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»Eigentlich fünf Tarifrunden« Einzelhandelstarifrunde: Arbeitgeber wollen alles, ver.di streikt und sagt Nein!
Artikel von Anton Kobel, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 06/2013
Die Tarifrunde 2013 begann im Einzelhandel schon Ende Januar. Obwohl die ersten Entgelttarifverträge erst zum Ende März kündbar waren, kündigten die Arbeitgeber sie diesmal bundesweit und dazu noch die Manteltarifverträge in allen Bundesländern (außer für Hamburg und Schleswig-Holstein). Nach erster, kurzer Überraschung sprach ver.di-Handel von einem Generalangriff der Arbeitgeber. Bis Mitte April prägte die beidseitige Öffentlichkeitsarbeit die Auseinandersetzungen. Der HDE (= Handelsverband Deutschland, der Arbeitgeberverband der Einzelhändler, in dem ein Drittel der Firmen Mitglied ist) versuchte mit Niedlichkeiten und Nebensächlichkeiten, die Öffentlichkeit auf seine radikalen Forderungen nach Verschlechterung der bestehenden Tarifverträge einzustimmen. ver.di informierte unterdessen in den Betrieben über die Auswirkungen der Kündigung der Tarifverträge für die Beschäftigten. Diese Aufklärungsarbeit erwies sich als erfolgreichste Mitgliederwerbung seit 1988/89. Damals ging es um die Verteidigung des Ladenschlussgesetzes mit einem Ladenschluss um 18.30 Uhr. Diesmal hatte der Aufruf zur Verteidigung der sozialen, tariflichen Besitzstände den Eintritt von bisher über 20 000 neuen Mitgliedern zur Folge. (Stand: Ende Mai 2013) Selbst in den mit 60-70 Prozent schon gut organisierten Betrieben, z.B. in Mannheim/Heidelberg, kam es zu erstaunlich vielen Beitritten. Zusätzlich signalisierten zahlreiche Erhöhungen des Gewerkschaftsbeitrages – davon hängt die Höhe des Streikgeldes ab – eine große Streikbereitschaft der Mitglieder.
Die Forderungen und Ziele der Arbeitgeber
Mit den erwähnten Nebensächlichkeiten und Niedlichkeiten versuchten die Händler mit ihrem Tarifgeschäftsführer Jöris, Presse und Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen. Beispielhaft hier die Süddeutsche Zeitung vom 26./27. Januar 2013: »‹Die Tarifverträge im Einzelhandel stammen aus den 50er Jahren‹, erklärt Jöris. Sie seien veraltet und hätten mit der modernen Arbeitswelt nichts mehr zu tun. So gäbe es zum Beispiel noch Bestimmungen, wie Kriegs- und Gefangenenjahre [Könnte das angesichts der Kriegsbeteiligungen der Bundeswehr wieder zur Anwendung kommen?; Anm. A. Kobel] angerechnet würden.« Die geneigten und leichtgläubigen JournalistInnen und LeserInnen sollten in der Folgezeit lernen, dass die Tarifverträge gekündigt werden müssten, weil es darin inzwischen verschwundene Berufe wie Kaltmamsell, Kaffeebeleser, Pelznäherin, Fahrstuhlführer u.ä. gibt. (So etwa Spiegel online vom 30. April 2013) Als ob es eine rechtliche und materielle Bedeutung hätte, wenn überflüssig Gewordenes im Tarifvertrag steht!
Am 27. März beendete der HDE dann sein Versteckspiel und präsentierte die »Zielsetzungen der Arbeitgeber in der Einzelhandelstarifrunde 2013«:
- »Modernisierung der Tätigkeitsbeschreibungen: (…) Der Reformstau der bestehenden Regelungen hat im Wesentlichen zum Rückgang der formalen Tarifbindung im deutschen Einzelhandel in den letzten Jahren beigetragen.«
- »Honorierung qualifizierter Tätigkeiten: (…) Weniger anspruchsvolle Tätigkeiten, die keine Fachkenntnisse erfordern, dürfen künftig nicht so hoch vergütet werden wie solche, für die Fachwissen erforderlich ist.« Mit einfachen und verständlichen Worten: Damit Höherqualifizierte sehen, dass sie relativ höher bezahlt werden, sollen formal weniger Qualifizierte abgruppiert werden. Als ob Erfahrungen und Belastungen in der ausgeübten Tätigkeit bedeutungslos seien.
