokratischen Neuanfangs für Europa: Italien ist das einzige Land, in dem die systematische Enttäuschung nicht nur in dumpfe Indifferenz, sondern zu einer “Revolte” – dank Grillos “Fünf-Sterne” – geführt habe.

Beim Blick auf Gesamt-Europa wird dies nach diesen Wahlen mit dem Erstarken der Rechten – gegen Europa – insbesondere in Frankreich noch einmal deutlich, welche Ausnahme Italien darstellt (Bernard Schmid, “Frankreich und Europa nach der Wahl” (http://www.gegenblende.de/++co++cbd69030-e685-11e3-8c98-52540066f352 externer Link – oder noch http://www.nachdenkseiten.de/?p=21905#h06 externer Link)

Werfen wir doch dagegen einfach einen Blick zurück auf die politische Entwicklung in Italien: Bei der Europawahl etablierte sich, der auch gerne als “Komiker” bezeichnete Beppo Grillo mit 21 Prozent (http://www.sueddeutsche.de/politik/europawahl-in-italien-komiker-etabliert-sich-in-parteienlandschaft-1.1974549 externer Link), wobei man die “Fünf-Sterne” gerne – anders als Perry Anderson – als Populisten abhakte. (http://www.sueddeutsche.de/politik/populismus-in-europa-das-sind-die-euroskeptiker-1.1933410-6 externer Link)

Obwohl für die “Fünf-Sterne” die Bäume damit nicht in den Himmel wuchsen, so scheint sich doch die Einschätzung von Colin Crouch der Realität zu nähern: “Der italienische Fall zeigt, sobald die Wähler den Glauben haben, dass gemäßigtere Parteien etwas für die wirtschaftliche Zukunft ausrichten können, folgen sie nicht Extremen.” (Colin Crouch zu den Europawahlen in der FR vom 30. Mai 2014)

Meine These aber ist – mit Perry Anderson als Grundlage –, dass die “Grillisten” nebst ihrer Internetbewegung – die Voraussetzung für diese Neusortierung der politischen Landschaft in Italien waren – also auch für diese neuen Mehrheiten, die in der Lage sein könnten, die Alternativlosigkeit aus Deutschland für Europa hinter sich zu lassen.

Aber dazu war auch erst die Kritik an Beppo Grillos “isolationistischem Kurs” in der Parteienlandschaft notwendig. Und wie meinte doch Sergio Cararo nach der Wahl “Grillo hat eine große Chance vertan” (https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2014/06/rigault_cararo.pdf pdf). Und so gab es schon Anzeichen an der Basis von Grillos Bewegung für eine “Revolte” gegen den Kurs der Abschottung – und wenn sie stark genug ist, dürfte das zu einer Kursänderung führen.

Zunächst eine Öffnung der “Fünf-Sterne” – ein angemessenes Geschenk für Habermas

Wer bisher nach Italien guckte, meinte verzweifeln zu müssen, denn nach ordentlicher sortierter Wählermeinung gab es dort eine Mehrheit gegen den bisherigen Kurs. Und so glaubte man – als Außenstehender – es könnte dort eigentlich nicht mit rechten Dingen zugehen. Da gab es eine “systemkritische” “Fünf-Sterne-Bewegung” mit Beppo Grillo (gute 20 Prozent) und Matteo Renzis “PD” (gute 40 Prozent) – und dennoch rechte Koalitionen – mit Berlusconi… denn Beppo Grillo verweigerte sich. Aber seit Sonntag soll dies anders werden – gerade auch rechtzeitig zu Habermas Geburtstag sozusagen als ein angemessenes Geschenk.

In Italien soll es jetzt keine komischen Spielchen mehr geben – aber die pure Fundamentalopposition soll der Vergangenheit angehören. (http://www.taz.de/Dialog-im-italienischen-Parlament/!140474/ externer Link)

Nun gibt es doch Gesprächsangebote an Matteo Renzi mit Verhandlungen über die Wahlrechtsreform. – Nur – das ist die Bedingung der “Fünf-Sterne” – die Verhandlungen werden Livestream übertragen. Aber Renzi zeigte sich der neuen Situation gewachsen und kommentierte diese Angebot von Grillo: Mit Grillo werde es nie langweilig werden.

Nur könnte das eine andere “Aufgeregtheit werden, als sie nur schaumschlagend unsere Medien pflegen. – Ja, um darauf noch einmal auf die obige Feststellung von Habermas zurückzukommen, hier hätte der FR-Journalist bei der Feststellung der so “medial entleerten öffentlichen Kommunikationskreisläufe” ganz konkret mit Grillo bei Habermas nachhaken können. Er hätte bezüglich des Internet auch genügend Stoff hierbei bekommen können. Jedenfalls stärkt diese neue Mehrheit im italienischen Parlament die italienische Regierung Renzi auch im europäischen Kontext wieder.

Die italienische Regierung steht gegen das – ökonomisch falsche – Spardiktat in Europa: Ein praktisches Ende für die “Alternativlosigkeit”?

Während also Merkels Kurs – auch in Frankreich bei dem treuen Vasallen Francois Hollande (vgl. dazu auch “Der “Sonderfall” Frankreich: Keine Chancen gegen deutschen Handelskrieg” auf der Seite 4 bei https://www.labournet.de/?p=59502) – in Europa an demokratischer Legitimation zu verlieren beginnt. So war Renzi schon einmal vorgeprescht und hatte eine Alternative auf die europäische Agenda zu setzen begonnen: Allein auf Sparen ausgerichtet, wird Europa scheitern. Europa retten, heißt Europa ändern. (Siehe ganz am Schluss bei https://www.labournet.de/?p=59502)

Und inzwischen hat er auch schon Verbündete gefunden – und so wird es in Europa – kurz vor dem nächsten Gipfel und der Entscheidung über den EU-Kommissionspräsidenten – einfach wieder – entgegen der bisherigen Alternativlosigkeit aus Deutschland – wieder spannend.

Renzi`s Italien verbündet sich mit Paris – dem FN-angeschlagenen –, um doch einmal gegen den so sozial schädlichen Sparkurs in Europa anzugehen. (siehe “Rom und Paris rütteln am Stabilitätspakt”: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/haushaltssanierung-rom-und-paris-ruetteln-am-stabiltaetspakt-1.2004525 externer Link)

Und das eigentlich Spektakuläre für die Habermas`sche demokratische Legitimation daran ist, dass in Italien langsam eine über 60-Prozent-Mehrheit gegen den für so “alternativlos” gehaltenen Merkel`schen Spardiktatkurs in Europa stehen. – Und die Sozialisten im Europa-Parlament unterstützen diesen Vorschlag aus Italien und noch Frankreich.

Ist das nicht – ganz praktisch – ein schönes Geschenk für Habermas 85? Nur aus “altgewohnter” ideologischer Verblendung will es keiner wahrnehmen!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=60434
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