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Hoffnungsschimmer im europäischen Reservat – Über die Revolte in den Städten Bosnien-Herzegowinas
Artikel von Slave Cubela*, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 02/2014
Bosnien-Herzegowina ist kein Staat, sondern ein europäisches Reservat. Ein Gebiet also, in dem einheimische Nationalisten und europäische Internationalisten die dortigen Bewohner eingepfercht haben, um sie still zu stellen, ohne ihnen eine Perspektive auf mehr geben zu müssen. Die Schaffung dieses Gebildes fiel 1995 leicht, denn indem die internationale Gemeinschaft den serbischen, kroatischen und moslemischen Nationalisten drei deutlich getrennte Einflusssphären im Land zusicherte, glaubten die meisten Menschen Bosnien-Herzegowinas tatsächlich für eine kurze Zeit, dass sie nun die Ernte ihres nationalistischen Taumels einfahren würden. Und dies sollte auch tatsächlich geschehen, nur anders, als sie dachten. Denn die Scharfmacher des Krieges begannen sofort nach dem Krieg, ihre Pfründe zu sichern. Sie bedienten sich am staatlichen Eigentum, sie teilten die Posten und Pöstchen der Bürokratie untereinander auf, sie kooperierten schließlich auch miteinander und machten das Land so zu einem wichtigen Umschlagplatz für den Handel mit illegalen Waren aller Art. Nur für die Mehrheit der Bevölkerung fiel dabei immer weniger von der nationalistischen Beute ab. Sie verloren ihre Arbeitsplätze. Sie begannen sich wieder der Landwirtschaft zu widmen, um zu überleben. Sie erduldeten Behördenwillkür, Korruption und Nepotismus. Sie verfielen in Apathie und träumten, wenn überhaupt noch, vom schnellen Glück in den vielen Wettbüros, die überall aus dem Boden schossen. Und die internationale Gemeinschaft, Europa? Sie schwieg, denn warum sollte sie eingreifen und sich wieder die Hände verbrennen wie 1991? Hatten die Bewohner Bosnien-Herzegowinas nicht de facto bekommen, wofür sie gekämpft hatten? Wie sollte man Bosnien-Herzegowina auch eine Perspektive geben, wenn viele Bewohner dieses Landes scheinbar schnell bereit waren, für das nationale Selbstbestimmungsrecht auf Menschlichkeit, Solidarität und Rechtsstaatlichkeit zu verzichten? So kehrte Europa seinem Hinterhof den Rücken und überließ die Menschen dem Leben in ihrem Reservat.
7. Februar 2014
Die Einöde, die Tristesse, die Hoffnungslosigkeit dieses Lebens in ihrem europäischen »Indianerreservat« endete für die Bewohner Bosnien-Herzegowinas am 7. Februar 2014. An diesem Tag zeigten sie jene politische Vernunft, die ihnen kaum noch jemand zugetraut hatte, und die seit der verzweifelten anti-nationalistischen Großdemonstration mit 100 000 Teilnehmern am 12. November 1991 in Sarajevo beerdigt schien. Ausgehend von der Stadt Tuzla kam es nicht nur in einer ganzen Reihe von bosnischen Städten wie Sarajevo, Zenica, Mostar, Bihac, Brcko und Banja Luka zu Demonstrationen gegen die nationalistische Politikerkaste – nein, diesmal blieben die Proteste auch nicht friedlich wie sonst, dieses Mal trotteten die Menschen nicht nach der Versammlung ergebnislos und murrend nach Hause, so dass sie insgeheim von den nationalistischen Politikern und (Post-) Kriegsgewinnlern belächelt werden konnten. Dieses Mal entschlossen sich RentnerInnen, ArbeiterInnen, StudentInnen und Jugendliche, sich selber der Sprache der Gewalt zu bedienen, um vereint ihrer tiefen Verzweiflung und Not zumindest etwas Ausdruck zu geben.