- »Beschäftigungssichernde und beschäftigungsfördernde Regelungen«: Hinter dieser wohlklingenden Formulierung verbirgt sich die Forderung, bisher in den Tarifverträgen des Einzelhandels vereinbarte Löhne und Gehälter abzusenken, um damit »Tätigkeiten außerhalb der einzelhandelsspezifischen Kernkompetenzen zu wettbewerbsfähigen Arbeitsbedingungen (wieder) mit eigenen Mitarbeitern zu erledigen.« Damit sollen, wie die Händler inzwischen in den Tarifverhandlungen konkretisiert haben, Tätigkeiten wie Auffüllen, Waren verräumen sowie Kassieren deutlich abgruppiert werden. Bei den Tarifverhandlungen in Baden-Württemberg brachten die Arbeitgeber hierzu den Abschluss eines gesonderten Tarifvertrages mit Stundenlöhnen zwischen sieben und neun Euro ins Gespräch. Bezugspunkt für »wett¬bewerbsfähige Arbeitsbedingungen« sollen Tarifverträge des DHV (im christlichen Gewerkschaftsbund CGB) sein, die deutlich, zum Teil bis zu 45 Prozent unter den Tarifen des Einzelhandels liegen. Tatsächlich geht es neben der Absenkung der Tarifverträge auch darum, Tätigkeiten, die in den letzten 15-20 Jahren ausgegliedert wurden, wieder in das Handelsunternehmen zurück zu holen – wobei nicht selten Firmenmanager selbst solche Dienstleistungsfirmen gegründet und deren Dienstleistungen ihrer »Stammfirma« zu billigeren Konditionen angeboten hatten. Die Gründe hierfür sind neben Koordinierungskosten und -problemen vor allem die oft schlechte Verrichtung von Tätigkeiten wie Präsentation der Waren, Feststellen der Inventurdifferenzen, Aussortieren von Waren jenseits des Verfalldatums. Gerade Letzteres hatte zu manchem Imageschaden und Umsatzverlusten geführt.
- »Moderne Arbeitszeitregelungen:« Beabsichtigt ist, die bisherigen Regelungen in den Manteltarifverträgen, die planbare Arbeitszeiten und damit feste Frei- und Familienzeiten garantieren, zugunsten weiterer Flexibilisierung und weiterem Personalabbau zu verschlechtern. Für bestimmte Tätigkeiten wie »zu Ende bedienen« nach Ladenschluss soll es keinen Überstundenzuschlag sowie für Auffüllkräfte keine Nacht-, Spät-, Sonn- und Feiertagszuschläge mehr geben.
- »Tarifliches Basisentgelt: Wir wollen im Einzelhandel die Einführung eines verbindlichen tariflichen Mindestlohns.« Dadurch soll »Lohndumping in der Branche vermieden werden«.
Damit haben die Arbeitgeber fünf Verhandlungsthemen für fünf Tarifverträge eingebracht: neben Lohn, Gehalt und Azubivergütungen, ein Manteltarifvertrag, eine Entgeltstrukturreform, neue Eingruppierungen und Mindestlohn. Dies steht konträr zu den Vorstellungen von ver.di-Handel.
Ziele und Forderungen von ver.di im Einzelhandel
Auf der »Tarifkoordinierungskonferenz« von VertreterInnen der Tarifkommissionen in den Landesbezirken am 10. April 2013 legte ver.di fest:
- »Die ver.di-Tarifkommissionen werden die Manteltarifverträge mit aller Kraft verteidigen und keine Eingriffe hinnehmen.«
- Mit den Entgeltforderungen soll »das Ziel deutlich verbesserter Realeinkommen« verfolgt werden. Manche Bezirke fordern einen Euro je Stunde mehr, dies entspricht einem Festbetrag von 167 Euro im Monat für Vollzeitkräfte; andere fordern eine Erhöhung um 6,5 Prozent, mindestens aber 140 Euro mehr. Neben der Steigerung der Binnennachfrage wird mit einem »außerdem erheblichen Nachholbedarf« argumentiert. »Einen besonderen Stellenwert haben die Forderungen nach einer sozialen Komponente«.
