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Brasilien, 11. Juli – ein Tag für die Geschichte?

Die Organisatoren haben in ihren ersten Stellungnahmen weit ausgeholt – und den 11. Juli 2013 in eine Reihe gestellt mit den großen Bewegungen der letzten Generation: Die Diretas já – Kampagne am Ende der Militärdiktatur (für Direktwahlen statt ausgehandeltem Übergang), der Massenprotest gegen den ersten gewählten Präsidenten Collor, der wegen seiner korrupten Machenschaften gehen musste (zur Erinnerung: Wenige Jahre zuvor hatte die Flick-Connection in der BRD zu insgesamt 0 Rücktritten geführt) – und auch zu den jüngsten breiten Protesten rund um den Konföderationen Cup der FIFA.

Unvollständiger Überblick

Die Höhepunkte des gestrigen Tages waren sicher die grosse Demonstration von über 20.000 Menschen in Rio, die heftige Auseinandersetzungen mit der Militärpolizei und Sondereinheiten des Gouverneurs überwinden musste, um vor dem Guanabara Palast, dem Sitz des Gouverneurs protestieren zu können, was etwa aus der Notiz “Rio: mais bombas são lançadas no Guanabara” (erneuter Tränengaseinsatz am Guanabara) um 20.58 Uhr (Lokalzeit) in der aktuellen Live-Tageschronik “Siga greve geral pelo Brasilexterner Link vom 11. Juli 2013 beim (gutbürgerlichen) Nachrichtenportal Terra noticias hervorgeht.

Der kruze Bericht “Brazil protests: Tens of thousands in union-led strikes” externer Link am Abend des 11. Juli 2013 bei der BBC legt den Schwerpunkt vor allem auf die Schliessung der wichtigsten Häfen des Landes, mit Großdemonstrationen in Santos (dem Haushafen von Sao Paulo) und Suape, dem neuen Chemiehafen südlich von Recife.

Der grösste Gewerkschaftsbund die CUT legt den Schwerpunkt seiner Berichterstattung auf Sao Paulo, wo in der City und den umgebenden Industrie-Vorstädten des ABC vor allem die Autofirmen (VW, Ford, Daimler, Toyota) bestreikt wurden, wobei der Bericht “Dia Nacional de Luta mobiliza São Paulo e reúne 15 mil na Paulista”  externer Link vom 11. Juli 2013 vor allem auf die Demonstration in der Innenstadt eingeht, an der sich rund 15.000 Menschen beteiligten – auf der Avenida Paulista, dem Bankenzentrum Brasiliens, wo zahlreiche Banken bestreikt wurden. Aber auch in Campo Grande etwa, der Hauptstadt des Bundesstaates Mato Grosso do Sul – traditionellerweise nicht für eine besonders starke Arbeiterbewegung bekannt – beteiligten sich über 20.000 Menschen an der Demonstration, dem Bericht “Em Mato Grosso do Sul, mais de 20 mil trabalhadores vão para as ruas com a CUT” externer Link vom 11. Juli 2013 zufolge.

Insgesamt wurden landesweit 37 Autobahnen blockiert, wie aus den gesammelten Berichten der einzelnen Bundesstaaten auf der Webseite der CUT (vorläufig unter “Destaque Centralexterner Link publiziert) hervorgeht.

Automobilarbeiter, Docker, Postler und der Nahverkehr traten quer durchs Land in Protest- und Warnstreiks, aber auch Branchen, von denen das eher selten gehört wird: Der Einzelhandel in Sao Paulos Einkaufszentrum etwa, wie aus dem Bericht “Em São Paulo, Sindicatos ugetistas fecham lojas da 25 de Março” externer Link am 11. Juli 2013 beim Gewerkschaftsbund UGT (ein relativ neuer Bund, der einige Gewerkschaften in Branchen die normalerweise weniger organisiert sind hat, wie eben etwa den Einzelhandel in diversen Bundesstaaten). Was auch in dem Bericht “Motoboys em São Paulo seguem rumo à Paulistaexterner Link über die Demonstrationsteilnahme der Motorradkuriere deutlich wird, ebenfalls bei der UGT am 11. Juli 2013 (mit einem schönen Foto – aber alle erwähnten Berichte sind von Fotos begleitet).

