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Frankreich: Trappes – Unruhen in einem Sozialghetto westlich von Paris

Artikel von Bernard Schmid vom 24.7.2013

„Ein Funke kann die Steppe in Brand setzen, wenn sie trocken genug ist“: Dies war einer der Slogans der Wortführer/innen der Revolte im französischen Mai 1968. Der Spruch bedeutete sinngemäß: Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen in einem historischen Moment dafür reich sind, eine Revolte (oder gar eine Revolution) zu entfesseln, dann kann die Initiative einer kleinen Zahl von Menschen genügen, um den geschichtlichen Prozess in Gang zu setzen. Damals dachte man an progressive Gruppen, an revolutionäre Avantgarden, die durch die richtige Aktion im entscheidenden Moment die Dinge entfesseln könnten – und die eine rationale Weltanschauung auffassen.

Was immer man von der Bilanz der diversen linken Gruppen (u.a. ihr Avantgardismus stellte bisweilen ein ernstes Problem dar…) hält – die Dinge haben sich in einem entscheidenden Punkt geändert. Die Steppe ist trockener denn je, in dem Sinne, dass die sozialen Ungleichheiten erheblich drastischer ausfallen als 1968 und insbesondere die Lebensverhältnisse in den Sozialghettos der banlieues (Trabantenstädte) erheblich schlechter sein dürften als damals. Aber die Initiative für, punktuelle, Revolten wird momentan nur selten von progressiven, revolutionären, rational denkenden Gruppen ergriffen. Oftmals hingegen geht der „zündende Funke“ im Augenblick von religiösen Spinnern, reaktionären oder kulturalistischen Ideologien huldigenden Splittergruppen und anderen unangenehmen Zeitgenossen aus.

Ungefähr so verhielt es sich Ende vergangener Woche in Trappes, einer der „krasseren“ Trabantenstädte des Pariser Großraums. Die 30.000 Einwohner/innen zählende Stadt liegt 13 Kilometer westlich von Versailles im selben Département, Les Yvelines, wo erheblicher Wohlstand und eine stockreaktionäre Bourgeoisie und „krasse“ Sozialghettos auf wenigen Kilometer Abstand nebeneinander zu finden sind.

Den zündenden Funken löste eine Personalienkontrolle am vergangenen Donnerstag aus. Diese traf eine junge Frau, weil sie eine Vollverschleierung trug, welche auch das Gesicht bedeckt, die als Niqab (ein Begriff aus dem nordafrikanischen Raum) oder Burqa (ein Begriff aus Afghanistan/Pakistan) bezeichnet wird. Seit einem das ganze Jahr 2010 über debattierten und Anfang 2011 verabschiedeten Gesetz ist das Tragen einer solchen Vollverschleierung gesetzlich verboten, und stellt den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit dar. Das Gesetz war damals heftig umstritten, nicht so sehr, weil das Tragen von Burqa-Kostümen in Frankreich viele Befürworter/innen hätte – sondern eher, weil viele Beobachter/innen fürchteten, ein randständiges Phänomen werde dadurch erst richtig aufgebauscht – weil die durch das Verbot fällig werdenden Kontrollen und Personalienfeststellungen immer wieder Reibungspunkte verursachen würden. Ein gefundenen Fressen einerseits für Rassisten, aber andererseits gerade auch für die politisch-religiösen Sekten, die durch das öffentliche Zurschaustellen von Burqas und anderen ebenso grotesken wie zeitlich und örtlich „unpassenden“ Kostümierungen im Grunde vorwiegend provozieren möchten. Es wurde befürchtet, dass das durch das Gesetz notwendig werdende Eingreifen der Polizei gegen Burqa-Trägerinnen zu einer verstärkten Polarisierung zwischen diesen beiden falschen und reaktionären „Alternativen“ führen könne. (Zu der damaligen Debatte vgl. ausführlich u.a.: http://www.trend.infopartisan.net/trd0510/t570510.html externer Link)

