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Volkswille oder Militärputsch?

Die Beurteilungen des Sturzes des ägyptischen Präsidenten durch die Armee – und es war letztendlich durch deren Vorgehen, dass er entmachtet wurde, wenn auch unter dem Druck gewaltiger Massenproteste – diese Beurteilungen, auch durch diverse linke und gewerkschaftliche Gruppierungen und Strömungen, könnte unterschiedlicher kaum sein. Die Armee versucht, durch den Einsatz ziviler Übergangsverantwortlicher das Profil ihres Eingreifens möglichst niedrig zu halten – schiesst aber auf Demonstranten, die gegen einen Militärputsch protestieren

Dass die ägyptische Armee eine Sonderrolle in der Gesellschaft spielt, ist seit der Machtübernahme Nasrs in den 50er Jahren deutlich. Der Beitrag “In Egypt the Military is Supremeexterner Link von ESAM AL-AMIN am 05. juli 2013 in Counterpunch macht schon in der Unterzeile (Die Generale haben es wieder getan!) deutlich, dass er Mursis Absetzung genau in dieser Tradition sieht

Zur Ausgangslage

Al Amin unterstreicht in diesem Artikel, wie viele andere AutorInnen auch, die Fehler die die Bruderschaft und ihre politische Partei der Freiheit und Gerechtigkeit begangen haben: liberale Koalitionspartner zu verprellen, weil man sich nicht von den Salafisten “in die Ecke stellen” lassen wollte etwa – wobei der Autor hier insbesondere darauf abhebt, dass zunehmend weniger Unterscheidung zwischen der Bruderschaft und der Partei zu sehen war (was zu Beginn durchaus anders war, als deutlich war, dass das “Projekt Partei” keineswegs eines der ganzen Bruderschaft war). Das ganze, wie ebenfalls viele hervorheben, vor dem Hintergrund wachsender ökonomischer Schwierigkeiten und – auch vom Anspruch der Bruderschaft zentral wichtig – wachsender Proteste gegen soziale Ungerechtigkeiten. “Als Erstes schürte die Partei der Muslimbrüder mit ihrem Wahlprogramm «an-Nahda» (Renaissance) die Hoffnung in der Bevölkerung, dass sich die Arbeitslosigkeit im Land mit seinen rund 84 Millionen Einwohnern spürbar reduzieren werde. In Wirklichkeit stieg die Arbeitslosenquote aber nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IMF) von 12,3 Prozent 2012 auf 13,5 Prozent im ersten Halbjahr 2013. Als Zweites hätte sich die Inflation, die seit rund zwei Jahren bei über 8 Prozent liegt, deutlich reduzieren sollen. Doch die Geldentwertung ist im laufenden Jahr gestiegen, nicht zuletzt, weil wegen der Streichung von Brot- und Benzinsubventionen die Bevölkerung immer tiefer in die Tasche greifen musste. In Zukunft wird die Teuerung gar noch anziehen; die IMF-Experten rechnen 2014 mit einer Geldentwertung von rund 14 Prozent” – aus dem Artikel “Wirtschaftsmisere am Nilexterner Link von Rico Kutscher am 05. Juli 2013 in der NZZ

Der Beitrag “Egypt’s revolution in a small townexterner Link von Anne Alexander am 02. Juli 2013 im socialist Worker – ein Bericht aus Zaqaziq, dem Wohnort Mursis – zeigt etwas von den Veränderungen, die sich in den letzten 1-2 Jahren ereignet haben: Etwa, dass nun auch die linken politischen Kräfte endlich in den Slums Fuß fassen, die unbestrittene Domäne der Bruderschaft sind dies längst nicht mehr, die alltäglichen Proteste wuchsen kontinuierlich an

In “Egypte:Les Frères musulmans au service de la bourgeoisieexterner Link unterstreicht Autor Mohamed Belaali bereits am 18. Juni 2013, also vor den Massendemos, dass etwa die Nominierung der 17 Gouverneure durch Mursi (von der jene aus Luxor die meisten Schlagzeilen machte, da der frühere aktive Bombenleger aufgrund breiter Proteste sofort wieder zurücktreten musste) auch eine Art versuchte Fortsetzung der Bündnispolitik war – mehrere der Nominierten waren Offiziere aus Armee und Geheimdienst