Dieser hitzige ›Patriotismus der Not‹ sorgte in Tuzla dafür, dass knapp 10 000 Demonstranten das Verwaltungsgebäude der dortigen Regional- bzw. Kantonalregierung stürmten und es in Brand setzten. In Zenica geschah das Gleiche. In Sarajewo wurde der Sitz der dortigen Kantonalregierung Opfer der Flammen, auch das Außenministerium und der Sitz des Bundespräsidiums wurden zerstört. In Mostar, der geteilten Stadt und Extremistenhochburg, sorgten knapp 4 000 Moslems und Kroaten, diesmal vereint durch die Not und ihren Zorn, nicht nur dafür, dass der Sitz der Kantonalregierung und das Verwaltungsgebäude der Stadt angezündet wurden, sondern danach attackierte die Menge auch die beiden Gebäude, in denen sich die Parteibüros der moslemischen und kroatischen Nationalisten (SDA & HDZ) befanden. Bei alledem war nicht nur erfreulich, dass die Gewalt vor allem Sachen und nicht Menschen galt, so dass keine Todesopfer zu beklagen waren. Wie von der aufgebrachten Menge gefordert, suchten darüber hinaus auch die Kantonalregierungen in Sarajevo, Tuzla, Zenica und Brcko schnell das Weite und traten allesamt zurück. Viele Demonstranten halfen am nächsten Tag in Städten wie Tuzla, Sarajevo und Zenica beim Aufräumen, um sodann vor Ort Bürger-Foren zu bilden, in denen sie miteinander zu diskutieren und erste Schritte für eine bessere Politik vor Ort zu entwerfen begannen. Mit anderen Worten: An diesem Tag zeigte sich ein Bosnien-Herzegowina, in dem die Menschen ganz unabhängig von ihrer Nationalität und ihrem Glauben gemeinsam für eine Verbesserung ihrer sozialen Lage eintreten. Ein Bosnien-Herzegowina, in dem die Menschen sich nicht mehr mit langen Erklärungen und nationalistischen Vertröstungen zufrieden geben, sondern entschlossen agieren. Ein Bosnien-Herzegowina also, das bereit ist, sein Schicksal endlich selbst in die Hand zu nehmen und es nicht mehr den eigenen Nationalisten und europäischen Internationalisten zu überlassen.
Tuzla und die Fabriken
Wo hatte sich dieses Bosnien-Herzegowina bisher versteckt? Und warum kam es so eruptiv an die Oberfläche? Nun, es hatte sich nicht wirklich versteckt, aber es hatte sich in die alte Industrie- und Arbeiterstadt Tuzla zurückgezogen. In dem ganzen Wirrwarr und Irrsinn des Bosnien-Krieges war Tuzla der einzige Ort, an dem die Menschen den Verführungen des Nationalismus nie erlagen, der einzige Ort, an dem urbane Traditionen und Werte über den Nationalismus und Fundamentalismus der ländlichen Regionen siegten. So gewannen nicht nur die nationalistischen Parteien dort schon vor dem Krieg kaum an Boden. Moslems, Serben und Kroaten verteidigten Tuzla auch trotzig gegen die Übergriffe der serbischen Soldateska im Bosnien-Krieg. Dieses Vorgehen machte Tuzla über Jahre hinweg zu einem einzigartigen Ort in Bosnien-Herzegowina, zu einer vergleichsweise lebenswerten und intakten Stadt, denn es gelang den Bewohnern zugleich, eine funktionierende Industrie, also vor allem Unternehmen der Chemieindustrie wie Polihem, Dita, Guming oder Konjuh, durch den Krieg hindurch zu bewahren.
Allein, was der Krieg nicht geschafft hatte, das wollten die bosnischen Politiker in diesen Staatsunternehmen bald nachholen. Plötzliche Direktorenwechsel, um eigene Günstlinge zu platzieren, die Verpfändung von Unternehmenseigentum für die Aufnahme von Krediten, die nicht produktiv reinvestiert wurden, sondern in dunkle Kanäle flossen, der Verkauf von Unternehmensanteilen unter dem tatsächlichen Wert an zwielichtige Investoren, schließlich Tatenlosigkeit und Schulterzucken, wenn diese Investoren begannen, Teile des Firmeneigentums zu verkaufen – all dies sorgte auch in Tuzla dafür, dass von der Chemieindustrie, die in dieser Region noch unter der Herrschaft Österreich-Ungarns angesiedelt wurde, kaum etwas übrig zu bleiben drohte. So mehrten sich die Betriebe, die ihre Löhne nicht mehr regelmäßig zahlen konnten, es schlossen Unternehmen wie Polihem, die einstmals der Stolz der Region waren. Schließlich blieb den Arbeitern nichts anderes mehr übrig, als – wie im Falle von Dita seit einem Jahr – die Fabrik zu besetzen und »ihre« Maschinen vor dem Abtransport zu bewahren. Immer deutlicher wurde, dass eine ganze Stadt vor der Wahl stand, entweder dem eigenen Tod auf Raten zuzusehen und damit das Schicksal vieler anderer Städte in Bosnien-Herzegowina schweigend zu teilen – oder aber das Unmögliche zu wagen, nämlich die Privatisierungspolitik und ihre Nutznießer direkt zu attackieren, um somit die industrielle Substanz der Stadt womöglich noch zu retten und damit eine Zukunft zu erkämpfen, wo keine mehr vorgesehen war.