Wie Recht die Kritiker/innen vielleicht hatten, zeigte sich durch den Vorfall am vergangenen Donnerstag. Der Genauigkeit halber muss erwähnt werden, dass er keineswegs Einwanderer traf: Die kontrollierte junge Frau und ihr Ehemann, beide Anfang zwanzig, sind keineswegs an ihren angestammten familiären Traditionen festhaltende Migranten(kinder), sondern Konvertitenspinner. Die junge Frau meldete sich zwar beim „Kollektiv gegen Islamophobie“ (CCIF) unter dem aus dem Arabischen entlehnten Leihnamen „Hajar“, heißt in Wirklichkeit jedoch Cassandre – und ihr Ehemann Michael. Die junge Frau ist karibikfranzösischer Herkunft (von der Insel Martinique), ihr Mann überwiegend russischer Abstammung, obwohl ein Teil seiner Familie Wurzeln im Maghreb aufweist. Beide sind nicht mit der moslemischen Religion aufgewachsen. Vor fünf Jahren konvertierten beide zu einem Islam (oder was sie dafür halten) salafistischer Prägung, kurz, beide traten einer Sekte bei. Und wie hinlänglich bekannt ist: Konvertiten sind in jeder Religion meistens die größten Spinner.

Aufgrund ihrer Auffassung, es sei eine gute Idee, bei über 30° Grad Außentemperatur ein ebenso groteskes wie lächerliches Vollverschleierungs-Kostüm spazierenführen zu müssen, intervenierte die Polizei zwecks Personalienfeststellung. Und wahrscheinlich tat sie es in der ihr (oft) eigenen Art: grob, ruppig, eventuell noch mit rassistischen Vorurteilen behaftet – die Karibikfranzosen (wie die junge Frau aus La Martinique) sind zwar keine Einwanderer, sondern seit dem 17. Jahrhundert Franzosen, aber aufgrund ihrer schwarzen Hautfarbe konnten sie die Konvertitin wohl für eine afrikanische Einwanderin halten.

Über den genauen Hergang der Personalienfeststellung gibt es unterschiedliche Versionen. Zunächst die der Polizei: Der Ehemann, Michael, sei dem kontrollierenden Beamten an die Gurgel gesprungen und habe sich der Kontrolle widersetzt. Dann die der jungen Frau, welche sie dem „Kollektiv gegen Islamophobie“ zu Protokoll gegeben hat: Sie habe gesehen, wie die Beamten ihre Mutter – die auch dabei war, ebenso wie das Baby der beiden jungen Konvertiten – schubsten. Dann habe sie den kontrollierenden Beamten zum Schweigen aufgefordert, weil dieser laut geschrien habe, und sei von ihm mit erheblicher Gewalt auf eine Motorhaube gedrückt worden. Als sie sich umdrehte, habe sie ihren Mann in Handschellen auf dem Boden gesehen. Am heutigen Mittwoch gibt es nunmehr auch die Version des Ehemanns (vgl. hier http://www.lemonde.fr/societe/article/2013/07/24/trappes-a-aucun-moment-je-n-ai-porte-atteinte-a-un-des-policiers_3452674_3224.html externer Link): Er habe „dazwischen gehen“ wollen, als die Beamten seine Schwiegermutter zum Schweigen aufgefordert und abgedrängt hätten – diese habe ihnen zuvor gesagt, sie sollten die Kontrolle sein lassen, „wir sind in der Familie unterwegs und gehen nur nach Hause“ – und als der Beamte die Hand auf die Höhe des Gesichts seiner Frau gehoben habe. In seinen Worten, „als ob er sie schlagen wolle“ (seiner eigenen Aussage zufolge wurde sie allerdings nicht geschlagen, mutmaßlich wollte der Polizist den Gesichtsvorhang entfernen). Die Aussagen stimmen zumindest insofern überein, als es durchaus den Versuch gab, sich dem Vorgehen der Beamten zu widersetzen – wobei in der Version der Polizei die Kontrollierten mit Gewalt vorgingen, es in der Version der Kontrollierten jedoch umgekehrt war. Wobei die Wahrheit eventuell in der Mitte liegen könnte: Polizeiapparate neigen notorisch dazu, ihr eigenes rabiates und brutales Vorgehen zu decken; und religiöse Spinner neigen notorisch zu einem gestörten Verhältnis zur Wirklichkeit.