Der Bericht “INTERSINDICAL – INSTRUMENTO DE LUTA E ORGANIZAÇÃO DA CLASSE TRABALHADORA COMEÇA A MADRUGADA DE 11 DE JULHO PARANDO A PRODUÇÃOexterner Link vom Mittag des 11. Juli 2013 bei der Intersindical (ein Zusammenschluss linker Gewerkschaften, die ehemals der CUT angehörten, politisch an die PSOL angelehnt) vor allem aus kleineren Industriestädten – wie der 1,2 Millionenstadt Campinas rund 100 Km von Sao Paulo weg – macht einiges von der Breite der Beteiligung deutlich, wenn in solchen Orten 10.000 bis 20.000 ArbeiterInnen streikten.

Auch die ersten Berichte bei der CSP Conlutas “Confira os primeiros informes sobre o que já acontece neste 11 de julhoexterner Link zeigen diese Breite in nahezu allen Bundesstaaten.

Politische Schwerpunkte

Die Gewerkschaftsverbände und die sozialen Bewegungen hatten sich auf einen gemeinsamen Forderungskatalog geeinigt (neben dem jede Organisation noch ihre eigenen Forderungen vertreten konnte), der seine Schwerpunkte im Widerstand gegen das in Vorbereitung befindliche Gesetz zur Neuregulierung von Outsourcing (PL 4330) hat (ein Gesetzesprojekt das von der PMDB kommt, immer noch die grösste politische Partei des Landes und heute Koalitionspartner der PT). Die Streichung der Rentenreform und die Verkürzung der Wochenarbeitszeit waren ebenfalls Forderungen, die im Mittelpunkt der Demonstrationen standen. Und eben Haushaltsfragen: Die Ausgaben für Erziehung und Gesundheitswesen – im Verhältnis zum Schuldendienst und den Ausgaben für sportliche Großveranstaltungen – sollen auf 10% der Haushaltssumme erhöht werden.

Und während die Gewerkschaftsverbände beschlossen, sich bereits heute, am 12. Juli zu treffen um das weitere Vorgehen zu beraten, wurde vor allem anhand der Losung der “Politischen Reform”, die die Regierung ausgegeben hatte, auch deutlich, dass es deutliche Unterschiede zwischen den Verbänden gibt. So erneuerte etwa die CSP Conlutas ihre Kritik an diesem Schritt, den sie für ein weitgehend undefiniertes Ablenkungsmanöver hält und forderte, wenn schon Volksabstimmungen, dann über konkrete Fragen (etwa eben der 10% des Haushalts für Erziehung usw), wie in dem Artikel “11 de julho: manifestação classista dos trabalhadores toma as ruas de SP, após ato unificado das centraisexterner Link deutlich wird. Das Geschäftsführende Vorstandsmitglied der CUT Julio Turra etwa, unterstützt den Plan des Plebiszits in dem Beitrag “11 de julho: a classe trabalhadora dá sua palavra!externer Link vom 10. Juli 2013 mit dem zur Teilnahme aufgerufen wurde.

In zahlreichen Demonstrationen und Reden, Flugblättern und Aktionen wurden einerseits traditionelle Forderungen eiter vertreten oder wieder aufgenommen (wie die nach Nichtbezahlung der Staatsverschuldung) aber auch Fragen, die eigentlich seit langem stehen, aber eher in den Hintergrund gedrängt worden waren kamen zu größerer Bedeutung: Die Entmilitarisierung der Polizei war erstmals großes Thema – und nicht nur kleiner linker Gruppierungen. Und es gab zahlreiche Proteste in mehreren Bundesstaaten gegen den dominierenden Mediengiganten TV Globo, wie der Bericht “Protesto em frente à TV Globo fecha Dia Nacional de Lutas em Belo Horizonteexterner Link als Beispiel am 11. Juli 2013 bei Brasil de Fato deutlich macht.

Die Bewegung der Landlosen, MST berichtet naheliegenderweise auf ihrer Seite vor allem über die Beteiligung von Landarbeitern, Landnlosen und Kleinbauern an dem Aktionstag, was auch bedeutet, oft aus Regionen, von denen üblicherweise nicht so viele Nachrichten kommen, wie etwa “Em Tocantins, MST faz marchas e trancamentos de rodoviasexterner Link ebenfalls vom 11. Juli 2013 über Proteste und Straßenblockaden im Bundesstaat Tocantins. In der Berichterstattung der MST wird nicht nur auf die breite Beteiligung verwiesen, sondern auch darauf, dass dieser Tag ein neues Bündnis zwischen der gesamten Gewerkschaftsbewegung und allen großen sozialen Bewegungen bedeutet – ob es ein Tag für die Geschichte wird, wird letztlich dadurch entschieden, was folgt…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=40171
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