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Ein langer Prozeß – ein revolutionärer Prozeß?

“Revolution, Putsch, Demokratie – eigentlich müssig zu diskutieren, welcher dieser imposanten Begriffe auf die vor zweieinhalb Jahren begonnenen Umwälzungen in Ägypten passen könnte. Nun, mitten im Tumult, kann auch noch gar nicht klar sein, ob der Sturz der demokratisch gewählten Regierung durch das Militär letztlich eine weitere Demokratisierung verhindert oder begünstigt. Eine einfache Wahrheit gibt es nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn man hinter die Fassade der gerade bestehenden Ordnung schaut und anerkennt, dass eine Demokratie viel mehr als freie Wahlen beinhaltet. Revolution: Die vielen Hunderttausend Protestierenden, die seit Januar 2011 in den Grossstädten immer wieder auf die Strasse gegangen sind, haben in kurzer Zeit viel erreicht – aber sicher keine Revolution und schon gar keine echte Demokratie. Seit dem Sturz des langjährigen Alleinherrschers Hosni Mubarak steht die Protestbewegung in der Gnade des Militärs, das den Übergang zu einer formal demokratischen Ordnung sicherstellte. Die im Militär konzentrierten Staatseliten blieben auch nach dem überwältigenden Wahlsieg der Muslimbrüder bei den Parlaments- und Präsidialwahlen fest im Sattel. Doch nicht die hohle Fassadendemokratie trieb die urbane Bewegung erneut in Massen auf die Strasse, sondern die Islamisierung der Staatsgewalt, zunehmende Korruption und der Zerfall der Wirtschaft” – so fasst in “Wahlen oder Demokratie” externer Link Markus Spörndli am 11. Juli 2013 in der schweizerischen WoZ den gegenwärtigen Stand der Dinge zusammen…

Den ganz aktuellen Stand der Entwicklung wiederum fasst in “Verhärtete Fronten in Ägypten”  externer Link Cristian Selz am 11. Juli 2013 in der jungen welt so zusammen: “Der von der Armee eingesetzte Übergangspräsident Adli Mansur hatte den liberalen früheren Finanzminister Al-Beblawi am Dienstag nachmittag zum Regierungschef ernannt und so auch die salafistische Partei »Das Licht« zurück in die Verhandlungen um die Interimsregierung geholt. Das mächtige Militär will diese auf eine möglichst breite Basis stellen, um Ägypten schnellstmöglich wirtschaftlich zu stabilisieren. Al-Beblawi bot den islamistischen Muslimbrüdern daher noch am gleichen Abend eine Regierungsbeteiligung an. Nachdem diese die Tür zuschlugen, weht nun erneut ein schärferer Wind in Ägypten. Am Mittwoch erließ die Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen den Führer der Muslimbruderschaft, Mohammed Badia, und neun weitere Leitungskader”

Was die kritisierten Maßnahmen des Interimspräsidenten betrifft: “So kommt dem „Subjekt der Revolution“, der ägyptischen Gesellschaft, die alt und jung, arm oder wohlhabend, sehr religiös, religiös oder säkular in allen Schattierungen und viele Schichten umfassend Ende Juni in Kairo und anderen Städten Nein zur Regierung gesagt hat, im politischen Fahrplan faktisch nur eine Nebenrolle zu, die des zuschauenden Publikums. Denn die wichtigen Entscheidungen treffen erstmal andere, ohne dass hier viele gesellschaftliche Kräfte oder deren Repräsentanten mitreden könnten. Der von der Armee eingesetzte Präsident Adli Mansur hat gesetzgeberische Vollmachten und er kann den Notstand – für einen Zeitraum von höchstens drei Monaten – verhängen. Zusammen mit Dekreten, die in Mansurs Verfassungserklärung bekannt gemacht wurden, ergeben sich daraus effektive Machtinstrumente zur Kontrolle oppositioneller Kräfte, ohne dass diese sich groß zur Wehr setzen könnte” –  so sieht es in “Völlig unbeeindruckt von den Graswurzelnexterner Link Thomas Pany am 10. Juli 2013 in telepolis

Dass die Partei der Bruderschaft diese Maßnahmen und den ganzen Plan massiv kritisiert, ist wenig überraschend – es tun dies aber auch alle möglichen Kräfte und Strömungen der Anti-Mursi-Koalition. Vor allem wird daran kritisiert, dass es sich um einen willkürlichen Akt handelt, der nirgends diskutiert wurde, wie es vor allem die Nationale Rettungsfront unterstreicht – wobei die Frage offen bleibt, ob es wirklich ein “Alleingang” Mansurs ist, oder wer sonst noch in welchen Quartieren oder Hauptquartieren daran “mitgearbeitet” hat. Einen kompakten Überblick über die Kritiken bietet in “En Egypte, le plan de transition critiqué de toutes partsexterner Link Hélène Sallon am 10. Juli 2013 in LeMonde.