»Wir müssen uns auf eine lang dauernde Tarifauseinandersetzung einstellen und werden uns diesbezüglich vorbereiten und aufstellen.« Ob dieser Beschluss angesichts der regional unterschiedlich ausgeprägten Kampfkraft von Realismus zeugt oder ob die (noch) nicht diskutierte Möglichkeit eines Erzwingungsstreiks in zwei bis drei streikfähigen Landesbezirken wie Baden-Württemberg, Bayern und NRW eher der Angst des Torwarts beim Elfmeter ähnelt, wird sich bald zeigen.
Bedeutsam sind die ver.di-Vorhaben, Unternehmen ohne Tarifbindung in die Auseinandersetzungen einzubeziehen. Derzeit geht es vor allem um Amazon, Karstadt, die Gartenmarktkette Dehner und Globus. Die hohe Streikbeteiligung der real-Belegschaften dürfte mit der von ihrer Geschäftsführung laut angedachten Tarifflucht zusammenhängen. Häuserkämpfe – ein hartes Stück gewerkschaftlicher Arbeit!
Die wirtschaftliche und soziale Lage im Handel
Der Einzelhandel rechnet nach einem realen Minus von einem Prozent bei den Umsätzen in 2012 mit einem ähnlichen Ergebnis für 2013. Die über der Inflationsrate sowohl 2012 als auch 2013 liegenden Tarifabschlüsse in der Industrie schlagen sich nicht als Kaufkraft im Einzelhandel nieder. Da seit Jahren immer höhere Anteile der Nettoeinkommen für Miete und Nebenkosten, Mobilität, Energie, Gesundheit und Krankheit sowie Vorsorge für Alter und Pflege ausgegeben werden müssen, gehen die realen Umsätze im Einzelhandel zurück.
Die bestehende und sich verschärfende Konkurrenz tut ihr Übriges. Die Läden des stationären Einzelhandels leiden unter der zunehmenden Konkurrenz der Online-Händler. Um 5,9 Mrd. Euro (= 27 Prozent) stieg der Online-Umsatz im Jahr 2012 auf 27,6 Mrd. Euro. Für 2013 lautet die Prognose: + 21 Prozent auf 33,5 Mrd. Euro. Diese im Online-Handel erzielten Umsätze fehlen auch dem seit Jahren sterbenden Versandhandel. Zusätzlich zum Online-Handel expandieren die relativ kleinflächigen Lebensmittel- und Drogerie-Discounter wie Aldi, Lidl, Penny, dm, Rossmann, Müller u.ä. Auch deren Umsatzzuwächse gehen zulasten der großflächigen Kauf- und SB-Warenhäuser. Die Umsatzkrisen bei Karstadt und real sind eine Folge. Kaufland (aus der Lidl-Gruppe) und Globus sind unter den großflächigen Selbstbedienungswarenhäusern eine prosperierende Ausnahme. Die großen (Textil-)Kaufhäuser haben seit Jahren verschärfte Konkurrenzbedingungen auch durch kleinflächige Textilhändler wie H&M, Zara, Esprit.
Diese Vernichtungskonkurrenz unter den Unternehmen hatte und hat spürbare Auswirkungen auf die gewerkschaftliche Kraft. Die höchsten Organisationsgrade hatten HBV und dann ver.di im Versandhandel sowie in den Kauf- und SB-Warenhäusern, in denen auch deutlich mehr Personal beschäftigt ist als bei den (Textil-)Discountern. Die Schließung vieler Häuser und der jahrelange Personalabbau haben die Gewerkschaft geschwächt. Seit vier bis fünf Jahren konnte ver.di hier neu organisieren. Streiks bei Kaufland, H&M, Zara und Esprit sind keine Ausnahme mehr.