In dem Artikel “The Failing Political Islam Projectexterner Link zieht Autor Cengiz Candar einen Vergleich zwischen der Türkei und Ägypten (der Artikel ursprünglich auf türkisch in “Radikal” am 05. Juli 2013 in englischer Übersetzung bei Al Monitor) und unterstreicht, die erste Frage, die gestellt werden müsse, sei nicht nach dem Staatsstreich sondern warum solch gewaltige Massenproteste organisiert werden konnten und das nur ein Jahr nach Mursis Amtsantritt und nach einer ganzen Reihe von Wahlen seit Mubaraks Sturz, in denen die Partei der Bruderschaft stets die stärkste Kraft war – dass eben auch ein großer Teil der früheren WählerInnen protestiert haben

Reaktionen

In dem Beitrag “Egypt: “After tasting freedom, we will not be slaves again” – a trade unionist’s view on Morsi’s fallexterner Link am 05. Juli 2013 beim mena solidarity network  begründet Muhammad Hardan vom Vorstand der unabhängigen Gewerkschaft in den Kairoer Wasserwerken, warum die Belegschaft sich an den Protesten von Beginn an beteiligt hat

Wobei die fortbestehende Einschränkung der Gewerkschaftsfreiheit, die durch mehrere Projekte der Regierungspartei zementiert werden sollte ebenso Grund war, wie die problematische soziale Entwicklung, wobei vor allem die Privatisierungsbestrebungen der Regierung Widerstand hervorriefen.

In der Erklärung “Four days that shook the world” externer Link der (trotzkistisch orientierten) revolutionären Sozialisten vom 05. Juli 2013 (hier beim Socialist Worker) wird vor allem darauf abgehoben, dies sei erst der Beginn einer weiteren revolutionären Welle und die Aktion des Militärs, vergleichbar mit jener beim Sturz Mubaraks, sei ein Versuch, die revolutionäre Entwicklung einzudämmen

Der blogbeitrag “Revolutionaries in Egypt will regret support for coupexterner Link am 05. Juli 2013 im viel gelesenen strawberry revolution blog unterstreicht, wie die Überschrift sagt, dass der Putsch die Aktion jener Kraft Ägyptens sei, die am meisten gegen Veränderung eingestellt sei, und alle, die die Absetzung Mursis begrüssten, dies noch bedauern würden

Das (im LabourNet Germany mit vielen Texten und Aktionen vertretene) Center for Worker and Trade Union Services (CTUWS), eine der Strömungen, die ganz wesentlich zur Entstehung der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung beigetragen haben, veröffentlichte am 02. und 03. Juli 2013 zwei zusammengehörende Erklärungen “The general strike and total paralysis” (der ganze Text auf englisch liegt bei LabourNet vor und kann auf Anfrage zugesandt werden) worin zunächst zum Generalstreik gegen Mursi augerufen wurde und am folgenden Tag (nach seiner Absetzung) Mursis Sturz gefeiert wurde als Sieg der Massenproteste, ohne näher auf das Mitwirken der Armee einzugehen.

Unter der Überschrift “Egypt: A victory for revolution or counterrevolution? Views from the Egyptian leftexterner Link hat die australische Zeitung Links am 05. Juli 2013 eine kleine Dokumentation der Sichtweise diverser linker AktivistInnen auf Mursis Sturz zusammengestell

Eine zweite Sammlung bei links ist “Egypt: ‚The people still want end to regime‘ — some left assessments of the uprising and military takeoverexterner Link vom 07. Juli 2013

Dabei werden rund zehn verschiedene Beiträge (die wir hier in dieser Sammlung teilweise ebenfalls erwähnt haben) vorgestellt, samt weiterführender links, worin auch zahlreiche Kommentare von LeserInnen zumindest verdeutlichen, welche Debatten da geführt werden. Wobei festzuhalten ist, das dies zumeist Debatten aus eher trotzkistisch orientierten Spektren sind – in der ägyptischen Linken durchaus nicht die schwächsten Strömungen – die eine ganze Bandbreite von Haltungen wiedergeben.

Die KP Ägyptens macht es sich da einfacher: “Le triomphe de la révolution du grand peuple égyptien» externer Link heisst die Erklärung der KPÄ vom 04. Juli 2013, hier dokumentiert auf der Internationalismus Seite der KP Frankreichs

In dem Beitrag  « Demokratischer Putsch?externer Link von Wilhelm Langthaler am 06. Juli 2013 im AIK wird die Orientierung bereits im Untertitel “Armee zurückdrängen und islamische Basis ansprechen” deutlich gemacht – auch das ist eine der politischen Haltungen, die es in Ägypten gibt

Zusammenstellung und Kommentar von Helmut Weiss,  08. Juli 2013

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=39892
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