Die (Jugend)Bewegung des 6. April, beziehungsweise einer ihrer Sprecher Ahmed Maher sowie die Rebellen, beziehungsweise ihre Sprecherin Maha Abu Bakr , haben in dem Bericht “President has promised constitutional addendum: Egypt’s 6 April, Rebelexterner Link am 09. Juli 2013 im Ahram Online gemeinsam unterstrichen, dass sie nicht nur den “Fahrplan” zu Neuwahlen kritisieren, sondern auch inhaltlich den Verfassungsersatz Mansurs – etwa den § 1, der immer noch besondere Ausführungen über die Rolle des islamischen Gesetzes in der ägyptischen Verfassung beibehalte, was die laizistischen Jugendnetzwerke ablehnen. Andrerseits fordern sie, keine Verfolgungswelle gegen die Bruderschaft zuzulassen. Nach einem Gespräch mit Vertern dieser Gruppierungen habe der Interimspräsident zugesagt, entsprechende Veränderungen an seinem Text vorzunehmen.

Das Blutbad der Armee ruft auch bei anderen von jenen, die zu den ersten gehörten, die gegen die Mursi-Regierung Protest organisierten Kritik und Aktivität hervor: “Impartial investigation necessary before Egypt spirals into violenceexterner Link heisst am 09. Juli 2013 die gemeinsame Presseerklärung von 15 NGOs aus Ägypten, die den exzessiven Gewalteinsatz des Militär am vergangenen Montag heftig kritisieren

In all diesen Stellungnahmen wird immer wieder unterstrichen, dass die Hauptprobleme der Regierungszeit Mursi eben die unsoziale Orientierung der Politik gewesen sei – die letztendlich auch dazu geführt hat, dass einstige WählerInnen Mursis sich in die Protestbewegung massiv einreihten. Dass die organisierte ArbeiterInnenschaft dazu nicht gehörte, lag vor allem daran, dass sie in der Regel erst gar nicht zu Mursis WählerInnen gehört hatten – das wird an dem massiven Protest in Mahalla deutlich, der bereits vor dem 30. Juni begann, wie in dem Bericht “Mahalla workers join rebellion, reject privatisation plans” externer Link am 28. Juni 2013 beim Mena Solidarity Network deutlich wird.

In “Egypt: “Workers need a political voice” – interview with Fatma Ramadanexterner Link am 10. Juli 2013 beim Mena Solidarity Network unterstreicht die Gewerkschafterin aus dem öffentlichen Dienst, dass die ArbeiterInnenschaft zwar an den Massenprotesten des 30. Juni massiv teilgenommen habe, aber meist nicht in gewerkschaftlich organisierter Form, wie es eben überhaupt an einer politischen Formierung fehle, weshalb sich dann viele Netzwerken wie eben den Rebellen etwa anschliessen würden.

In “Asking the Right Questions About Egyptexterner Link unterstreicht die Autorin Rebecca Manski am 08. Juli 2013 bei Occupy Wall Street, dass man die “Islamistenhatz” im Westen und insbesondere den USA nicht damit vergleichen könne, wenn sich Abermillionen Menschen gegen eine regierende religiös-neoliberale Partei erheben –  und führt zahlreiche Gründe für diesen Protest an.

Eines der zahlreichen Beispiele dafür, dass die Regierung unter Führung der Bruderschaftspartei weder ihre eigenen Versprechen eingehalten hat, noch etwa die langjährige Basis ihrer Erfolge fortgesetzt hat, das soziale Engagement nämlich ist der Bericht “Idku – a neglected town stands up against environmental degradationexterner Link der bereits am 26. Juni 2013 bei eipr erschienen ist: Erdgasförderung (unter anderem durch BP) im “Brotkorb Ägyptens” (besser: Fischkorb) war gegen den (bisher erfolgreichen) Widerstand der Menschen in der Nähe Alexandrias ein Projekt der Mursi-Regierung…

Zusammengestellt am 11. Juli 2013, Helmut Weiss

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=40040
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