Die Beschäftigten im Einzelhandel stehen seit Beginn der statistischen Erfassung auf den hinteren Plätzen bei der Einkommenshöhe aller Branchen. Trotz aller gewerkschaftlicher Anstrengungen und Erfolge reichen die Einkommen nicht für ein Leben in der Großstadt. Die Strategien der Einzelhandelsarbeitgeber zur Deregulierung der Belegschaften (mit einem Anteil von oft deutlich mehr als 50 Prozent an Teilzeitkräften und immer mehr Minijobbern), die Schaffung der Bedingungen für einen Niedriglohnsektor durch die Politik, die Verweigerung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen (AVE) für die Tarifverträge im Einzelhandel durch die Arbeitgeberverbände und die Landesregierungen seit 2000, vor allem aber auch die bisher verweigerte Reform der gesetzlichen Bedingungen für eine AVE durch die Bundesregierungen haben die Tarifbindung im Einzelhandel auf unter 50 Prozent bei den Unternehmen und Beschäftigten gedrückt.
Die Möglichkeit für Betriebe, im Arbeit¬geberverband eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung einzugehen, und die damit verbundene Tarifflucht auch renommierter Einzelhändler haben die soziale Situation für die Beschäftigten – 70 Prozent von ihnen sind Frauen – katastrophal verschlechtert. 300 000, das sind 12 Prozent aller Einzelhandelsbeschäftigten, arbeiten für weniger als fünf Euro in der Stunde. Der Verdienst von 38 Prozent der Beschäftigten liegt unter der Niedriglohngrenze von 10,36 Euro pro Stunde. Der Anteil der »Aufstocker« unter den Beschäftigten nimmt zu. Auf Armutslöhne folgt dann Altersarmut – in einer der weltweit reichsten Gesellschaften.
Und diese Löhne und Gehälter sind den Unternehmen angesichts der über Jahrzehnte erzielten Profite und Vermögen sowie der verschärften Konkurrenzen zu hoch. Profitstabilisierung durch Senken der Personalkosten und verstärkte Aus- und Vernutzung der überwiegend weiblichen Arbeitskräfte sind die tarifpolitischen Ziele der Arbeitgeber im Einzelhandel.
Perspektiven
Ob es vor der Sommerpause im Juli noch zu ersten Tarifabschlüssen kommt, ist nicht zu prognostizieren. Der Mitte Juni erfolgte erste Tarifabschluss für den Groß- und Außenhandel in Baden-Württemberg erscheint einigen als möglicher Kompromiss auch für den Einzelhandel: Nach zwei Nullmonaten (April und Mai 2013) werden die Entgelte für zehn Monate um drei Prozent und in einer zweiten Stufe ab April 2014 um weitere 2,1 Prozent bis März 2015 erhöht. In 2014 gibt es als »soziale Komponente« eine Einmalzahlung von 90 Euro. Ob dies ein Modell für den Einzelhandel sein könnte, ist angesichts der radikalen Forderungen der Einzelhandelsarbeitgeber allerdings mehr als fraglich.
Ohne Tarifabschluss in die Sommerferien und danach wieder in den Arbeitskampf – ähnlich wie 2007/8, als es 18 Monate bis zu einem Tarifvertrag dauerte –, das könnte eine realistische Perspektive sein. Wesentlich wird die Dauer dieser Tarifauseinandersetzung von der Kampfkraft der Belegschaften und der Fähigkeit der ver.di-Verantwortlichen, diese Kampfkraft strategisch zu bündeln, abhängen: gegen einzelne Landesbezirke der Arbeitgeber, gegen einzelne, ausgewählte Konzerne und Unternehmen mit wirtschaftlich wirksamen, mehrtägigen Erzwingungsstreiks, unterstützt durch neue Formen des Arbeitskampfes wie Flashmobs sowie von rebellischen und sozial verantwortlichen Menschen mit all ihrer Phantasie als Kunden.
Erreicht werden müsste, die bisher erfolgreiche Mitgliederwerbekampagne mit über 20 000 Neueintritten in eine wirksame Tarifkampagne mit einem akzeptablen Tarifabschluss zu überführen. Ein von den Aktiven und Streikbelegschaften akzeptierter Tarifabschluss ist auch das beste Mitgliederhalteprogramm. Ein sog. »Halteprogramm« für Gewerkschaftsmitglieder wird wohl derzeit in der Berliner Bundesverwaltung angedacht. Versicherungen, Reiseprogramme usw. sind jedoch bestenfalls gut gemeint. Nichts geht über akzeptable Tarifverträge.