Eine neue Generation
Es ist jedoch nicht nur das Verdienst der Bewohner von Tuzla, den Anstoß dafür gegeben zu haben, dass aus der nationalen Frage in Bosnien-Herzegowina am 7. Februar 2014 wieder eine soziale wurde. Betrachtet man die vielen Bilder und Videos, die an diesem Tag gemacht wurden, so fällt auf, dass es vor allem Jugendliche und junge Erwachsene waren, die unter dem Beifall der anderen Demonstranten zur Tat schritten. Das verleitete zwar viele Kommentatoren in den großen Medien Bosnien-Herzegowinas dazu, die Demonstranten als »Hooligans« zu beschimpfen, und auch die Frankfurter Rundschau konnte nicht umhin, die These in die Welt zu setzen, die Proteste seien vom bosnischen Medien-Tycoon Radoncic gesteuert worden.1 Doch vielleicht lohnt es, einen kurzen Blick auf diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu werfen, um zu verstehen, dass sie durchaus aus wohlverstandenem Eigeninteresse bei diesen Protesten mitgemacht haben.
Mit ihren maximal 25 Jahren wird hier die erste Generation in Bosnien-Herzegowina erwachsen, die sich an den Bosnien-Krieg kaum oder gar nicht erinnern kann. Sie kennt zwar die Geschichten ihre Väter und Mütter über all die Grausamkeiten des Krieges; sie hat sicher immer wieder erzählt bekommen, durch welche Kriegspartei ihre Verwandten verletzt oder getötet wurden – aber Geschichten sind Geschichten, und das Leben im Reservat ist die alltägliche Erfahrung. Diese Erfahrung zeigt dieser Generation, dass sich der Kampf ihrer Vorfahren kaum gelohnt hat, denn die niedrigen Einkommen, die hohe Arbeitslosigkeit, die Mühsal und Plackerei, um über die Runden zu kommen, all dies war eine Strafe, aber gewiss keine Belohnung für den Krieg! Daraus folgt keineswegs, dass diese Generation mit fliegenden Fahnen die Seiten gewechselt hätte und der Nationalismus bei ihr gar keine Wirkung mehr zeigt. Im Gegenteil, Fußballspiele oder andere Anlässe sind immer wieder willkommen, um die jeweils andere Seite zu provozieren und gegebenenfalls auch die gewalttätige Auseinandersetzung zu suchen. Doch gleichzeitig sieht diese Generation eben auch, dass sich bisher alle nationalen Helden selbst auf Kosten der Allgemeinheit zu bedienen wussten, sorgt das ständige Leben im engen Reservat dafür, dass diese Generation Altersgenossen der anderen Seite kennen und schätzen lernt, merkt diese Generation langsam aber sicher, dass ihr Leben eine endlose Abfolge aus eintönigen Tagen in Cafés und Wettbüros, schlecht bezahlten Jobs und immer wiederkehrenden Phasen der Arbeitslosigkeit und des Nichtstuns zu werden droht, wenn sie dieses Leben nicht selbst in die Hand nimmt. Und so kommt es, dass in Bosnien-Herzegowina inzwischen Bands wie Dubioza Kolektiv mit ihren sozialkritischen und antinationalistischen Texten immer wieder die Charts anführen, dass diese und andere Bands Bestandteil eines Jugendkultur geworden sind, die sich über die neuen Medien mit Altersgenossen weltweit vernetzt und von diesen inspirieren lässt. Und die Frage, die sich dabei immer deutlicher stellt, lautet: Wenn es in Ägypten, Tunesien, Spanien, Griechenland oder Portugal für unseresgleichen möglich war, die Herrschenden in Bedrängnis zu bringen oder gar zu stürzen – warum sollte uns das in Bosnien-Herzegowina nicht auch gelingen?
Perspektiven
Man mag jetzt einwenden, dass es leicht ist, gerade auch in jugendlichem Überschwang, sich gegen etwas auszusprechen. Was aber soll an die Stelle dessen treten, was bisher war? Wie kann das Neue besser werden, so dass der 7. Februar mehr sein könnte als ein Hoffnungsschimmer?