Der junge Mann, Michael, verbrachte 24 Stunden in Polizeigewahrsam, wurde danach jedoch freigelassen und muss nunmehr mit einem Prozess im September 2013 rechnen. Unterdessen versammelten sich jedoch am Donnerstag Abend zwischen 200 und 400 Personen vor der Polizeiwache, in deren Inneren er zunächst festgehalten wurde, und schleuderten Steine und Wurfgeschossen auf selbige. Auch Mülleimer und herumstehende Fahrzeuge wurden angezündet. In der Nacht vom Freitag zum Samstag kam es zu neuen Unruhen, wobei auf der einen Seite ein 14jähriger durch den Einsatz eines Flash ball-Gewehrs (eine Art Wumme für Gummigeschosse) ein Auge verlor, auf der anderen Seite eine Gruppe mit einem Auto in erhöhter Geschwindigkeit auf Polizeibeamte zuraste. (Vgl. http://www.lemonde.fr/politique/article/2013/07/21/nouvelle-nuit-de-violences-a-trappes_3450661_823448.html externer Link) Ab Sonntag Abend klangen die Riots allmählich ab. Anfang der Woche wurden die ersten beiden festgenommen Teilnehmer, die im Eilverfahren – weil „in flagranti“ festgenommen – dem Richter vorgeführt wurden, zu vier- bis sechsmonatigen Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt.

Mutmaßlich wussten viele Teilnehmer an den Riots nicht im Einzelnen genau, wie sich die umstrittene Kontrolle zugetragen hatten, sondern reagierten auf ein Gerücht (im Sinne von: „Die Polizei hat eine verschleierte Frau misshandelt“). Die Reaktion fiel zweifellos umso heftiger aus, als es in den letzten drei Monaten eine Welle von Gewalttaten gegen verschleierte muslimische Frauen – in der Regel Einwanderinnen – gegeben hat. Am dramatischten fiel und fällt diese spezifische Gewaltwelle in der Pariser Vorstadt Argenteuil aus, wo im Juni dieses Jahres eine verschleierte schwangere Frau ihren Embryo verlor, nachdem bislang unbekannte Gewalttäter ihr in den Bauch traten oder schlugen. Die Attacken in Argenteuil hängen wahrscheinlich mit dem Naziskin-Milieu zusammen. Mehrere Wochen lang wurde den Behörden von den örtlichen Moslems Untätigkeit vorgeworfen. Allerdings wurde das Opfer, nachdem es infolgedessen zu vermehrten Protesten und auch Demonstrationen vor Ort kam, im Pariser Innenministerium empfangen (wenn auch nicht durch Minister Manuel Valls persönlich).

Der Hintergrund der jüngsten Riots lässt sich ansonsten natürlich nicht verstehen, wenn man nicht vor allem die Verschlechterung der Lebensverhältnisse in den Sozialghettos der banlieues und ihr Gefühl eines „Abgehängtwerdens“ von der Mehrheitsgesellschaft berücksichtigt. Letzteres ist auch die Grundlage für das Gedeihen kulturalistisch-differentialistisch auftretender Ideologie, darunter auch religiös-politischer Spinnersekten. Trappes macht zwar im letzten halben Jahrzehnt eine gewisse Wandlung durch, mit dem teilweisen Abriss von Hochhaussilos und ihrer Ersetzung durch kleinere Gebäude sowie einer erstmals durchgeführten Begrünung der Stadt. Ein Gutteil der Einwohner/innen hat jedoch den Eindruck, dass dieser Versuch der sozialdemokratisch geführten Stadtverwaltung, das Leben etwas angenehmer zu gestalten, allein „von oben“ eingeführt werde und sie selbst dabei nicht um ihre Meinung gefragt würden.

Die jüngste Explosion ist also ein Anzeichen für erhebliche objektive Probleme. Religiös verbrämtes Idiotentum wird allerdings keinerlei Ansatz zu ihrer Lösung liefern.

Siehe auch im LabourNet-Archiv: Frankreichs Ghettos in der Revolte

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=40983
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