Die größte Gefahr ist sicherlich, dass insbesondere die nationalistischen Hardliner auf serbischer und kroatischer Seite ihre Schockstarre bald abschütteln können und wirksam die Botschaft streuen: »Seht Ihr, haben wir doch immer gesagt, dass ein einheitliches Bosnien-Herzegowina nicht funktionieren kann. Also lasst uns dieses Land endlich in drei Teile aufteilen, damit sich die Serben mit Serbien und die Kroaten mit Kroatien vereinigen können, während die bosnischen Moslems schauen können, wo sie bleiben.« Sollte dieses Spiel aufgehen – und man sollte den organisierten Einfluss, aber auch die Skrupellosigkeit dieser Fraktion nicht unterschätzen –, dann wäre ein erneutes Aufflackern kriegerischer Kämpfe in Bosnien-Herzegowina nicht auszuschießen, und der 7. Februar 2014 wäre nur der Anfang einer neuen Tragödie.
Realistischer als dieses Szenario ist jedoch, dass die Proteste einstweilen ein Hoffnungsschimmer bleiben. Dafür spricht, dass bisher leider nur in Tuzla das Bürger-Forum jene Beteiligung, Kontinuität und Legitimität vor Ort hat, die nötig ist, um mit diesem Mittel direkter Demokratie die Arbeit der Kantonalregierung und des Kantonalparlaments zu kontrollieren. Dafür spricht auch, dass die Proteste zwar jeweils vor Ort von allen Bevölkerungsgruppen getragen wurden und viel öffentliche Solidarität aus allen Landesteilen ernteten, dass sie aber bis auf einzelne Ausnahmen zumeist in den moslemisch kontrollierten Landesteilen und Städten stattfanden, während in der Republika Srpska und dem kroatischen Teil Bosnien-Herzegowinas nur wenige Bürger zum Mitmachen zu bewegen waren.
Es wäre falsch zu glauben, dass diese Zurückhaltung der bosnischen Serben und Kroaten ein Zeichen dafür ist, dass es diesen Bevölkerungsgruppen besser geht – allein, in diesen Gebieten ist die Macht der nationalistischen Hardliner präsenter und die Angst verbreiteter, dass man sehr schnell die Quittung dafür bekommt, wenn man es wagen sollte, den nationalen Konsens zu durchbrechen. So statuierten die kroatischen Nationalisten in Mostar gleich ein Exempel, indem sie den Kroaten, Protestbefürworter und Chef der unabhängigen Gewerkschaften in Bosnien-Herzegowina Josip Milic verhaften ließen und ihn dann krankenhausreif schlugen. So sehr diese serbischen und kroatischen Gruppen aber ihr im Krieg vermeintlich erworbenes Recht auf Herrschaft und Bereicherung zu verteidigen suchen – das Ungemach könnte sie von einer anderen Seite treffen. Wenn nämlich die bosnischen Proteste nur der Aufgalopp wären für ähnliche Bewegungen in Belgrad und Zagreb, dann wären diese Gruppen plötzlich in einer schwierigen Zwickmühle. Zwar blieben erste Mobilisierungsversuche in Serbien und Kroatien bisher ohne große Resonanz, aber das muss so nicht bleiben, denn die materielle Not und die Unzufriedenheit sind auch in diesen Ländern groß.
Nicht nur das Übergreifen der Proteste auf Serbien und Kroatien allerdings könnte in Bosnien-Herzegowina für eine breite soziale und antinationalistische Bewegung sorgen. Sollte es nämlich zumindest in Tuzla gelingen, den Weg der direkten Demokratie auszubauen, der dort besonders verheißungsvoll eingeschlagen wurde, und so zu zeigen, dass auf diese Weise die Korruption wirksam eingedämmt werden kann, dass so Arbeitsplätze erhalten und geschaffen werden, dass sich also das tägliche Engagement der Bürger von Tuzla für ihre Stadt und Region auch materiell lohnt – dann könnten viele Regionen in Bosnien-Herzegowina, aber auch in anderen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens, den gleichen Weg einschlagen. Und es wäre dann gewiss keine kleine Ironie der Geschichte, wenn so die Völker des ehemaligen Jugoslawiens die Idee der Selbstverwaltung wiederentdeckten und mit Leben füllten, nachdem sie ihrer jugoslawischen Fassade 1991 so verlustreich abgeschworen hatten.
* Slave Cubela ist Mitarbeiter des express und kommt aus Bosnien-Herzegowina.
Anmerkung:
1) www.fr-online.de/politik/bosnien-die-nase-voll-von-der-korruption,1472596,26140902.html (19.2.2014)